Die Urwald-HebammenIm kolumbianischen Regenwald sind Schwangere auf sich allein gestellt. Medizinische Hilfe ist meist weder bezahl- noch
erreichbar. Frauen, die ein Kind erwarten, können dennoch auf Hilfe hoffen: Denn in der Provinz Chocó fahren Hebammen regelmäßig mit dem Boot von Dorf zu Dorf, um Schwangere zu versorgen. |
Text und Fotos: Andrzej Rybak
Morgennebel liegt noch über dem schlammbraunen Wasser des Rio Quito, doch im Haus von Marciana Palacios Rodriguez duftet es bereits nach Kaffee. Die 67-jährige Afrokolumbianerin wirbelt in der halbdunklen Küche herum, kocht Süßkartoffeln und Maniok, die sie mit Rührei und Käse vermischt. „Ein herzhaftes Frühstück vor der Reise“, sagt die Frau, Ururenkelin afrikanischer Sklaven wie so viele in diesem Teil Kolumbiens. Sie füllt schnell fünf Teller, um auch ihre Begleiterinnen zu bewirten. „Im Urwald lauern viele Gefahren, wilde Tiere, giftige Insekten, Drogenschmuggler – da hat man besser einen vollen Magen.“
Die Zeit drängt: Unten im Hafen des 1500-Einwohner-Dorfs Villa Conto wartet bereits Rodrigo mit seiner acht Meter langen Pirogge auf die Frauen. Marciana, Casimira, Espiritu Santo, Celeste und Yoleidys haben Plastikstühle mitgebracht, die sie ins Boot stellen – sie sind viel bequemer als die Holzbänke. Beobachtet von ein paar Neugierigen, verstauen sie ihr Gepäck im Bug unter einer Plastikplane. Dann geht es los.
Marciana, die von allen nur Marcia genannt wird, und ihre vier Begleiterinnen sind Urwald-Hebammen. Immer wieder fahren sie in abgelegene Dörfer in den Dschungel, um schwangere Frauen zu untersuchen oder ihnen bei der Entbindung zu helfen. In der Provinz Chocó im Nordwesten Kolumbiens ist ärztliche Versorgung außerhalb der Kreishauptstadt Quibdó kaum vorhanden. Die Frauen bringen ihre Kinder zu Hause zur Welt, es gibt nur wenige Krankenhäuser und fast keine Straßen. Der Verkehr spielt sich auf den Flüssen ab. Ohne die Urwald-Hebammen wären sie in der Schwangerschaft auf sich allein gestellt.
Stethoskop-Ersatz: Espiritu Santo horcht mit einem Plastikrohr den Herzschlag von Floripes Baby ab.
Ohne moderne Hilfsmittel
„Das war hier schon immer so, seit Menschengedenken“, sagt Marcia. „Noch bevor die schwarzen Sklaven im 18. Jahrhundert nach Chocó kamen, gab es in jedem indigenen Dorf Hebammen, die ihr Wissen an die Töchter und Enkelin- nen weitergegeben haben.“
Sie selbst war 22, als sie zum ersten Mal einem Kind auf die Welt half. Damals hatte sie große Angst, doch als sie das neugeborene Kind in ihren Armen hielt, verspürte sie ein Gefühl von Erfüllung und Glück: „Von da an wusste ich – Geburtshilfe ist mein Schicksal.“
Seitdem hat Marcia bei 649 Geburten assistiert, elf Zwillingspaare waren dabei. Sie ist eine der erfahrensten Hebammen im Regenwald und genießt einen großen Respekt unter ihren Kolleginnen. „Ich habe vielen Leuten auf die Welt geholfen, drei von ihnen sind heute Anwälte, zwei Lehrer, und eine arbeitet als Psychologin“, rechnet die Hebamme vor. Manche, bei deren Geburt sie assistiert hat, nennen sie bis heute Mama Marcia. Sie hat aber auch traurige Momente erlebt: Drei Kinder kamen tot zur Welt. „Das war jedes Mal eine Tragödie – für mich genauso wie für die Mütter“, sagt sie leise.
Die Urwald-Hebammen haben keine offizielle Ausbildung, manche sind auch nie zur Schule gegangen. Moderne medizinische Hilfsmittel wie Blutdruck-Messgerät oder Stethoskop sind im Dschungel kaum bekannt. Heute gehen Nachwuchs-Hebammen bei erfahrenen Hebammen in eine informelle Lehre. Sie müssen fünf Geburten begleiten und ein Jahr lang Schwangere betreuen, bevor sie sich Hebamme nennen dürfen – so lautet das ungeschriebene Gesetz.
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