Edith startet ins LebenDie Schwestern vom Orden der heiligen Maria Magdalena Postel begleiten in Bolivien Waisen undmisshandelte Mädchen beim Neustart ins Leben. Edith Caceres ist eine von ihnen. Die 22-Jährige stammt aus schwierigen Verhältnissen. Heute studiert sie und moderiert eine Sendung im Radio. |
Text: Sandra Weiss | Fotos: Florian Kopp
Ein kleines Mädchen in einem grauen, verfilzten Pullover blickt mit einem scheuen, nur angedeuteten Lächeln in die Kamera. Die kastanienbraunen Haare streng nach hinten gekämmt, blinzelnd, als wäre sie aus der Finsternis plötzlich in die gleißende Sonne gezerrt worden. Das ist das allererste Foto von Edith Caceres. Sechs Jahre alt war sie damals und ziemlich verloren in einer Welt, die sie nicht verstand und die ihr vom ersten Tag ihres Lebens an feindlich gegenüberstand. „Das Foto zeigt mich an dem Tag, an dem ich zum zweiten Mal geboren wurde“, sagt die junge Bolivianerin und lächelt.
Was davor lag, ist nur noch in Fetzen in ihrem Gedächtnis vorhanden. Sie kam in der bolivianischen Stadt Cochabamba auf die Welt. Um die Jahrtausendwende war das eine quirlige Metropole, Magnet für Bauern und Tagelöhner, die kein Auskommen mehr in der Landwirtschaft sahen. Sie suchten Arbeitsplätze, Wohlstand, Bildung und Gesundheit, wollten den Teufelskreis der Armut durchbrechen. Ihre Erwartungen wurden allzu oft bitter enttäuscht. Der Exodus endete meist an der städtischen Peripherie, im Prekariat, in der Entwurzelung.
Ihre Erinnerungen an die Kleinkindzeit sind verblasst, nur schemenhaft erinnert sie sich an eine dunkle Lehmhütte, in der sie alleine stundenlang mit Erika eingeschlossen war und auf die Mutter wartete – in der Hoffnung, sie bringe etwas zu essen mit. Sie wurden oft enttäuscht. Betrunken torkelte die Mutter spät abends in die Hütte und schlief ihren Rausch aus – ohne die hungrigen Mädchen überhaupt wahrzunehmen. Eines Tages nahm sie ihre Töchter an die Hand, setzte jeder einen Rucksack auf mit ein paar Kleidern darin und ging mit ihnen zum Busterminal, eine verrufene Gegend voller Bars und Bordelle. Stunden später fand die Polizei die beiden verlassenen, verschreckten Mädchen, die sich an den Händen festhielten, und brachte sie zum Jugendamt. Einige Tage später landeten Edith und Erika im Kinderdorf „Providencia“ der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel.
Von klein auf traumatisiert
Es war der Tag von Ediths Wiedergeburt. Schwester Miriam Machuca blickt gedankenverloren auf das kleine Foto. Die Leiterin des Kinderdorfs nahm die beiden Schwestern damals in Empfang. Erika weinte, erinnert sie sich, aber Edith, die Ältere, war gefasst. „Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht zum ersten Mal völlig alleine gelassen worden waren“, sagt Schwester Miriam. Ausgesetzte Kinder und Waisen waren keine Besonderheit damals in Cochabamba. Kinderheime quollen über. „Heute haben wir weniger Waisen und mehr Fälle von sexuellem Missbrauch und Opfer häuslicher Gewalt“, erzählt die Postel-Schwester. „Das ist noch eine größere Herausforderung, weil Kinder aus solchen Familien von klein auf traumatisiert sind.“
Vor allem Mädchen zahlen den Preis für zerrüttete Familienverhältnisse. In einer Machokultur wie der Boliviens sind sie weniger wert als männliche Nachkommen, werden häufiger missbraucht, zur Prostitution gezwungen oder in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet. Ihre Schulbildung endet normalerweise nach Ende der Schulpflicht. Auch wenn sie im Gesetz festgeschrieben ist – von gesellschaftlicher Gleichberechtigung sind die Bolivianerinnen weit entfernt. Eine Bolivianerin bekommt im Durchschnitt knapp drei Kinder, in ärmeren Schichten sind es deutlich mehr. Wenn das Geld knapp ist, werden eine Berufsausbildung oder ein Studium für die Kinder zum Wunschtraum. Und kratzt die Familie doch einmal genügend Geld zusammen, bekommen die Jungs den Vorzug. Denn Mädchen, so die fest verankerte Überzeugung, taugen nur zum Kinderkriegen und zum Kochen.
