Unser Wohlstand geht auf Kosten der ArmenGerd Müller nennt es ein Privileg, Entwicklungsminister zu sein. Bei seinen Reisen geht er in Slums und
Flüchtlingslager. Entwicklungspolitik ist für den Allgäuer nicht nur Armutsbekämpfung, sondern auch
Handels-, Klima und Friedenspolitik. Warum, erklärt er im kontinente-Interview. |
Hinweis der Redaktion:
Zurzeit können wir Ihnen an dieser Stelle nur die Printversion des Interviews mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller anbieten. Sobald uns die Freigabe des Ministeriums vorliegt, stellen wir die angekündigte
ausführliche Fassung online.
Herr Minister, Sie sprechen aus, was viele nicht gerne hören: „Wir haben Afrika arm gemacht“ oder „Wir müssen andere an unserem Wohlstand teilhaben lassen“. Was veranlasst Sie dazu?
Die Überzeugung: Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde. Und jeder kann ein Stück Verantwortung übernehmen, um die Welt gerechter zu gestalten. Diese Verantwortung – der Starke übernimmt Verantwortung für den Schwächeren – muss auch im globalen Sinne gelten, zwischen den reichen Nationen des Nordens und den ärmeren des Südens. Das Zweite ist meine Grundüberzeugung: Wir leben in einer Welt und arbeiten in Verantwortung vor Gott und den kommenden Generationen.
Kritiker behaupten, der Entwicklungspolitik gehe es mehr um Investitionen für deutsche Unternehmen als darum, die Situation vor Ort zu verbessern...
Nein. Hunger und Armut in der Welt zu überwinden, bleibt unser Ziel Nummer eins. Seit 1990 sank die extreme Armut um fast zwei Drittel – von 1,9 Milliarden Menschen auf 690 Millionen. Das sind große Fortschritte, die aber jetzt durch die Pandemie infrage gestellt werden. Und dennoch: Wir haben die Technologie und das Wissen, um eine Welt ohne Hunger zu schaffen und Afrika zum grünen Kontinent erneuerbarer Energien zu machen. Aber wir müssen mehr tun: Wir brauchen Privatinvestitionen und eine neue, faire Handelspolitik. Damit lösen wir Entwicklungssprünge aus und sichern Arbeitsplätze in Europa.

In Ghana besucht der Minister die größte Elektroschrotthalde der Welt, voller Müll aus Europa. |
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Wie kann das mit einer an maximalem Profit orientierten Wirtschaft gelingen?
Es gibt viele verantwortungsvolle Unternehmen. Aber die Globalisierung führt viel zu oft zur Ausbeutung von Mensch und Natur. Der Finanzkapitalismus hat sich längst spekulativ von der Realwirtschaft und Verantwortung gelöst. Deswegen brauchen wir neue Leitplanken, um die Erde, die Schöpfung, zu erhalten. Es kann nicht sein, dass wir eine Entwicklung weitertreiben, bei der zehn Prozent der Menschheit 90 Prozent des Einkommens und Vermögens besitzen. |
Brauchen wir einen Systemwandel?
Ja, vom Kleinen zum Großen: Jede und jeder kann zu Hause mit dem Kauf von fairen Produkten beginnen. Das geht weiter in der Gemeinde, mit der fairen öffentlichen Beschaffung und endet beim Welthandel. Wir müssen viel stärker darauf achten, dass die Menschen vor Ort für unsere Produkte existenzsichernde Löhne bekommen und Sozial- und Umweltstandards eingehalten werden.
Mit Arbeitsminister Hubertus Heil haben Sie das Lieferkettengesetz initiiert. Worum geht es dabei?
Unser Wohlstand geht viel zu oft auf Kosten der Armen. Nehmen Sie eine Jeans. Die wird in Bangladesch für fünf Euro hergestellt. Bei uns liegt sie dann für 50 oder 100 Euro im Laden. Die Näherinnen schuften 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, für einen Stundenlohn von 40 Cent. Eine Verdoppelung würde reichen, damit sie ihre Familien ernähren können. Die Jeans würde in der Produktion nur einen Euro teurer – von fünf auf sechs Euro. Wer sagt: Lieferketten fair zu gestalten, das geht nicht, will es einfach nicht. Unser staatliches Textilsiegel „Grüner Knopf“ zeigt ja, dass es geht. Aber meine Erfahrung ist: Am Ende helfen nur gesetzliche Regelungen.
Ihre Pläne stoßen aber selbst in Ihrer eigenen Fraktion auf Ablehnung...
Ich bin optimistisch, dass wir noch in diesem Jahr ein Lieferkettengesetz beschließen. Die Kanzlerin und meine Partei unterstützen mich.
Sie wollen Entwicklungshilfe künftig an Bedingungen wie Good Governance (gute Regierungsführung) knüpfen. Fallen da nicht die Ärmsten durch?

Im Libanon spricht Gerd Müller mit syrischen Flüchtlingen. |
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Menschen, die von Hunger, Armut und Not bedroht sind, werden wir immer unterstützen. Aber wir setzen zusätzlich auf Eigenverantwortung. Das heißt: gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Kampf gegen Korruption, Gleichberechtigung der Frauen. Länder, die das umsetzen, haben die größten Erfolge bei der Armutsbekämpfung. Ein Beispiel: Im Tschad haben wir ein Krankenhaus besucht: abgemagerte Kleinkinder, deren Mütter sie nicht stillen konnten, weil sie selbst unterernährt waren. Die Regierung kümmert sich seit Jahren nicht. Drei Kilometer weiter saß der Präsident in seinem Palast und wollte staatliche Entwicklungszusammenarbeit von uns. |
Ich habe das abgelehnt. Stattdessen unterstützen wir das Krankenhaus direkt über die Ordensschwestern vor Ort. Die Kirchen sind in vielen Ländern unser wichtigster Partner, um die Ärmsten der Armen zu erreichen. Für dieses Engagement bin ich sehr dankbar.
Für den nächsten Bundestag wollen Sie nicht mehr kandidieren. Welche Bilanz ziehen Sie nach acht Jahren als Entwicklungsminister?
Die Erfahrungen, die ich machen durfte, haben mich verändert – als Mensch und als Politiker. Ich habe das alles gesehen: Ausbeutung auf Bananenplantagen, Kinderarbeit in Steinbrüchen, aber auch Ordensschwestern, die Hunderte Kinder vor dem Tod retten und ihnen Schule und Bildung ermöglichen. Das ist Himmel und Hölle. Daraus beziehe ich meine Kraft und die Überzeugung, auch laut sein zu dürfen. Als Weltgemeinschaft haben wir das Potenzial, diese Probleme zu lösen. Aber nicht mit einem „Weiter so!“ Wir müssen umdenken und entschieden handeln. Jetzt!
Interview: Beatrix Gramlich; Fotos: imago images, picture alliance
Zur Person
Gerd Müller, 65, ist seit 2013 Entwicklungsminister und das gern, wie er offen zugibt. Der CSU-Politiker nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um Menschenrechte, Ausbeutung und unfaire Handelsbedingungen geht. Seine Arbeit findet über Parteigrenzen hinweg Anerkennung, auch wenn er wie beim Lieferkettengesetz „dicke Bretter bohren“ muss. Der Bauernsohn und Diplom-Wirtschaftspädagoge lebt im Allgäu, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Juni übernimmt er die Schirmherrschaft für eine internationale missio-Konferenz zum Thema moderne Sklaverei.
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