Missbrauchte Ordensfrauen
müssen Rache fürchtenSexueller und spiritueller Missbrauch in Klöstern ist weitverbreitet und in den
meisten Ländern ein Tabuthema. Das bestätigte auch eine aktuelle Umfrage
von missio. In Indien engagiert sich die Steyler Schwester Julie George für die Opfer. |
Der Missbrauch von Ordensfrauen wird gerade viel diskutiert. Wie groß ist das Problem in Indien?
Es ist eine ernste Sache. Aber wir leugnen es immer noch und machen uns vor, dass das Problem einfach nicht existiert. Dabei war es wohl immer da, aber nicht in dem Ausmaß, wie jetzt bekannt wurde. Man hat halt nur hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen.
Wie kommen diese Taten überhaupt ans Licht? Gibt es Ombudsleute oder Beschwerdestellen in Indien?
Die indische Verfassung ist ein frauenfreundliches Dokument. Das Land hat zum Beispiel im Rahmen des Gesetzes zur sexuellen Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz interne Ausschüsse eingerichtet. Die indische Kirche hat als erste in der Weltkirche eine Gleichstellungspolitik und Richtlinien zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz formuliert. Aber das institutionalisierte Patriarchat und Frauen, die als Vertreterinnen des Patriarchats agieren, haben es schwierig gemacht, das in die Praxis umzusetzen.

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Was begünstigt den Missbrauch?
Tiefsitzendes Patriarchat, die Macht von Männern über Frauen und natürlich die Macht des Geldes. Es werden riesige Summen bereitgestellt, um angeklagte Kleriker in Missbrauchsfällen zu verteidigen.
Die untergeordnete Rolle der Frauen in der Kirche begünstigt das Ganze noch. Missbrauch entsteht aus Frauenfeindlichkeit und Macht.
Warum sind speziell Ordensfrauen so gefährdet?
Frauen haben die Werte des Patriarchats mit der Muttermilch aufgesogen. Dazu kommt der Klerikalismus, der in der Kirche so mächtig wirkt. |
Ordensfrauen werden vor allem dadurch unterdrückt, dass man ihnen Beichte und Kommunion verweigert, und das ist ein empfindlicher Bereich für Ordensfrauen. Ein weiteres Problem: schlechte Ausbildung und mangelnde Stärkung der Schwestern. Es gibt keine Unterstützung für eine Frau, die gegen einen Mann in der Kirche klagt, erst recht nicht, wenn es um einen Kleriker geht. Wer sich beschwert, muss Demütigung und Rache fürchten. Deshalb ist es so wichtig, dass es fähige Frauen in Machtpositionen innerhalb der Kirche gibt, die das ändern könnten.
Ist das Problem bei den Oberinnen auch bekannt? Was tun sie?
Viele werden es wissen. Aber sie bringen entweder das Opfer zum Schweigen oder untergraben dessen Glaubwürdigkeit. Dass sie das Opfer unterstützen, ist sehr selten. Manche haben es am Anfang getan, aber dann mussten sie sich den Mächtigen beugen.
Was erleben Ordensfrauen, die Missbrauch öffentlich machen?
Wer sich das traut, macht traumatisierende Erfahrungen. Wir haben dafür viele Beispiele. Oft wird sogar die ganze Ordensgemeinschaft bedroht. Ihre Oberinnen geben irgendwann auf, und meistens muss das Opfer dann die Gemeinschaft verlassen.
Ist es für Ordensschwestern leichter, ihren Fall zu schildern, wenn Ordensfrauen wie Sie ihnen zuhören?
Ja, natürlich! Vor allem dann, wenn die Zuhörerinnen auch noch Juristinnen sind. Leider gibt es auch unter uns viele, die sich nicht für Frauenrechte in der Kirche interessieren oder überhaupt Anwältinnen für Frauen sein wollen. Sie müssen ja mit Leuten streiten, die in der Kirche sehr mächtig sind.
Was erleben Sie dabei?
Wer sich mit den Mächtigen anlegt, wird an den Rand gedrängt. Sogar andere Ordensleute halten zu uns lieber Abstand. Viele Frauenorden unterstützen ihre eigenen Mitglieder nicht und schlagen sich auf die Seite der Mächtigen. Das muss ich aushalten.

