Fo­to: is­tock­pho­to.com

Wie viel ist ge­nug?

Je­der Deut­sche kauft im Jahr rund 60 Klei­dungs­stü­cke. Reißt ei­ne Naht oder fällt ein Knopf ab, grei­fen nur noch we­ni­ge zu Na­del und Fa­den. In vie­len Fäl­len lan­det schad­haf­te Klei­dung ein­fach im Müll. Vor 100 Jah­ren ver­füg­te ein durch­schnitt­li­cher Haus­halt über 180 Ge­gen­stän­de. Heu­te hor­tet laut Sta­tis­ti­schem Bun­de­s­amt je­der Bun­des­bür­ger rund
10000 Sa­chen in sei­nen vier Wän­den. Die meis­ten da­von wer­den sel­ten oder nie ge­nutzt.

Was ist zu­viel?
„Sie kön­nen jetzt ge­hen“ nann­te „Die Zeit“ ei­ne Ru­brik, in der sich Schrift­s­tel­ler Mi­cha­el Rutsch­ky zwei Jahr­gän­ge lang von Din­gen aus sei­ner Woh­nung ver­ab­schie­de­te. Akri­bisch durch­kämm­te der Au­tor sei­nen Haus­rat und sor­tier­te all­wöchent­lich aus, was ihm ent­behr­lich schi­en. Wie er emp­fin­den es vie­le Men­schen als be­f­rei­end, sich über­flüs­si­ger Din­ge zu ent­le­di­gen. Denn zu­neh­men­der Be­sitz führt nicht zwangs­läu­fig zu mehr Zu­frie­den­heit.
Ge­nau das aber ist es, was Wer­bung und Un­ter­neh­men uns un­abläs­sig sug­ge­rie­ren. Seit den 1950er-Jah­ren sind in Deut­sch­land al­le Ge­ne­ra­tio­nen mit der Ideo­lo­gie des gren­zen­lo­sen Wachs­tums groß ge­wor­den – vor des­sen Gren­zen die Wis­sen­schaft­ler des „Club of Ro­me“ schon 1972 ein­dring­lich warn­ten. Wachs­tum, kri­ti­siert der So­zial­psy­cho­lo­ge Ha­rald Wel­zer in sei­nem Buch „Selbst den­ken“, gel­te „als po­li­ti­sches und wirt­schaft­li­ches All­heil­mit­tel“ – ei­ne Wun­der­waf­fe „ge­gen welt­wei­te Ar­mut, na­tio­na­le Ar­beits­lo­sig­keit, re­gio­na­le Struk­tur­schwäche“, die Wohl­stand für al­le ga­ran­tie­ren soll. Wäh­rend Na­tur­ver­brauch und Um­welt­ver­sch­mut­zung in die­sem Wirt­schafts­sys­tem we­nig zäh­len, wird der Ein­zel­ne um­so wich­ti­ger: als Kon­su­ment, der wie ein Hams­ter im Rad der Be­frie­di­gung von Be­dürf­nis­sen hin­ter­her­jagt, die ei­ne gi­gan­ti­sche Mar­ke­ting­in­du­s­trie über­haupt erst in ihm weckt. „Die­se Wirt­schaft tö­tet“, ur­teil­te Papst Fran­zis­kus in sei­nem ers­ten Apo­s­to­li­schen Lehr­sch­rei­ben „Evan­ge­lii Gau­di­um“: „Der Mensch wird wie ein Kon­s­um­gut be­trach­tet, das man ge­brau­chen und dann weg­wer­fen kann.“

