Die sanfte Macht der MütterWenn Jugendliche sich radikalisieren, sehen Mütter die Warnzeichen oft als Erste. Stabile Beziehungenin der Familie und ein starkes Selbstbewusstsein der Frauen können Schlimmeres verhindern. Genau da setzen die Mother Schools von Frauen ohne Grenzen an. |
Ein Lastwagen rast in den Berliner Weihnachtsmarkt, gesteuert von einem Tunesier, der sich in Italien radikalisierte. Ein 20-jähriger IS-Sympathisant schießt in der Innenstadt von Wien. Rechtsradikale ziehen mit der Reichskriegsflagge durch die Straßen. Kaum gehen solche Meldungen durch die Medien, wird schnell der Ruf nach Druck und Kontrolle laut. „Aber dann ist es eigentlich schon zu spät“, sagt die Sozialwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Edit Schlaffer. „Hard power hat unsere Welt nicht sicherer gemacht.“
Die österreichische Feministin setzt auf „soft power“, die sanfte Macht: auf Dialog, Familienbeziehungen, Stärkung von Frauen. „Kein Geheimdienst kommt den kleinen alltäglichen Schritten in den Abgrund näher als Mütter. Wir müssen da ansetzen, wo die Probleme beginnen: in den Familien.“
2013 gründete Edit Schlaffer mit ihrer Organisation „Women without borders/Frauen ohne Grenzen“(WwB) die „Mother Schools: Parenting for Peace/Mütterschulen: Elternschaft für Frieden“. Weltweit haben bereits 2000 Frauen in 16 Ländern an den Programmen teilgenommen. Sausan Sana, die vor 20 Jahren aus dem Irak nach Bayern kam, war 2019 und 2020 Lehrerin für Mother Schools in Nürnberg. Zwei arabisch-sprachige Gruppen hat sie durch das zehnwöchige Programm begleitet: „Als wir erst mal ihr Vertrauen gewonnen hatten, waren die Mütter sehr offen“, berichtet die 55-Jährige. „Wir haben viel geredet: über Kindererziehung, Isolation durch Sprachprobleme, fehlendes Selbstbewusstsein, Religion und Freiheit...“
Gewalt in der Familie
Die Mütter wussten von Hinterhofmoscheen, in denen junge Männer indoktriniert werden, ein Sohn war schon ins Visier der Polizei geraten. Aggression und Gewalt in der Familie waren ein großes Thema, gerade auch während der Monate im Lockdown. „Die Frauen waren stark, aber durch unser Programm sind sie noch stärker geworden“, freut sich Sausan Sana. „Sie wurden selbst weniger aggressiv gegenüber den Kindern und hören ihnen besser zu. Manche haben sogar ihren gewalttätigen Ehemann verlassen.“ Sie hofft, dass sich die Frauen nach der Corona-Pandemie weiter treffen und gegenseitig unterstützen können.
Eine der ersten Schulen eröffnete WwB 2013 in Kashmir. In der Konfliktregion zwischen Indien und Pakistan werden Kinder in einer extrem gefährlichen Umgebung groß, ihre Mütter erfahren täglich Gewalt und Unsicherheit. Sie hatten nie gelernt, über ihre Erfahrungen und ihre Gefühle zu sprechen. Die Mother Schools ermutigten die Frauen, ihre Angststarre aufzugeben und nach Lösungen zu suchen. Sie lernten, besser mit ihren Kindern zu reden, aber auch brutales Verhalten in Familien nicht mehr zu dulden. Schnell kamen auch die Männer in den Blick: In Workshops für Väter und Söhne konnten auch sie ihren Frust, ihre Angst und ihre Resignation angesichts staatlicher Willkür aussprechen.
Österreich, Kosovo, Indonesien, Tadschikistan – überall, wo Extremismus gefährlich wird, wollen die Mother Schools Frauen zusammenbringen. So auch 2018 und 2019 in Belgien. Aus keinem anderen Land in Europa gingen mehr junge Kämpfer nach Syrien. Allein 30 stammten aus Vilvoorde, einer kleinen Stadt nördlich von Brüssel. 31 Mütter aus Vilvoorde und Antwerpen wurden nach zehn Wochen intensiven Austausches für ihre Bereitschaft geehrt, ihre Kinder und ihre Gemeinden zu schützen.
Die Rote Linie arbeitet vor allem mit Jugendlichen in der Einstiegsphase, und die beginnt oft schon mit zwölf Jahren. Für die Eltern ist es dann zu spät, das richtige Weltbild zu vermitteln, die Jugendlichen orientieren sich längst an Gleichaltrigen und Medien. Trotzdem: Dass Eltern ihre eigenen Werte vorleben und erklären, bleibt sinnvoll, betont Niebling. „Denn die Jugendlichen hören sie, auch wenn sie sie im Moment nicht leben wollen.“
Aufmerksam sein für das, was der Nachwuchs liest und sagt, Offenheit zeigen, im Gespräch bleiben, das ist auch für Eltern rechtsextremer Kinder wichtig. „Wir helfen den Müttern, die Stärken in der Beziehung wiederzuentdecken.“ Denn viele Eltern sind müde von jahrelangen Auseinandersetzungen und haben den Blick verloren für das Gute, das ihr Kind mitbringt. Das sechsköpfige Team der Roten Linie ermutigt sie, auch für sich selbst etwas zu tun, um die eigenen Kräfte wieder aufzubauen.
Die Macht der Mütter zeigt sich aber nicht nur, wenn Söhne und Töchter sich radikalisieren. Yayi Boyoum Diouf im Senegal wuchs über sich hinaus, nachdem sie 2006 ihren Sohn verlor.
Text: Christina Brunner, Fotos: Jonas Opperskalski/laif, Kristin Palitz/picture alliance, Hendrik Schmidt/picture alliance
Lesen Sie das aktuelle Interview zum Thema:
Die Sorge um die Kinder ist universal - Elisabeth Kasbauer über MotherSchools
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