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Der Fall von Bischof Mulakkal von Kerala, der der mehrfachen Vergewaltigung einer Ordensfrau angeklagt ist, ist auch bei uns bekannt geworden...
Sein Verfahren geht weiter. Der Bischof hat die besten Anwälte Indiens beauftragt. Es war eine sehr schwere Zeit für das Opfer, als sie befragt wurde. Bischof Mulakkal hat das höchste Gericht angerufen, dort wurde seine Beschwerde gegen den Prozess aber abgelehnt. Als „Sisters in Solidarity“ begleiten wir das Opfer und ihre Unterstützerinnen. |
Wir erinnern die kirchliche Hierarchie an ihre Verantwortung gegenüber einer Tochter der Kirche, auch wenn wir keine positive Antwort bekommen ... Ganz wichtig ist auch, sie im Gebet zu unterstützen!
Was kann man tun, um das Problem zu lösen?
Ich habe das Gefühl, dass es innerhalb der Kirche für Frauen keine Gerechtigkeit gibt. Wir müssen die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen.
Haben die Abgründe, in die Sie schauen müssen, Ihr Bild von Kirche verändert?
Je mehr ich über die Kirche weiß – und ich lerne immer noch dazu! – desto mehr spüre ich, dass es keine Gleichheit gibt. Die Kirche arbeitet auch nicht ernsthaft daran. Männer sind hier immer in der
besseren Position. Man muss das ganze System von Hierarchie hinterfragen, damit sich etwas verändert, und das ist echt nicht leicht.
In der Kirche ist „Versöhnung“ und „Verzeihen“ ganz wichtig. Kann man das angesichts dieser Missbrauchstaten tatsächlich verlangen?
Ich glaube an Vergeben und Verzeihen – wenn es mit Gerechtigkeit verbunden ist! Aber im Fall von Missbrauch ist Versöhnung eine eigentlich unmögliche Forderung. Denn sie geht eben meistens auf Kosten der Frau, ihrer Würde und Integrität.
Zur Person
Schwester Julie George, 56, wurde in Kerala, Südindien, geboren und trat vor 30 Jahren bei den Steyler Missionsschwestern ein. 2006 begann sie ihre Arbeit als Anwältin für Frauenrechte bei Streevani in Pune. Von 2012 bis 2019 war sie die Direktorin dieser Frauenorganisation, die auch von missio unterstützt wird. Die Juristin koordiniert die Rechtsabteilung von Streevani, engagiert sich bei deren Programmen zur Stärkung von Frauen im Bereich Religion und ist Leiterin der Personalabteilung am Holy Spirit-Hospital in Mumbai. Außerdem unterstützt sie, zusammen mit den „Sisters in Solidarity“ (Schwestern in Solidarität), die Überlebenden von sexuellem Missbrauch in der Kirche.
Interview: Christina Brunner; Fotos: privat, Streevani, Imago Images

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Zur Initiative Streevani
„Streevani“ ist eine Initiative des nationalen Instituts für Mission und Kommunikation der Steyler Missionare. Gegründet wurde sie, weil in Indien die Strukturen der katholischen Kirche traditionell von Männern bestimmt werden. Sie schafft ein Bewusstsein für die Situation der indischen Frauen in Kirche und Gesellschaft und holt das Thema „Missbrauch in der Kirche“ – sowohl von Ordensschwestern als auch von Kindern – aus der Tabuzone. Weitere Informationen und Spendenmöglichkeiten finden Sie bei missio Aachen unter folgenden Links: |
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