Klarinettist Giora Feidman: „Musik ist Ausdruck meiner Seele“Giora Feidman spielte Klassik auf Spitzenniveau, als er sich vor 50 Jahren für Klezmer entschied – die Musik seiner
jüdischen Vorfahren. Mit ihr will er Menschen und Kulturen verbinden. Die Klarinette ist seine Stimme. |
Giora Feidmann,87, wächst als Sohn jüdischer Einwanderer in Buenos Aires auf. Schon als 13-Jähriger musiziert er mit seinem Vater bei Festen, mit 18 wird er Klarinettist am Teatro Colón, einem der besten Opernhäuser Südamerikas. 1956 wandert er nach Israel aus, in der Tasche den Vertrag mit den Philharmonikern, mit denen er bald weltweit auftritt. Anfang der 1970er-Jahre beginnt Feidman eine Solokarriere mit Klezmer, der Musik der Juden aus Osteuropa. Bis heute gibt er jährlich rund 150 Konzerte.
Sie stehen mit 87 Jahren noch auf der Bühne. Die meisten sind in diesem Alter längst im Ruhestand ...
Was bedeutet das: Ruhestand? Ich weiß nicht, was das ist. Mein Geburtstag ist der 25. März. Wenn ich Geburtstag habe, ziehe ich mich zurück. Aber sonst spielt es keine Rolle, ob ich im Konzert bin, bei den Proben oder im Büro.
Was treibt Sie an, Musik zu machen?
Meine Seele braucht das. Der Körper sagt mit 80, 100 Jahren irgendwann „Ciao“, „auf Wiedersehen“. Musik ist der Weg, mit meiner Seele in Verbindung zu treten. Sie ist die Stimme meiner Seele. Und meine Seele muss singen, um zu leben. Ich habe dafür die Klarinette genommen.
Sie sind mit jiddischen Liedern, die Ihre Mutter gesungen hat, aufgewachsen. Welche Rolle spielt Gesang für Sie?
Jedes menschliche Wesen singt. Es gibt keine Mutter, die nicht für ihr Kind singt. Singen ist der höchste Ausdruck von Liebe. Warum nutzen die Menschen das nicht? Wenn ich mit Ihnen spreche und Sie mit mir, ist das ein Lied. Wir singen! Aber wir sind nicht daran gewöhnt. Es gibt Leute, die sagen: „Ich verstehe die Musik nicht.“ Niemand versteht Musik, Musik fühlt man. Sie hat nichts mit dem Verstand zu tun. Gesang und Tanz sind natürliche Kräfte.
Mit Ihrer Musik möchten Sie Menschen verbinden. Gelingt das?
Keine Frage! Ich spiele, und es kommen vielleicht 800, 1000 Leute. Sie sagen nicht: „Wir können nicht nebeneinander sitzen.“ Das ist Freundschaft! Man hat mir viel Energie gegeben, damit ich diese Botschaft weitertragen kann.
Ihr Credo lautet: „Wer Musik macht, kann nicht hassen.“ Gilt das auch für Ihre Zuhörer?
Ja! Ich erlebe das. Ich spiele fast jeden Abend. Die Leute vor mir sind eine Familie. Wir alle auf diesem Planeten sind eine Familie. Man nennt sie Menschheit. Ihr Wesen ist Menschlichkeit.
Sie leben in Israel, verbringen aber die Hälfte des Jahres in Deutschland. Was zieht Sie hierher?
Ich bin Jude. Aber ich fühle mich in Deutschland zu Hause. Warum? Weil die Beziehung zwischen Juden und Deutschen ein großartiger Beweis für Freundschaft, für Menschlichkeit ist. Zeigen Sie mir eine andere Gesellschaft, in der das so funktioniert.
1984 spielten Sie in Peter Zadeks Inszenierung von Sobols „Ghetto“ einen jüdischen Musiker und trugen den Davidstern. Wie haben Sie das erlebt?
