„Sterbehilfe ist der Versuch, Menschen in großer Not beizustehen“Theologe und Krankenhausseelsorger Norbert Heyman begleitet Menschen beim Sterben.
Sterbehilfe ist für ihn keine Frage der Barmherzigkeit, sondern ein Ausdruck der
Selbstbestimmtheit eines jeden Menschen, den Gott zur Freiheit berufen hat. |
Sind Sie bei Ihrer Arbeit mit dem Wunsch nach Sterbehilfe konfrontiert?
Als Krankenhausseelsorger erlebe ich Menschen, die im Sterbeprozess sind und sich den Tod wünschen – weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen oder nicht in völliger Abhängigkeit leben wollen. Solche Begegnungen bringen mich an meine Grenzen.
Wie reagieren Sie in solchen Grenzsituationen?
Ich kann die Menschen nur darin stützen und stärken, die Situation zu ertragen. Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, dass ich versuche, die Not mit auszuhalten, den Wunsch nach einem baldigen Sterben zulasse und ihm Raum gebe.
Unter Theologen gibt es zwei Lager: Die einen sagen: Sterbehilfe ist unbarmherzig, die anderen nennen sie einen Akt der Barmherzigkeit. Wie sehen Sie das?
Ich weiß gar nicht, ob ich das unter Barmherzigkeit abhandeln würde. Es hat etwas mit der Selbstbestimmtheit des Menschen zu tun. Wenn ich davon ausgehe, dass Gott den Menschen zur Freiheit berufen hat, dann bedeutet das: Der Mensch hat weitgehende Entscheidungsfreiheit. Und die darf man ihm nicht einfach nehmen und ihn bevormunden.
Das heißt, die Entscheidungsfreiheit gilt bis ans Lebensende?
Aus meiner Sicht ja – zum einen aus der religiösen Überzeugung, dass Gott uns als Menschen in Freiheit geschaffen und in die Freiheit entlassen hat. Zum anderen mache ich die Erfahrung, dass Menschen große Not haben, ihre Entscheidung für sich nicht umsetzen zu können. Für mich kann es durchaus ein Akt der Barmherzigkeit sein, wenn man Menschen, die fest entschlossen sind, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen, die Möglichkeit und Hilfestellung dazu gibt.
Also Sterbehilfe zu leisten?
Natürlich nicht leichtfertig. Das Leben ist ein höchst schützenswertes Gut. Aber dieses Schwarz-Weiß und die rigorose Ablehnung jeglicher Art von Sterbehilfe finde ich eine Bevormundung des Menschen.
Kann die Kirche bei so einem Thema überhaupt vorgeben, was richtig und was falsch ist?
Ich finde es immer schwierig, wenn Menschen definitiv sagen, was Gott will. In anderen Bereichen gibt die Kirche auch die Möglichkeit zu differenzieren. So hat sie jahrzehntelang den gerechten Krieg propagiert, Bomben und Waffen gesegnet. Sie steht aber auch denen zur Seite, die in Not andere Menschen töten, zum Beispiel Polizei und Soldaten. Dann bei der Sterbehilfeeine eine absolute Haltung einzunehmen und zu sagen: „Das geht auf gar keinen Fall“, halte ich nicht für gerechtfertigt.
Manche halten Sterbehilfe für Sünde...
Ich glaube, dass es keine Sünde ist. Denn es ist der Versuch, einem Menschen gerecht zu werden und ihm in großer Not beizustehen. Es ist nichts, mit dem man jemandem Schaden zufügen will, sondern der Betroffene hat für sich entschieden, dass der größere Schaden ist, dieses Leben weiter aushalten zu müssen.
Was hilft Menschen im Sterben?
Sterbenden hilft die Zuwendung von Menschen, die ihnen nahe sind, Ehrlichkeit, Authentizität. Es hilft, dass Menschen da sind, die die Nöte anhören, das Leid aushalten können und selber nicht zu sehr von der Situation belastet erscheinen. Ich erlebe, wie sich Sterbende oder Menschen, die die Diagnose „unheilbar krank“ bekommen haben, oft nicht trauen, sich anderen zuzumuten. Das macht es schwierig. Es bewirkt eine große Einsamkeit, wenn Menschen nicht über ihre Empfindungen, Ängste und Sorgen sprechen können. Was hilft, ist auch zu sagen: „Ja, ich sehe, wie es dir geht, und du darfst gehen.“ Ich erlebe manchmal Angehörige, die jammern: „Wir brauchen dich doch noch. Du darfst nicht gehen.“ Das halte ich für schwierig. Das bringt Sterbende in Konflikte.
Es heißt auch, dass das sogenannte „unfinished business“ Menschen das Sterben schwer macht: das Gefühl, es gibt noch Dinge oder Beziehungen, die ich nicht geklärt habe...
Deshalb ist für mich Versöhnung ganz wichtig: dass man sich bemüht, Dinge zu klären, und wenn sie nicht zu klären sind, versucht, sie im Glauben versöhnt zu betrachten.
Hilft der Glaube Menschen dabei zu gehen? Gehen diese Menschen anders?
Ich erlebe Menschen, die in ihrem Glauben so starken Halt finden, dass sie in Ruhe gehen können – im Vertrauen, dass da ein Gott ist, der sie hält. Ich erlebe das auch bei Angehörigen, die Abschied nehmen. Ich erlebe aber auch Menschen, die in ihrem Glauben ein Leben lang Halt gefunden haben und sich trotzdem im Sterben ein Stück alleingelassen fühlen. Damit sind sie nicht die Einzigen, denn wir lesen auch in der Bibel: „Warum hast du mich verlassen?“ Die Frage „warum?“ wird durch den Glauben nicht immer beantwortet. Genauso erlebe ich Menschen, die sich als nicht gläubig bezeichnen und trotzdem in Ruhe gehen können.
Ich glaube dennoch, dass der Glaube hilft. Ich mache die Erfahrung, dass Menschen, die im Glauben stehen, häufiger gelassen sind. Und ich erlebe Menschen, die sagen: „Ich wünschte mir einen Glauben an einen Gott, der mich jetzt stärkt.“ Diese ganze Farbpalette gibt es. Zu sagen: „Die Menschen, die christlichen Glaubens sind, müssen nur stark genug sein, dann gehen sie in Ruhe“ – das halte ich für Quatsch. So wie jede Beziehung unter Menschen anders ist, so sind auch die Beziehungen zu Gott sehr unterschiedlich, sehr individuell. Das macht uns Menschen aus.
Interview: Beatrix Gramblich; Foto: privat
Zur Person
Norbert Heyman, 60, ist katholischer Theologe, Krankenhausseelsorger und Gemeindereferent im Rhein-Maas-Klinikum in Würselen.
Zurück zur Übersichtsseite Sterbehilfe
Zurück zur Nachrichtenübersicht November/Dezember 2021