Der lange Schatten des KriegesDer Vietnamkrieg ist seit 44 Jahren vorbei. Doch noch immer werden Menschen mit Behinderungen geboren,die auf den Einsatz des Entlaubungsmittels „Agent Orange“ zurückgehen. Sie leben versteckt in bitterer Armut. Schwester Thi Anh Tran versucht, sie aus dem Dunkel zu holen. |
Foto: Fritz Stark
Text: Eva-Maria Werner
Wie lange ist es her, dass Thi Hien Nguyen zum letzten Mal die Sonne auf den Stufen vor ihrem Elternhaus genossen hat? Niemand weiß es. Sie selbst kann nicht sprechen, und ihre Mutter zuckt mit den Schultern – sie ist völlig erschöpft. Ihr fehlt die Kraft, ihre Tochter nach draußen zu tragen, denn gehen kann die junge Frau nicht. Und einen Rollstuhl kann sich die Familie nicht leisten. In einem mit rosa Fliesen ausgelegten Raum fristet Thi Hien ein trostloses Dasein. Am Abend legt ihr die Mutter zum Schlafen eine dünne Matratze auf den Boden. Während des Tages, wenn sie arbeitet, schließt sie die 26-Jährige in einen Käfig ein, damit sie nicht davonkrabbeln kann. Gerade steht Thi Hien mit bloßen Füßen auf den dünnen Holzpaletten ihres Käfigs, ihre Arme nach vorn über die Gitter-stäbe gehängt. So kann sie sich wenige Minuten aufrecht halten. Dann gibt ihr Körper nach, sie rutscht langsam zurück und plumpst mit einem leisen Stöhnen auf den Boden.
Zusammengekrümmt bleibt sie liegen und wimmert wie ein Baby. Mit einer Hand greift sie nach einem Gitterstab, umschließt ihn, ihre Augen scheinen etwas zu suchen, flehend, traurig. Doch es gibt nichts, woran sie sich erfreuen könnte. Von der Decke hängt ein alter Ventilator, die Wände haben im Laufe der Zeit eine schmutzig braun-graue Farbe angenommen. In dem Raum gibt es weder eine bequeme Sitzmöglichkeit noch Spielzeug noch die Möglichkeit, nach draußen in den Hof zu schauen. Als Besucher ist man fassungslos. Was sind das für Eltern, die ihre Tochter wie ein Tier halten?
Schwester Thi Anh Tran urteilt nicht. Sie erinnert daran, dass die Eltern von Thi Hien mit ihrem Schicksal allein gelassen werden – seit Jahrzehnten. Sie müssen arbeiten, um zu überleben und sich um ihre drei Kinder kümmern, von denen zwei – die ältere und die jüngere Tochter – mit schweren Behinderungen leben. Nur der Sohn ist gesund.
Tickende Zeitbombe
Die Töchter leiden unter den Spätfolgen von Agent Orange, ein dioxinhaltiges Entlaubungsmittel, das die Amerikaner während des Vietnamkrieges versprühten (siehe Kasten S. 15). Damit zerstörten sie nicht nur zwei Millionen Hektar Regenwald und zwei Drittel der wertvollen Mangrovenwälder des Landes. Sie vernichteten auch Felder und ließen ein Gift im Boden zurück, das bis heute wirkt. Die Menschen damals waren ahnungslos. „Man hatte uns gesagt, es sei ein Mittel gegen Moskitos“, erzählt der Kriegsveteran Chuck Palazzo im Buch „Krieg ohne Ende“. Er machte sich keine Gedanken, als die Schwaden aus den Flugzeugen ganze Dörfer einnebelten.
Noch immer nehmen Menschen über die Nahrung oder das Wasser Dioxin auf, das sich im Körper anreichert und zu schlimmen Erkrankungen führen kann – beim Betroffenen selbst oder dessen Nachkommen: Krebs, Stoffwechselstörungen, Diabetes, Missbildungen und Hautekzeme sind nur ein paar der mehr als 100 Krankheiten, die in Vietnam vermehrt auftreten und in Verbindung mit Agent Orange gebracht werden. Thi Hien Nguyen und ihre zwölfjährige Schwester Mai Anh Nguyen Thi waren zur Zeit des Krieges noch nicht auf der Welt. Ihr Vater aber arbeitete als Soldat an der Grenze zu Laos: ein Gebiet, das besonders stark vom giftigen Sprühnebel betroffen war.