Das war der Schock meines Lebens. Auf der Bühne stand dieser SS-Mann, die Juden waren im Konzentrationslager. Die Deutschen brachten den Holocaust auf die Bühne! Dass sie den Mut hatten, offen zu zeigen: „Seht, wozu wir fähig waren“ – das ist unglaublich. Eine an- dere Gesellschaft würde das nie machen. Ich habe bis heute großen Respekt davor. Manche Leute kritisieren mich und sagen: „Du kannst nicht in Deutschland spielen.“ Aber das Kind eines Verbrechers ist kein Verbrecher.
Die Nachkriegsgenerationen tragen keine Schuld, aber als Deutsche haben wir doch eine Verantwortung, oder?
Wenn ein Baby auf die Welt kommt, kann man doch nicht sagen: „Du bist ein Deutscher, also bist du ein Verbrecher.“ Juden und Deutsche – wir sind eine Fa- milie. Ich bin in Deutschland, weil ich ein Mitglied dieser Familie sein möchte. Ich bin nicht der einzige Jude hier. Allein in Berlin gibt es Tausende. Es geht ihnen gut. Das ist der Grund, warum ich mich entschieden habe, nach Deutschland zu kommen und hier zu spielen. Die Deutschen, die vor 70, 75 Jahren geboren wurden, haben mit dem Holocaust nichts zu tun.
Haben Sie selbst schon Ablehnung als Jude erfahren?
Nein. Wo denn? Heute Morgen habe ich eine Einladung nach Dubai bekommen. Das ist fantastisch. Ich gehe in ein arabisches Land und spiele dort. Für mich ist es das beste Geschenk, das Gott mir gemacht hat.
Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Gott hat mir diese Aufgabe gegeben. Gott benutzt mich, um den Menschen seine Botschaft der Liebe zu bringen. Jeder Mensch kommt auf diesen Planeten, weil Gott ihn braucht.
In Deutschland wächst der Antisemitismus, Israels neue Regierung ist rechtsextrem. Entmutigt Sie das?
Das in Israel ist Rassismus, nicht Antisemitismus. Es ist das Ergebnis von Erziehung. Denn wir werden nicht als rassistische Menschen geboren. Wir sind verantwortlich für unsere Kinder und Enkelkinder. Bildung beginnt zu Hause, in der Familie. Nicht erst, wenn sie in die Schule gehen. Ich lebe seit Jahrzehnten in Israel. Die Kinder dort gehen mit den Arabern in die Schule und an die Universität. Ich habe viele Freunde, die denken, die Araber wollten Krieg. Aber sie lieben Israel.
Sie haben 18 Jahre bei den israelischen Philharmonikern gespielt. Warum dann auf einmal Klezmer?
Klezmer ist meine zweite Natur. Ich gehöre zur vierten Generation von Musikern in meiner Familie. Ich habe das Gefühl, Gott hat gesagt: „Ich brauche den Klezmer.“ Klezmer ist übrigens die englische Bezeichnung. Im Hebräischen gibt es dafür zwei Worte, die etwa so viel bedeuten wie: ein Instrument für Gesang. Unser Körper ist das Instrument. Wir sind Klezmer. Ich denke, das kommt von der Thora. Die Thora ist so geschrieben, dass man sie singen muss. Im Judentum kann man kein Gebet sprechen, man singt es.
Ihr erster Klezmer-Lehrmeister war Ihr Vater. Was haben Sie von ihm gelernt?
Ich habe schon als Junge mit meinem Vater auf Hochzeiten gespielt. Das war der wichtigste Universitätscampus meines Lebens, wertvoller als die Musikakademie. Ich hatte die Klarinette von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens am Mund. Mein Vater hat seine Energie auf mich übertragen. Und er hat mir eines beigebracht: Du bist ein Diener der Gesellschaft. Ob sie den Takt vorgeben, den Saal putzen oder die Eintrittskarte bezahlen: Alle haben denselben Wert wie du. Das habe ich verstanden und mein Leben lang beherzigt.
Interview: Beatrix Gramlich
Foto: imago/Uwe Steinert
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