Foto: Anton Vergun/TASS/picture alliance |
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Erziehung zum Narzissmus?
Ich auf der Kaffeetasse, ich auf dem T-Shirt, ich auf Tausenden von Fotos in den sozialen Medien: Die Selbstbespiegelung kennt keine Grenzen. Sie macht nicht einmal mehr vor den Kinderzimmern Halt. Der „neueste Schrei“ dort sind personalisierte Bücher, Puzzles und Memorys. Die eigenen Kinder und Enkel tummeln sich nun als Helden neben Pippi Langstrumpf, Conni oder Leo Lausebär, teilen deren Abenteuer und Alltag. Das so wichtige „identifikatorische Lesen“, bei dem sich Kinder in eine Figur hineinversetzen, wird dadurch unmöglich. Man beraubt die Kleinsten damit der Chance, Fantasie zu entwickeln, in andere Welten und Situationen einzutauchen. Wer vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, verliert die Mitmenschen aus dem Blick, lernt nicht, sich mit verschiedenen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen, Mitgefühl zu entwickeln. Die narzisstische Selbstbespiegelung braucht den anderen nur als Bewunderer oder Ich-Verstärker. Mag sein, dass die Jüngsten durch den Ich-Hype auf die permanente Selbstinszenierung vorbereitet werden, die in unserer Gesellschaft ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Für die Krisen und Herausforderungen der Gegenwart ist man damit nicht gewappnet. Es lohnt ein Blick auf die südafrikanische Lebensphilosophie „Ubuntu“. Sie besagt, dass jeder Teil eines größeren Ganzen ist und schreibt Gemeinsinn groß. „Ich bin, weil du bist“: Sich darauf zu besinnen, ist nötiger denn je.
Von Eva-Maria Werner
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