Als er nach drei Jahren Feldeinsatz in sein Heimatdorf Tu Chau im Norden Vietnams zurückkehrte, ahnte er nicht, dass er eine tickende Zeitbombe in sich trug. Er und seine Frau gründeten eine Familie. Thi Hien wurde geboren, ein fröhliches Baby. „Zunächst war alles ganz normal“, erzählt die Mutter. „Doch bald merkte ich, dass mit unserer Tochter etwas nicht stimmt. Sie hatte Schwierigkeiten, zu sitzen und sprechen zu lernen. Und ihre Beine entwickelten sich nicht richtig.“ Das geschädigte Erbgut des Vaters, dem man die Belastung durch Dioxin äußerlich nicht ansieht, ist der Grund für die Behinderung der Tochter. Die Vermutung wurde für die Familie zur Gewissheit, als auch die jüngere Tochter ähnliche Symptome zeigte. Mai Anh ist etwas mobiler als ihre Schwester. Sie läuft gerne, aber auch sie schafft es nicht alleine. Schwester Thi Anh greift ihr unter die Arme, sodass sich das Mädchen gestützt vorwärts schieben kann. Über den ganzen Hof, bis zur Mauer des Nachbargrundstücks. „Eh, eh“, mit Lauten und einem Ziehen ermuntert sie Schwester Thi Anh, umzudrehen und mit ihr zum Haus zurückzulaufen.
Die beiden haben sich gut aneinander gewöhnt: Mai Anh lebt seit einiger Zeit in einem Vorort von Hanoi, nur hin und wieder besucht sie ihre Eltern. In der Hauptstadt hat die 39-jährige Thi Anh ein Heim für Behinderte eröffnet. Momentan pflegen dort sechs Schwestern der „Amantes de la Croix de Hanoi“, einem diözesanen Orden, 16 Menschen, darunter zwei Agent-Orange-Opfer. „Ich weiß, dass der Bedarf nach Pflege riesig ist“, sagt Thi Anh, „deshalb möchte ich in Zukunft noch mehr Menschen aufnehmen“. Ihr fehlen dafür aber Personal und finanzielle Mittel. Das Heim lebt von Spenden, Geldern des Ordens und von einer kleinen Hilfe des Staates. Heime für behinderte Menschen gibt es in Vietnam fast keine. Die wenigen, die existieren, wie das unter Mithilfe amerikanischer Kriegsveteranen aufgebaute „Dorf der Freundschaft“, in dem Agent-Orange-Opfer behandelt werden, sind privat oder gefördert von religiösen Gemeinschaften.
Wenige erhalten Hilfe
Nur wenige Geschädigte erhalten finanzielle Hilfe vom vietnamesischen Staat: Von den geschätzten drei bis vier Millionen Opfern beziehen bislang nur 236 000 maximal zwei Millionen Dong (umgerechnet 80 Euro) pro Monat – vor allem diejenigen, die nachweislich für den Sturz des Regimes in Südvietnam kämpften. Der amerikanische Staat zahlt nichts für die vietnamesischen Opfer. Eine Sammelklage der Vietnamesischen Vereinigung der Opfer in New York wurde 2005 abgewiesen mit der Begründung, ein direkter Zusammenhang zwischen Agent Orange und den Erkrankungen könne nicht nachgewiesen werden. Und: Der Einsatz von Agent Orange sei nicht mit der Absicht geschehen, Menschen zu vergiften. Während die Vereinigten Staaten bisher 4,5 Milliarden an US-Veteranen für „gesundheitliche Beeinträchtigungen“ gezahlt haben, lehnen sie nach wie vor jede Verantwortung für vietnamesische Opfer ab. Und auch ein Fonds in Höhe von 180 Millionen US-Dollar, den die Herstellerfirmen von Agent Orange eingerichtet haben, kommt ausschließlich US-Veteranen zugute.
Die Eltern von Mai Anh sind Reisbauern. Sie wirken erleichtert, dass wenigstens eine ihrer Töchter nun gut versorgt ist. Der Vater arbeitet zusätzlich im Rathaus, die Mutter stapelt Kartons in Lastwagen. In der Mittagspause schaut sie zu Hause vorbei, gibt Thi Hien etwas zu essen und macht sie frisch. Manchmal sitzt die junge Frau dann schon seit Stunden in ihrem Kot. Windeln kann sich die Familie nicht leisten. Im Heim von Thi Anh ist die Einrichtung auch sehr einfach, aber alles ist blitzsauber. Die Krankenschwester hat ihre Ausbildung im französischen Rouen absolviert. „Hygiene war dort ein großes Thema“, sagt sie, während sie von Zimmer zu Zimmer geht und nach den Bewohnern schaut. Alle Türen stehen offen, Vorhänge flattern im Wind und sind ein guter Sichtschutz. Manche Patienten sitzen im Rollstuhl und entwirren Fäden von Plastikröllchen. „Beschäftigungstherapie“, erklärt Thi Anh. Eine Firma bringt die Rollen und holt sie wieder ab, um die Fäden weiterzuverarbeiten. Im Aufenthaltsraum des Heimes gibt es zwei Malbücher, ein paar Buntstifte und Plastikspielzeug für Kleinkinder zum Ineinanderstecken.
