„Wir brauchen eine spirituelle Revolution“Heiner Wilmer ist ein Freund klarer Worte. Der Hildesheimer Bischof fordert eine innereErneuerung der Kirche und die Abkehr von Klerikalismus und Selbstbezogenheit. |
Im kontinente-Interview macht Bischof Wilmer deutlich, was es zu bewahren und was es zu verändern gilt, warum Kirche politisch sein muss und wieso er Vorgaben aus Rom ziemlich entspannt sieht. Er erzählt von Begegnungen in Armenvierteln, die ihn tief berührt haben und erklärt, was Gott mit Küchentischen zu tun hat.
Zu verliebt und selbstbezüglich
Sie gelten als jemand, der sich nicht scheut, Kritik an der Kirche zu äußern. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?
Wir können nicht nur auf die Institution Kirche schauen. Die Gefahr ist, dass wir selbst-bezüglich sind, verliebt in unsere Institution. Grundsätzlich muss es uns aber darum gehen, dass Gott im Mittelpunkt steht. Also: Warum sind wir als Christen in die Welt gesandt, und für wen sind wir unterwegs? Diese Fragen stellen wir meines Erachtens zu wenig. Wir sollten uns deutlich auf die Seite der Schwachen stellen, ein Auge haben für die Armen in der Gesellschaft, in der wir leben, und für die Armen auf anderen Kontinenten und ein Ohr für Menschen, denen es nicht so gut geht, die Kummer haben und schlaflose Nächte.
Blick für ungerechte Strukturen
Soll Kirche politisch sein?
Kirche muss sich politisch engagieren! Würde sie das nicht tun, wäre sie nicht die Kirche Jesu. Wir brauchen den Blick für ungerechte Strukturen. Wir brauchen den Elan, dass wir uns radikal an die Seite der Schwachen stellen und uns zu deren Anwälten machen. Kirche muss Politik sein, wenn wir unter Politik verstehen, was alle angeht und alle zu einem gelingenden Leben führen kann.
Aus Erfahrungen lernen
Verändert die Corona-Krise die Kirche?
Ich gehe fest davon aus, dass es kein „Weiter so“ geben wird. Die Pandemie wird sicherlich länger dauern, als uns jetzt lieb ist und Kirche und Gesellschaft grundlegend verändern. Wir werden nur dann gut vorangehen, wenn wir uns neu aufstellen und aus den Erfahrungen der Corona-Krise lernen. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob wir so viele Sitzungen und Konferenzen brauchen wie bisher. Wir sollten unsere Zeit und Energie mehr für persönliche Begegnung nutzen. Unter „wir“ verstehe ich alle, die wir getauft und gefirmt sind.
Auf Augenhöhe sein
Vierzig Länder
Sie waren als Generaloberer selbst viel im Ausland…
Ja, insgesamt habe ich über 40 Länder bereist, zum Beispiel habe ich ein Jahr in der Bronx gearbeitet. Das ist nicht Manhattan oder Queens, sondern im Grunde genommen die „Dritte Welt“. Hier leben Menschen aus Puerto Rico, der Dominikanischen Republik, Mexiko. Ich war in der Suppenküche tätig und in der Schule. Die Mütter hatten viele Probleme, waren alleinerziehend, die Väter alkoholabhängig, gewalttätig oder einfach weg. Viele arbeiteten in zwei oder drei Jobs, damit die Kinder überhaupt die Schule besuchen konnten.
Gott am Küchentisch
Welche Erfahrungen haben Sie auf Ihren Reisen besonders geprägt?
Ich erinnere mich an meine Zeit in Caracas. Dort gibt es das Stadtviertel El Cementerio – „Der Friedhof“. Einfache Häuser kleben wie Waben an den Berghängen. Es herrscht bittere Armut und hohe Kriminalität. Jugendbanden und Drogenkartelle regieren auf den Straßen. Die Menschen haben mich in ihre Häuser eingeladen, wo sie ohne fließendes Wasser leben und sich den Strom irgendwo abknapsen. Trotzdem boten sie mir etwas zu trinken an und alle kamen, um „El Padre“ zu sehen. Ihre Gastfreundschaft berührt mich bis heute sehr. An diesen Küchentischen bin ich Gott begegnet.
Menschen im Alltag abholen
Was haben Sie aus diesen Erlebnissen für die Pastoral in Deutschland mitgenommen?
