Mit „Juju“-Ritualen Gehorsam erzwingenMenschenhändler, Mafiosi und „Madames“ nutzen in aller Welt die Not ahnungsloser Mädchen
und Frauen aus und zwingen sie in die Prostitution. In Afrika werden traditionelle „Juju“-Rituale
eingesetzt, um sie unter Druck zu setzen, wie Ethnologin Lena Siemers berichtet. |
Frau Siemers, Sie sind Ethnologin und haben zu „Juju“-Ritualen geforscht. Was versteht man darunter?
„Juju“ ist der Überbegriff für Praktiken traditioneller Religionen Westafrikas. Je nach Region und Kontext sind sie unterschiedlich ausgeprägt. Im Zusammenhang mit Menschenhandel und Zwangsprostitution werden diese Rituale missbraucht.
Inwiefern?
Man bringt die Mädchen oder Frauen in einen „Juju“-Schrein, damit sie dort einen Schweigeschwur ablegen. Sie versprechen, niemandem die Namen derjenigen zu verraten, die sie nach Europa bringen werden und die „Unkosten“ ihrer Reise zu bezahlen. Das sind zum Teil Summen zwischen 25 000 und 60 000 Euro, die ihnen Menschenhändler und so genannte „Madames“, weibliche Zuhälterinnen, am Zielort in Rechnung stellen. Das ist unvorstellbar viel Geld für eine Frau, die zehn bis 30 Euro von einem Freier erhält. Viele Menschen in Nigeria glauben, dass wer den „Juju“-Schwur bricht, krank, unfruchtbar oder verrückt wird. Damit wird er zu einem Druckmittel, mit dem man Gehorsam erzwingen kann.
Mit welchem „Juju“-Form haben es nigerianische Zwangsprostituierte meist zu tun?
Für die Schwüre werden eine Vielzahl an Gottheiten benutzt: zum Beispiel Ogun, Ayelala, oder Sango. Ich habe zu den Schwüren mit einer Wassergottheit geforscht, die in Westafrika oft als „Mami Wata“ bezeichnet wird. Man glaubt, dass sie den Menschen Glück in Form von Reichtum, Schönheit oder Fruchtbarkeit, aber auch Unglück wie Armut, Krankheit und Tod bringen kann.
Was passiert während des Rituals?
Der Priester sammelt Teile der Fingernägel, Menstruationsblut oder Haare der Frauen ein, von denen alle Beteiligten am Schwur etwas erhalten. Sie glauben, dass diese Gegenstände die Wirkung des Schwurs besiegeln. Manchmal wird auch ein Huhn geschlachtet, die Frauen müssen dessen Blut trinken oder dessen Herz schlucken. Es gibt auch Rituale, bei denen Frauen mit einem Messer Schnitte am Körper zugefügt werden. Die Anzahl der Schnitte steht dann für die verschiedenen Versprechungen, für deren Einhaltung ein Vertrag mit jeweils einer Gottheit abgeschlossen wurde. Damit die Schnitte langfristig sichtbar bleiben, drückt der „Juju“-Priester eine schwarze, brennende Paste auf die blutenden Wunden.
Wie kann man den Frauen, die einen „Juju“-Schwur geleistet haben, helfen?
Meine Forschung hat deutlich gezeigt, dass es nicht um einen Glauben geht, von dem sich die Menschen einfach so loslösen können. Es ist wichtig, die Realität der Betroffenen als real anzuerkennen. Ein Leugnen der Bedrohung durch den „Juju“ führt nicht zum Erfolg. Wer die Schulden an die Madame bezahlt, löst das komplette Problem, da sich dann der Kreis des Schwures löst und die Bedrohung durch den „Juju“ für die Betroffenen und ihre Familien gebannt ist.
Das dürfte aber nur in den seltensten Fällen gelingen...
Ja, meist ist es nicht möglich, die Madame und die Schlepper zu erwischen, um die Gefahr zu beenden. Sie haben viele Stellvertreter und arbeiten mit europäischen Gruppierungen, etwa der italienischen Mafia, zusammen. Eine Möglichkeit ist es, die Bindung der Frauen an eine andere religiöse Form zu fördern, die den Betroffenen einen Schutz vor den Konsequenzen des gebrochenen Schwures bietet. Einige Opfer gehen gerne in die Kirche oder in die Moschee und nutzen Gebete zum Schutz. Natürlich ist es dabei wichtig, es den Frauen selbst zu überlassen, durch was sie sich besser fühlen und lediglich Vorschläge zu unterbreiten, anhand der Ressourcen, die man in der Beratung identifizieren kann.