Versteckte ans Licht holen
Hin und wieder ermuntert Thi Anh die Bewohner zu einem Spaziergang. „Ich finde es wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft sichtbar werden. Bisher leben sie versteckt. Ich wünsche mir, dass es irgendwann ganz normal ist, das behinderte Kind mit in die Kirche oder zum Einkaufen zu nehmen“, sagt sie und weiß darum, dass es Jahre dauern wird, Mentalitäten zu ändern. „Wenn ein behinderter Mensch im Gottesdienst einmal laut wird, schauen alle komisch“, sagt die Ordensfrau.
Thi Lan Hoang freut sich, als Schwester Thi Anh ihr Zimmer betritt. Die 45-Jährige wurde lange Zeit von ihrer alten Mutter gepflegt. Bis diese nicht mehr konnte. Thi Lan sitzt in einem improvisierten Rollstuhl: ein einfaches Eisengestell mit hölzerner Sitzfläche und breitem Gummiband, das ihr ein wenig Stabilität gibt. Setzt Thi Anh das Gefährt in Gang, schiebt es sich auf den kleinen schwarzen Rollen eigenwillig nach rechts. Kurzerhand kippt die Ordensfrau den Stuhl nach hinten, Thi Lan lacht und hält sich fest, während Thi Anh sie auf den beiden Rückrollen flink nach vorne schiebt – in ein Behandlungszimmer. Mit einer Mitschwester hievt Thi Anh die Patientin auf eine Liege und schließt das Akkupunkturgerät an. 15 Minuten dauert die Behandlung. Dann nimmt sie den Kopf der Frau sanft in ihre Hand und beginnt mit einer Massage. Zärtlich drückt sie auf den Punkt zwischen den Augenbrauen, streicht diese entlang und massiert die Schläfen. Thi Lan blickt der Schwester in die Augen und entspannt ihre Muskeln.
Thi Anh ist es wichtig, die Bewohner ihres Heims nicht nur satt und sauber zu halten, sondern ihnen mit Medikamenten und natürlichen Methoden wie Akkupunktur und Massage Wohlbefinden zu verschaffen. Stolz ist sie auf den großen Nutzgarten des Heimes. Dort wachsen nicht nur Salat und Gemüse, sondern auch viele Heilpflanzen. „Diese hier zum Beispiel wirkt wie Antibiotika“, sagt Thi Anh und zeigt auf ein einheimisches Gewächs. „Es ist bitter, wird wie Gemüse zubereitet und entgiftet.“ Neben klassischen Medikamenten helfen der Ordensfrau die vielfältigen Pflanzen und ihre Verwendung als Tee, Salbe oder Nahrungsmittel bei der Behandlung der Patienten.
„Was ihr dem Geringsten tut“
Die Ordensfrauen kümmern sich auch um Agent-Orange-Opfer in der Nachbarschaft. Schwester Marie Binh macht einen Hausbesuch bei Minh Long Ngu-yen. Der ältere Herr kauert auf einem niedrigen Holzstühlchen im Hof. Er hat sich so platziert, dass er durch einen Türspalt das Treiben auf der Straße beobachten kann. LKW, Radfahrer mit Gemüse auf dem Gepäckträger und die Bahn, die vorbeirauscht, lassen ihn ein wenig am Leben draußen teilnehmen. Sein Rücken ist verkrümmt, sein Kopf zur Seite geneigt. Er schaut neugierig, wer zu Besuch kommt. Der 64-Jährige lebt im ehemaligen Haus seiner Großeltern, das Van Hung, der Sohn seiner Nachbarin, gekauft hat. Van Hung hat mit dem Haus auch die Pflege von Minh Long übernommen – seit nunmehr 19 Jahren.
Warum kümmert er sich? „Ich sehe in Minh Jesus, der mich braucht. Ich bin gerne für ihn da. Minh ist ein freundlicher Mann. Er lebt einfach mit uns. Ich betreibe ein Catering-Unternehmen und koche jeden Tag für viele Menschen. Da kommt es auf einen mehr nicht an“, sagt Van Hung und kniet sich zu Minh. Die beiden verstehen sich ohne Worte. Hat Minh Hunger, streicht er sich über den Bauch oder schlägt mit einem Blechlöffel gegen seine Essensschale.
Minh Long Nguyen hat Glück im Unglück. Die meisten Agent-Orange-Opfer werden nicht so liebevoll umsorgt. Nach wie vor warten sie auf Entschädigung. Seit dem vergangenen Jahr gibt es eine erneute Klage gegen die USA. Ob diesmal im Sinne der Opfer entschieden wird? Die Eltern von Mai Anh und Thi Hien hoffen weiter.
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