Wir sollten einander besuchen und bei den Leuten am Küchentisch sitzen. Ich halte den Küchentisch für einen Schlüssel in der Pastoral, weil es im Sinne Jesu darum geht, dem anderen in die Augen zu schauen, bei ihr, ihm im Leben zu sein. Das gilt auch für die Begegnung mit kirchenfernen Menschen. Auch sie haben einen Küchentisch! Es geht um alltägliche Orte. Das kann auch der Arbeitsplatz sein, der Reisebus oder das Café. Wir brauchen beides: das persönliche Gespräch genauso wie die Möglichkeiten der Medien und der digitalen Welt.
Nah an der Lebenswirklichkeit
Dinge vor Ort anpacken
Viele engagierte Laien ziehen sich jedoch zurück, weil sie die Vorgaben aus Rom weltfremd oder restriktiv finden. Wie reagieren Sie darauf?
Die Vorgaben aus Rom sehe ich entspannt. Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Rom muss grundsätzliche Vorgaben machen. Aber ein Prinzip der katholischen Soziallehre ist die Subsidiarität. Was vor Ort entschieden werden kann, soll vor Ort entschieden werden. Was vor Ort umgesetzt werden kann, soll vor Ort umgesetzt werden. Es geht darum, die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen ernst zu nehmen darauf unterschiedliche Antworten zu geben. Wir brauchen den Mut, die Dinge anzupacken, die wir ändern können.
Der größte Hemmschuh ist Angst
Was verhindert Veränderungen?
Es sind die Hemmschuhe, die es immer in großen Systemen gibt: zum einen unsere Lethargie, die Trägheit. Es ist einfach anstrengender, etwas Neues zu tun. Der größere Hemmschuh ist die Angst. Wenn etwas Neues kommt, ist Ungewissheit damit verbunden. Es wird darum gehen, solchen Ängsten zu begegnen und Mut zu machen. Veränderungen sind immer komplex. Sie wirken sich aus auf Bilder, die wir haben, auf Rollen, in denen wir uns befinden. Dazu gehört natürlich auch die Veränderung von Zuständigkeit, Verantwortlichkeit und Macht. In unserem Bistum erlebe ich viele getaufte Frauen und Männern, die durchaus Verantwortung übernehmen – auch in leitenden Posi-tionen, und die das Vertrauen der Leitung genießen.
Reform mit Mission
Viele engagierte Laien klagen, dass Veränderungsprozesse vor Ort sehr lange dauern oder gestoppt werden. Welche Chancen geben Sie vor diesem Hintergrund dem Synodalen Weg?
Ich erlebe in der Tat getaufte Frauen und Männer – dazu gehören auch Priester – die unter bestimmten Vorgaben leiden und sich fragen „Wie geht es weiter?“ Grundsätzlich glaube ich, dass wir für den synodalen Weg beides brauchen. Wir brauchen eine Reform der Kirche mit Mission. Damit meine ich, dass wir verantwortlich sind, für unsere Worte und für unser Zeugnis. Schweigen und Nichtstun ist eine Sache – reden über das, wovon mein Herz erfüllt ist, was mich ausmacht und zum Handeln treibt, eine andere.
Laien einbinden
Oft dürfen Laien kaum Verantwortung übernehmen. Woran liegt das?
Ich glaube, es liegt an dem Geist, der im Bistum herrscht und an den Gläubigen, die miteinander unterwegs sein wollen und auf denselben großen Horizont schauen, der für uns Gott ist. Alle Pfarrer sind gut beraten, die Sakramente, die sie spenden, ernstzunehmen. Wenn wir von der Taufe als dem Grund¬sakrament ausgehen, können wir gar nicht anders, als die Charismen der getauften Frauen und Männer einzubinden.
Das klingt ziemlich progressiv...
Ich halte das für konservativ, mitunter sogar für sehr konservativ. Es geht um den Geist des Evangeliums.
Wir brauchen eine spirituelle Revolution
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Interview: Beatrix Gramlich und Janina Mogendorf; Fotos: Jens Schulze, picture alliance/Christian Gossmann/dpa, KNA (Alle Rechte vorbehalten)
Zur Person
Bischof Heiner Wilmer, 59, wuchs als ältestes von vier Kindern in Schapen im Emsland auf. Mit 19 Jahren trat er den Herz-Jesu-Priestern bei. 2015 wurde er Generaloberer seines Ordens und 2018 Bischof von Hildesheim.
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Der Film erzählt von Schwester Marie Catherine im Niger, die zur Versöhnung von Muslimen und Christen im ärmsten Land der Welt beiträgt. |
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