Hungrige speisen, Gebeugte aufrichtenDie Türen des Petershofs in Duisburg-Marxloh stehen allen offen. Ordensleute und viele Ehrenamtliche arbeiten dort mit und für Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen – Obdachlose, Geflüchtete, sozial Benachteiligte.
Hier heißt es nicht: „Wo kommst du her?“, sondern: „Schön, dass du da bist!“ |
Text: Eva-Maria Werner
Foto: Bente Stachowske
Pater Oliver Potschien, 52, öffnet die Tür zum Schlafcontainer, der auf dem Gelände der Kirche St. Peter in Duisburg-Marxloh steht: „Willkommen in Deutschland im 21. Jahrhundert!“ Der Prämonstratenserpater ist kein Mann vieler Worte. Er lässt die Situation lieber für sich sprechen, da erübrigt sich jeder weitere Kommentar: In einem niedrigen Raum stehen 16 Betten, die Bewohner bewahren ihre Kleidung und wenigen Habseligkeiten in Plastiktüten zusammengeschnürt auf. Die Luft ist verbraucht. In einem Bett liegt jemand und zittert stark. Es ist elf Uhr vormittags. „Olaf, Sascha, aufstehen! Was ist los?“ Gemurmel unter einer roten Decke. Der Angesprochene hat sich das Laken über den Kopf gezogen. „Na, was ist?“, schiebt Pater Oliver nach und tritt noch einen Schritt näher an das Hochbett. „Nicht viel“, sagt der Mann schließlich leise. Pater Oliver lässt ihn in Ruhe und wendet sich einem anderen zu.
Am frühen Abend, im Keller des sozialpastoralen Zentrums Petershof: Acht Teenager trainieren mit Ömer Aksakal. Von der weißgetünchten Decke hängen schwarze Boxsäcke. Die Räume sind klein, schon nach wenigen Minuten kommen die Jungs ins Schwitzen. Konzentriert führen sie die Kommandos des Trainers aus: „Liegestütze, Drehung, links, rechts, Uppercut, nochmal!“ Zwischendurch fragt Aksakal einen Sportler: „Fastest du? Dann mach langsamer.“ Es ist Ramadan, und die meisten der Sportler sind Muslime. Sie haben türkische, arabische, bulgarische und rumänische Wurzeln. Alle kommen aus Duisburg- Marxloh, einem Stadtteil, von dem es in offiziellen Schreiben der Stadt beschönigend heißt, es gäbe dort „besonderen Erneuerungsbedarf“.
Kämpfen wie Henry Maske
Warum die Jugendlichen zum Boxen in den Petershof kommen? „Weil’s Spaß macht. Man wird sicherer dadurch“, sagt einer der Schüler. Und ein anderer: „Wir wollen nicht hobbylos den ganzen Tag rumhängen.“ Beim Training verbessern die Jungs ihre Fähigkeiten, sie lernen Techniken und ein faires Spiel kennen, ohne den Partner zu verletzen. Diejenigen, die gerade Pause haben, weisen stolz auf Zeitungsausschnitte hin, die jemand an die Wand geklebt hat: Die Profiboxer Henry Maske und Eduard Schwabe waren auch schon hier!
Etwas 1000 Menschen kommen jede Woche zum Petershof: Obdachlose, Jugendliche aus dem Viertel, junge Mütter, Geflüchtete, Straffällige, ältere Menschen, die Deutsch lernen wollen oder sich einfach einsam fühlen. „Der Arbeitsauftrag ergibt sich aus dem Menschen, der gerade anklopft“, sagt Pater Oliver, der schon wieder auf dem Sprung ist, eine Klasse des Berufskollegs wartet auf ihn. Flexibilität, zupackende Hilfsbereitschaft und Kreativität sind leitende Arbeitsprinzipien im Petershof. Am Schreibtisch sind die Mitarbeiter selten anzutreffen, strikte Tagespläne gibt es nicht. Im Vorraum der Kirche stapeln sich Kartons mit Kleiderspenden und Kuscheltieren, in den Büros stehen halb abgebrannte Osterkerzen neben Ablagekörbchen, auf den Tischen Fachbücher, Briefe und leere Keksschachteln. An einem Ständer mittendrin hängen liturgische Gewänder. Große Wanduhren, schmucke Sekretäre und der Parkettfußboden zeugen davon, dass das früher mal ein bürgerliches Pfarrhaus war – in dem sich Pater Oliver zu Beginn seiner Zeit in Marxloh ganz alleine wiederfand. Schnell hat er erkannt, dass hier noch andere Herausforderungen auf ihn warten als „nur“ klassische Gemeindearbeit. 2012 gründete er den Petershof als sozialpastorales Zentrum.