Was braucht der Mensch?
Wür­de die Welt­wirt­schaft wach­sen wie bis­her, wä­re sie im Jahr 2100 80-mal so groß wie 1960 – und un­ser glo­ba­les Öko­sys­tem längst kol­la­biert. Schon jetzt er­rei­chen wir den Er­d­über­las­tungs­tag im­mer früh­er – den Tag, an dem welt­weit al­le Res­sour­cen ver­braucht sind, die die Er­de inn­er­halb ei­nes Jah­res re­ge­ne­rie­ren kann. 1970 lag er am 29. De­zem­ber, 2019 be­reits am 29. Ju­li. Deut­sch­land leb­te schon ab dem 3. Mai über sei­ne Ver­hält­nis­se.
Sol­che Fak­ten sch­rei­en förm­lich nach ei­nem ra­di­ka­len Um­den­ken – weg vom im­mer mehr, im­mer neu, im­mer wei­ter – vor al­lem aber vom läh­men­den „Wei­ter so!“, das Men­schen in den Län­dern des Sü­d­ens zu­neh­mend die Le­bens­grund­la­ge raubt. Seit 1994 beim UN-Gip­fel in Rio die Welt­k­li­ma­kon­ven­ti­on ver­ab­schie­det wur­de, ist viel zu we­nig pas­siert. Der glo­ba­le Aus­stoß von Koh­len­di­oxid hat sich um zwei Drit­tel er­höht und steigt im­mer noch. Schon bei der Er­zeu­gung von ei­nem ein­zi­gen Ki­lo Fleisch ent­ste­hen bis zu 30 Ki­lo­gramm CO2. Für die Her­stel­lung ei­nes Bil­lig-T-Shirts wer­den 2500 Li­ter Was­ser be­nö­t­igt. Und auch das als Zu­kunfts­mo­dell ge­fei­er­te Elek­tro­au­to re­du­ziert den Ver­kehr nicht, ver­braucht aber wie al­les Neue Res­sour­cen – nicht nur Kunst­stoff und Me­tall für die Ka­ros­se­rie, son­dern auch Ko­balt und Li­thi­um für die Ak­kus. Der Ab­bau die­ser Me­tal­le führt in Bo­li­vi­en und im Kon­go schon jetzt zu un­vor­s­tell­ba­rer Aus­beu­tung von Mensch und Na­tur. Nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung sieht an­ders aus. Sie sei, so Uwe Schnei­de­wind, Prä­si­dent des Wup­per­ta­ler In­sti­tuts für Kli­ma, Um­welt, En­er­gie, im Ge­spräch mit dem „Kli­ma­re­por­ter“, „im Kern ein hu­mani­tä­res Pro­jekt: die Idee ei­nes wür­de­vol­len Le­bens für al­le Men­schen“. Da­für ge­nü­ge es nicht, un­se­re bis­he­ri­ge Wirt­schafts­form ef­fi­zi­en­ter zu ma­chen. „Wir müs­sen über neue Wohl­stands­mo­del­le re­den, die Le­bens­qua­li­tät von rein ma­te­ri­el­lem Wachs­tum tren­nen.“