Lena Siemers, 36, ist
Ethnologin und arbeitet
als Sozialarbeiterin. |
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Vorstellbar ist es auch, den „Juju“ umzukehren, also den Schwur rückgängig zu machen. In Europa ist es aber schwer, einen entsprechenden „Juju“-Priester zu finden. In der Beratung arbeite ich auch mit Psychoedukation, denn die Symptome eines gebrochenen „Juju“-Schwures und die einer posttraumatischen Belastungsstörung, unter der eigentlich alle Opfer leiden, sind nahezu identisch. Es hilft den Betroffenen zumindest etwas, wenn sie einige der Symptome auf das Trauma zurückführen können und dadurch weniger Angst vor dem „Juju“ haben. Enorm wichtig ist, dass die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, traumatherapeutisch und psychiatrisch behandelt zu werden. Leider ist das durch die eingeschränkte Krankenversicherung von Asylbewerbern und den Mangel an Behandlungsplätzen in Deutschland sehr schwierig. |
2018 hat Oba Ewuare II, die höchste Autorität für alle „Juju“-Aktivitäten in Edo State, Nigeria, die Schwüre aufgehoben, die man den Opfern von Menschenhandel abverlangte. Wie beurteilen Sie das?
Dieser Oba war einige Zeit nigerianischer Botschafter in Italien und hat wohl die Machenschaften vor Ort beobachten können. Er tat das, weil viele „Juju“-Priester nicht wussten, dass sie Opfer von Menschenhandel vor sich hatten oder aus Habgier darüber hinwegsahen. Schwüre an „Juju“-Schreinen sind ein Teil des traditionellen Rechtssystems in Nigeria und fungieren als Verträge, sie werden nicht nur im Menschenhandel eingesetzt. Der Oba wollte diese Praktiken unterbinden und rief die Opfer der Schwüre dazu auf, sich Hilfe zu holen und die Namen ihrer Schlepper zu nennen. Aus ethnologischer Sicht ist das ein außergewöhnlicher Schritt, vergleichbar vielleicht mit einem Papstdekret. Welche Auswirkungen das langfristig haben wird, wird man sehen. Es ist ja regional begrenzt.
Interview: Eva-Maria Werner; Fotos: Kathrin Harms
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Was tut SOLWODI
SOLWODI setzt sich für die Rechte von ausländischen Frauen in Deutschland ein, die Not und Gewalt erfahren haben, seien es Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Prostitution, Zwangsheirat oder sonstiger Gewalt. Die betroffenen Frauen werden von erfahrenen Sozialarbeiterinnen begleitet. SOLWODI bietet psychosoziale Betreuung, organisiert medizinische oder juristische Unterstützung, eröffnet Zugänge zu Deutschkursen, Ausbildung, Arbeit, unterstützt im Asylverfahren, bei ausländerrechtlichen Fragestellungen und sonstigen Kontakten mit Behörden. |
Die Betreuung ist immer auf die spezifischen Bedürfnisse und individuelle Situation der jeweiligen Klientin und ihrer Kinder ausgerichtet. SOLWODI steht für SOLidarity with WOmen in DIstress (Solidarität mit Frauen in Not). Der Verein ist in Deutschland als gemeinnützig anerkannt und arbeitet unabhängig und überkonfessionell. Bundesweit ist SOLWODI mit 19 Fachberatungsstellen und sieben Schutzeinrichtungen für Frauen und Kinder in Not vertreten.
Die Mitarbeiterinnen bilden ein transkulturelles Team mit hoher Kultur- und Traumasensibilität. Barbara Wellner vom SOLWODI-Vorstand betont: „Wir haben die Möglichkeit, die Frauen ganzheitlich zu beraten und zu betreuen, auch langfristig, da viele Opfer von Gewalt lange unter den traumatischen Erlebnissen leiden.“ Aufgrund der langjährigen Erfahrung verstehe SOLWODI die Ängste und Bedürfnisse der einzelnen Frauen und sei in der Lage, ganz individuell zu helfen. „Unsere Wurzeln sind etwas Besonderes“, sagt Wellner. „Wir arbeiten auf der Basis unseres christlich geprägten Menschenbildes und ergreifen Partei für Frauen, die sonst keine Lobby haben.“
Neben der konkreten Hilfe für Mädchen und Frauen mit Gewalterfahrungen setzt sich SOLWODI auf politischer Ebene für das „Nordische Modell“ ein, das neben einem Verbot des Sexkaufs die Entkriminalisierung der Menschen in der Prostitution und Ausstiegshilfen sowie einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel umfasst. Für Barbara Wellner steht fest: „Erst wenn sich ein Wandel in den Köpfen vollzieht, wird die Ausbeutung von Mädchen und Frauen zurückgehen.“
SOLWODI wurde 1987 von Sr. Dr. Lea Ackermann in Deutschland gegründet. Daneben unterstützt SOLWODI Frauen und Mädchen in Afrika – vor allem Kenia – mit Bildungsprojekten und berufsqualifizierenden Maßnahmen.
Zahlreiche institutionelle Mittelgeber wie die Bundesländer, die EU, Stiftungen, Kirchen und Diözesen fördern den Verein finanziell. Aber ein erheblicher Teil der Kosten bleibt, der von Spenderinnen und Spendern aufgebracht werden muss. SOLWODI ist auf Unterstützung angewiesen, finanzielle und ehrenamtliche Hilfe ist willkommen.
Weitere Infos unter:
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