Die Missionsärztliche Schwester Ursula Preusser, 60, die nach einem langen Einsatz in Ghana 2014 zum Team des Petershofs stieß, schmunzelt noch heute beim Gedanken daran, wie Pater Oliver ihr damals die Stelle schmackhaft gemacht hat: „Wir brauchen jemanden, der ohne feste Strukturen arbeiten kann.“ Die beiden bilden das Leitungsteam, 26 Angestellte – komplett spendenfinanziert – unterstützten sie. Und bis zu 100 Ehrenamtliche, von denen viele einst als Hilfesuchende kamen und nun selbst mit anpacken, da, wo es nötig ist. Der Mikrokosmos Petershof spiegelt die globale Wetterlage: Nach der EU-Osterweiterung standen vor allem Rumänen und Bulgaren vor der Tür, 2015 syrische Flüchtlinge und nun Ukrainerinnen mit ihren Kindern. Aus einer ehemals traditionellen Gemeinde, die Angebote vor allem für ihre Kernklientel machte, ist ein Zentrum geworden, dass die Bedürfnisse, Nöte und Fähigkeiten ganz unterschiedlicher Menschen im Blick hat.
Eine Hand wäscht die andere
Der traditionelle Seniorenkaffee funktioniert nicht mehr, dafür aber der kostenlose Mittagstisch in Kooperation mit muslimischen Gemeinden, der täglich bis zu 50 Hungrige anzieht. Oder die Kleiderkammer, in der gut erhaltene Secondhand-Ware für einen symbolischen Euro über den Ladentisch geht. Hier sortieren Newroz Haydar und Adiba Fajir, die 2016 mit ihren Familien aus Syrien geflüchtet sind, gespendete Kleidung. „Ich möchte zurückgeben, was ich an Unterstützung und Zuwendung erfahren habe“, sagt Fajir und verdeutlicht es gestenreich mit einem syrischen Sprichwort: „Eine Hand wäscht die andere, und zusammen waschen sie das Gesicht.“
Gut nachgefragt sind auch die Deutschkurse, die vor allem Frauen aus der Gastarbeitergeneration besuchen, die teilweise schon seit Jahrzehnten in Duisburg leben. Aber erst jetzt, nach der Familienphase, finden sie Zeit, etwas für sich zu lernen. Die Büroleitung des Petershofs, Bedia Arslan, Tochter deutsch-türkischer Eltern, betätigt sich als humorvolle Lehrerin, die genau weiß, welche Vokabeln und Sätze für Einsteiger besonders wichtig sind. Heute geht es um Verwandtschaftsbeziehungen. „Was ist eine Schwägerin?“, fragt sie. „Hm“, nachdenkliche Gesichter. „Die Schwester der Oma?“ wagt sich eine ältere Frau vor. Gelächter in der Runde. Bei aller Freude über das gemeinsame Lernen scheint auch immer wieder die schwierige Vergangenheit und bange Zukunft der Teilnehmerinnen durch. Als es um ihre Wünsche und Pläne geht, nennen die älteren Schülerinnen: „Ich möchte meine Tochter in Syrien wiedersehen.“ Und: „Ich wünsche mir Frieden.“
Mediale Stigmatisierung
In Duisburg-Marxloh haben 58 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. Berichte in den Medien über den Stadtteil sind gespickt mit Vorurteilen und Klischees. „Das hilft niemandem“, sagt Pater Oliver. Es gebe in Marxloh unbestritten viele arme Menschen mit wenig Chancen und Zukunftsmöglichkeiten. Aus sozialen Problemen Sicherheitsprobleme zu machen und Menschen zu kriminalisieren, sei allerdings nicht lösungsorientiert. „Wir müssen besser gemeinsam an einer guten Zukunft für die Menschen arbeiten“, sagt der Ordensmann. „Auch die Marxloher haben Träume und möchten, dass ihre Kinder gut aufwachsen.“