Wie geht es an­ders?
Vie­le Men­schen sind be­reit, ih­ren Le­bens­s­til zu­guns­ten von Um­welt und welt­wei­ter Ge­rech­tig­keit zu än­dern. Ob der Ein­kauf von re­gio­na­len Le­bens­mit­teln, Klei­dung aus dem Se­cond­hand-La­den oder So­lar­zel­len auf dem Dach: Es gibt vie­le Mög­lich­kei­ten, Res­sour­cen zu scho­nen. Chris­ti­ne und Mi­cha­el Mu­ser aus Aa­chen und ih­re drei Kin­der ver­zich­ten seit acht­ein­halb Jah­ren auf ein ei­ge­nes Au­to. Den Aus­schlag gab da­mals ei­ne teu­re Re­pa­ra­tur, die für ih­ren al­ten Wa­gen an­stand. Schon vor­her hat­ten die Mu­sers ver­sucht, um­welt­be­wusst zu le­ben und vie­le We­ge mit dem Fahr­rad zu­rück­ge­legt. Dann be­sch­los­sen sie, im All­tag noch mehr in die Pe­da­le zu tre­ten, mel­de­ten sich für al­le Fäl­le aber beim Car-sha­ring an. „Wir ha­ben über­legt, für wel­che Ent­fer­nun­gen man ei­gent­lich ei­nen Wa­gen brauch­t“, sagt Chris­ti­ne Mu­ser. „Un­se­re Emp­fin­dung war: Au­to hat viel mit Be­qu­em­lich­keit zu tun.“ Wäh­rend die ei­nen bei sch­lech­tem Wet­ter den Mo­tor an­wer­fen, schlüp­fen die Mu­sers in ih­re Re­gen­k­lei­dung. Sie sind sel­ten krank, spa­ren Kos­ten und ha­ben ih­ren Ent­schluss bis heu­te nicht be­reut. „Es fühlt sich wie ein Stück Frei­heit an“, meint Chris­ti­ne Mu­ser. „Ich muss nicht mehr über­le­gen: Neh­me ich das Au­to oder das Rad?“ Be­vor sie ei­nen Cars­ha­ring-Wa­gen bucht, über­legt sie ge­nau, ob die ge­plan­te Ein­kaufs­fahrt wir­k­lich nö­t­ig ist. „Oft ent­schei­de ich mich da­ge­gen. Man be­sinnt sich aufs We­sent­li­che.“
Klar ist für die 45-Jäh­ri­ge aber auch: Wür­de ih­re Fa­mi­lie nicht zen­tral woh­nen und hät­te sie kei­nen gu­ten An­schluss an Bus­se und Bahn – ih­re Ent­schei­dung wä­re wo­mög­lich an­ders aus­ge­fal­len. Für ei­ne ech­te Ver­kehrs­wen­de brau­chen wir kei­ne Elek­tro­au­tos, son­dern ein neu­es Mo­bi­li­täts­kon­zept – mit ei­nem preis­wer­ten, gut ge­tak­te­ten öf­f­ent­li­chen Nah­ver­kehr und der Op­ti­on, in­di­vi­du­el­le Wei­ter­fahr­ten per Rad, Rol­ler oder Wa­gen zu bu­chen. Auf Au­tos, die 23 Stun­den am Tag un­ge­nutzt her­um­ste­hen und – wenn sie denn fah­ren – häu­fig nur ei­ne Per­son be­för­dern, kön­nen wir ge­trost ver­zich­ten. Ei­ne an­de­re Mo­bi­li­tät wür­de das Kli­ma schüt­zen, Staus re­du­zie­ren und un­se­re Städ­te le­bens­wer­ter ma­chen: Wir wür­den we­ni­ger Park­raum be­nö­t­i­gen und statt­des­sen Flächen für Parks, ur­ba­ne Gär­ten oder Be­geg­nungs­zen­t­ren ge­win­nen, in de­nen Men­schen ver­wei­len kön­nen, oh­ne kon­su­mie­ren zu müs­sen. Das Geld, das der Staat im Stra­ßen­bau spart, könn­te dem Ge­mein­wohl zu­gu­te kom­men – in Form von kos­ten­lo­sen Sport­an­ge­bo­ten oder frei­em Ein­tritt in Zoos, Thea­ter, Mu­se­en.

Was ge­win­nen wir?
Ver­zicht, der sch­nell nach sau­er­töp­fi­scher Selbst­ka­s­tei­ung klingt, kann auch Ge­winn be­deu­ten. Wer sei­ne Be­dürf­nis­se nicht vom Markt dik­tie­ren lässt, sich dem Zwang zum stän­di­gen Kon­sum ent­zieht und nicht je­de Mo­de mit­macht, ge­winnt viel: Zeit, ei­ne Res­sour­ce, die je­den Tag neu rund um die Uhr zur Ver­fü­gung steht und an­ge­sichts der An­sprüche, die wir mei­nen, er­fül­len zu müs­sen, trotz­dem im­mer knap­per zu wer­den scheint. Das gu­te Ge­fühl, Sinn­vol­les zu tun. Selbst­ge­wiss­heit, die sich dem Druck ent­zieht, im­mer mehr be­sit­zen oder im­mer öf­ter und wei­ter rei­sen zu müs­sen, um sei­nen so­zia­len Sta­tus zu wah­ren. Frei­raum für all die vie­len Din­ge, die nichts mit Kon­sum zu tun ha­ben, aber er­fül­lend sind: Sport, Gärt­nern, Mu­si­zie­ren, Freun­de tref­fen, Zeit und Er­leb­nis­se mit­ein­an­der tei­len.
Wir ha­ben die Frei­heit „Nein“ zu sa­gen und uns den Blick nicht ver­s­tel­len zu las­sen, von all den Din­gen, die man an­geb­lich ha­ben muss. Ver­zicht kann die Au­gen öff­nen: für an­de­re, für den Him­mel über uns und den Grund, der uns trägt.

Von Bea­trix Gram­lich

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