Hier herrscht ländliches Flair: Lamas, Meerschweinchen und Kühe werden von den Kindern versorgt. Vögel zwitschern, hohe Bäume beschatten den kleinen Park mit Brunnen, um den sich die Ziegelhäuser gruppieren. Die angeschlossene Landwirtschaft versorgt die Mädchen mit gesundem Essen. Die körperliche Arbeit und der Kontakt mit der Natur sind Teil des ganzheitlichen, pädagogischen Konzepts und für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung wichtig. Als Edith und ihre Schwester ins Kinderdorf kamen, tummelten sich dort 120 Mädchen jeden Alters. Für die Schwestern tat sich eine ganz andere Welt auf: „Wir bekamen dreimal am Tag zu essen. Es gab einen strukturierten Tagesablauf, und wir konnten die benachbarte katholische Salesianer- Schule besuchen“, erinnert sich Edith. „Schnell fanden wir neue Freundinnen, und es fühlte sich an wie eine große Familie.“
Sie war eine gute Schülerin, wortgewandt, extrovertiert, beliebt bei den Mitschülerinnen. Überall war sie vorne mit dabei – beim Basketball, beim Singen. Sie nähte, half bei der Feldarbeit und unterstützte die Schwestern schließlich bei der Hausaufgabenbetreuung der Jüngeren. Auch für Erika, die jüngere, die stillere, die labilere, wurde sie zum Vorbild. „Einmal büchste Erika aus, angestiftet von einem älteren Mädchen, das einen negativen Einfluss auf sie hatte“, erinnert sich Schwester Miriam. Als die beiden Ausreißerinnen zurückkehrten, gab es eine Standpauke und Strafarbeit auf dem Feld. Was die rebellische Teenagerin Erika aber wirklich zu Reue bewog, war die Reaktion von Edith: „Was hast du nur getan Erika, ich bin so enttäuscht“, sagte die Ältere mit Tränen in den Augen. Die Kinderdorf-Leiterin erinnert sich noch nach Jahren an die Szene. So wie sich Eltern an diese Momente erinnern, in denen die Kinder demonstrieren, dass sie erwachsen werden. Es war der erste und letzte Ausrutscher Erikas.
Stipendium aus Spenden
Edith studiert dort bereits Kommunikation. Geholfen hat den beiden ein Stipendium der Ordensgemeinschaft. Mit 18 Jahren und der Volljährigkeit entfällt der gesetzliche Anspruch auf einen Heimplatz. Der bolivianische Staat stellt dann seine Zuschüsse an das Kinderheim ein, bietet den Abgängerinnen aber keinerlei Stipendien oder berufsbildende Angebote. Die Schwestern versuchen, diese staatliche Lücke zu füllen.
An erster Stelle steht die Reintegration in die Ursprungsfamilien – aber das ist oft schwierig. Der Vater von Edith und Erika kam die Töchter nach einer Entziehungskur auch ein paar Mal besuchen, aber kaum entstanden erste emotionale Bande, wurde er unter unklaren Umständen ermordet. Edith und Erika waren damals 15 und 16. „Es war ein schwerer Schlag“, erinnert sich Schwester Miriam. Der Vater war ihre einzige familiäre Bezugsperson, denn bei der Mutter war zwischenzeitlich eine psychische Krankheit diagnostiziert worden. Die beiden älteren Halbschwestern wuchsen in einem anderen Heim auf. Die Schwestern spendeten Trost, eine Psychologin half den beiden Teenagern bei der Trauerarbeit.
Schwester Antonia hilft
Die Stipendiatinnen treffen sich einmal im Monat mit Schwester Antonia. Es ist eine Mischung aus Kaffeeklatsch und Examen. Jeden Monat muss eine Stipendiatin zu einem bestimmten Thema einen Vortrag halten – über einen aktuellen Film oder über ein traditionelles Fest und seinen kulturellen Hintergrund. Am Ende wird das Geld ausgezahlt. Schwester Antonia notiert sich alles fein säuberlich in einem Schulheft. Sieben Mädchen nehmen das Angebot derzeit wahr, darunter die angehende Physiotherapeutin Zaida, Gastronomin Gabriela und Kommunikationswissenschaftlerin Viviana.
Eine Chance fürs Leben
Für Edith, die Sekretärin und Schriftführerin, ist das Stipendium eine wichtige Hilfe auf dem Weg ins Leben. „Damit ist die halbe Miete abgedeckt“, sagt sie. Bis zur Corona-Pandemie arbeiteten die beiden Schwestern noch halbtags im Telemarketing eines Computerunternehmens und verdienten zusammen knapp 2000 Bolivianos. Eine Jugendorganisation, für die sich Edith ehrenamtlich engagiert, zahlt ihr ebenfalls einen kleinen Betrag. Als Vertreterin der Organisation moderiert Edith in einem lokalen Basisradio wöchentlich eine Jugendsendung, in der es um Dinge geht, die Teenager brennend interessieren, die sie sich aber nicht zu fragen trauen: Sexualität und Partnerschaft.
Doch im Gespräch wirkt sie selbstbewusster, reifer und zielstrebiger als Gleichaltrige. „Ich habe in der ‚Provi‘ eine Chance bekommen und weiß vielleicht manches im Leben mehr zu schätzen als andere, die von Haus aus schon alles hatten.“ Schwester Antonia ist sichtbar stolz: „Edith ist eine selbstbewusste, intelligente und talentierte junge Frau. Ich bin mir sicher, dass sie ihren Weg machen wird.“
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