Der gelernte Krankenpfleger und Gesundheitswissenschaftler, der einige Jahre Studentenpfarrer in Marburg war, legt in einer Kapelle von St. Peter einem jungen Mann einen Verband an. In Stoßzeiten werden hier schon einmal 160 Menschen am Tag behandelt. Die Einrichtung – Untersuchungsliege, medizinische Geräte, Verbandsmaterial – hat Pater Oliver auf der Internet-Plattform eBay zusammengesucht. Und wieder sagt er: „Willkommen in Deutschland im 21. Jahrhundert! So etwas wie den Petershof dürfte es in einem der reichsten Länder der Welt gar nicht geben.“ Ein Zentrum, das auffängt, was Aufgabe des Staates wäre. Allein in Duisburg gibt es 16.000 Menschen, die nicht krankenversichert sind. Obwohl es viele Hilfsangebote gibt, fallen immer noch viel zu viele Menschen durchs Raster. Schwester Ursula weiß, warum das so ist: „Wer oft Rückschläge einstecken musste, traut sich nichts mehr zu. Einige Menschen, die zu uns kommen, sind nicht mehr in der Lage, morgens um 8.15 Uhr in einem bestimmten Zimmer einer Behörde zu erscheinen, um einen Antrag auszufüllen.“ Dann heißt es „Mitwirkung verweigert“, und sie fallen aus dem Leistungsbezug. Doch nur, wer eine solche Unterstützung erhalte, könne auch die Hilfsangebote der Stadt wie etwa Obdachlosenunterkünfte nutzen.
„Ich habe begriffen“, sagt Schwester Ursula, „dass es einen Ort geben muss im Leben eines jeden Menschen, an dem keine Bedingungen gestellt werden.“ Ansätze wie „Housing First“ mit Ursprung in den USA, die Obdachlosen zunächst einmal ein Dach über dem Kopf verschaffen und dann weitere Hilfen anbieten, sind ein vielversprechender Ansatz. In Deutschland laufen bisher nur Modellprojekte.
Der ganze Stadtteil profitiert
Auf dem großen Vorplatz vor St. Peter genießen ein paar Menschen die Sonne, trinken Kaffee und beobachten das Kommen und Gehen. Ein Mann möchte ein gebrauchtes Fahrrad spenden. Eine junge Frau fragt nach Windeln für ihr Baby. Dirk Trampenau sitzt im Aufenthaltsraum des Petershofs, vor sich ein Puzzle aus Schaumgummi. Das Brandenburger Tor in Berlin ist schon deutlich zu erkennen. Geduldig dreht und wendet Trampenau das Puzzleteil in seiner Hand, dann fügt er es an der richtigen Stelle ein. „Das macht mir Freude“, sagt er. Seit drei Monaten lebt der 54-Jährige im Notschlafcontainer auf dem Gelände des Petershofs. Sein Leben davor? Gekennzeichnet von Brüchen, Demütigungen, Zurückweisungen und Drogensucht. „Ich hatte mal Familie, drei Kinder, ein Haus... Kaum zu glauben, oder?“ Der Job als Kranführer bei Thyssen war ihm zu monoton. Auf einen Aufhebungsvertrag mit Abfindung folgte eine Umschulung zum Schreiner, Weiterbildungen im Fenster- und Treppenbau, auch als Kraftfahrer habe er gearbeitet.
Eine Festanstellung hab ich aber nie wieder bekommen“, sagt Trampenau bedauernd. Als Mitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen fühlte er sich hin- und hergeschubst. Er wurde psychisch krank und drogenabhängig, seine Frau trennte sich von ihm. „Ich bin daran zerbrochen“, sagt er. Aus dem Teufelskreis kam er nicht mehr raus. Zwar erhält er eine Erwerbsminderungsrente, aufgrund seiner Heroinsucht konnte er damit aber seine Miete nicht mehr bezahlen. „Im Petershof ist die Atmosphäre schön, die Leute sind in Ordnung. Ich fühle mich hier wohl“, sagt er. Im Schlafcontainer hat er einen Kumpel gefunden. Die beiden spazieren zusammen durch das Viertel, grillen im Park. Bei einem Discounter hat der ehemalige Gartenlaubenbesitzer Samen für Kohlrabi, Rote Beete und Radieschen gekauft und in einem Beet ausgesät. „Da kommt schon was“, sagt Trampenau und zeigt auf kleine Triebe, die durch die Erde nach oben stoßen. Vorsichtig wässert er die Pflanzen.
Wer will, kann sich im Petershof auf vielfältige Weise betätigen: beim Gärtnern, beim Versorgen der Bienen, Ziegen, Hühner, Kaninchen und Vögel, beim Kerzengießen, Kleidersortieren, Kinderhüten. Auch Menschen, die nicht diesselbe Sprache sprechen oder unterschiedliche Weltanschauungen haben, kommen so miteinander in Kontakt. „Das schafft Nähe, ist sinnstiftend und macht Spaß. Es stabilisiert den Einzelnen und fördert Gemeinschaft“, sagt Schwester Ursula. Die Arbeit des Petershofs strahlt in den ganzen Stadtteil aus, sie stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, anstatt zu spalten.
Ist das noch katholisch?
Was aber ist daran noch katholisch?, wird das Leitungsteam immer wieder kritisch gefragt. Die Kerngemeinde von St. Peter sei stark geschrumpft, stattdessen seien viele der Mitarbeiter und Klienten des Petershofs Muslime. Eine Anfrage, die entlarvt, wie sehr sich das Bild von Kirche vom Anspruch Jesu weg und hin zu einer gut situierten verbürgerlichten Mittelschichtskirche gewandelt hat. Hungrige speisen, Trauernde trösten, Gebeugte aufrichten, Fremde aufnehmen: All das und viel mehr geschieht im Petershof. Es sind urchristliche Handlungen, Werke der Barmherzigkeit. Fast alles läuft spendenfinanziert. Das Bistum Essen steuert jährlich nur eine geringe Summe bei.
„Wir müssen in Marxloh präsent bleiben, gerade aufgrund der sozialen Probleme“, sagt Pater Oliver, unterwegs von der Krankenstation zurück ins Büro. „Wozu ist Kirche sonst da? Ich habe hier viele im guten Sinn gottesfürchtige und fromme Menschen kennengelernt.“ Man führe keine theologischen Grundsatzdiskussionen, das Leben werde als Zeugnis verstanden. Kirche-Sein in Marxloh bedeutet: Es gibt einen Ort, da sind Menschen, die zuhören und helfen – verlässlich und offen für jeden.
Egal, ob man den Obdachlosen Dirk Trampenau, die syrische Flüchtlingsfrau Adiba Fajir oder den jungen ukrainischen Boxer fragt: Für sie alle ist der Petershof ein Zuhause, wo sie sein dürfen, wie sie sind. Auch Schwester Ursula fragt kritisch, aber mit anderer Stoßrichtung: „Welchen Wert hat der Mensch? Bin ich noch jemand, auch wenn ich nichts zum Bruttoinlandsprodukt beitrage?“ Der Petershof hat eine Antwort gefunden.
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