„Viele denken, dass die Opfer lügen“ Als „Ehefrauen Christi“ sollen sie Priestern mit Körper und Geist dienen. Vermeintliche Freunde verabreichen ihnen Drogen. Mitschwestern locken sie in Fallen. Das sind nur einige Beispiele für Missbrauch an afrikanischen Ordensfrauen.
Die kongolesische Ordensschwester und Theologieprofessorin Josée Ngalula kennt viele solcher Geschichten. |
Die Ordensschwester und Theologieprofessorin Josée Ngalula, 62, gehört seit 1979 den Sœurs de Saint André an und lehrt Dogmatik an der Katholischen Universität Kongo in Kinshasa. Ihr Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter kümmerte sich um die acht Kinder. Schwester Josée forscht zu Religion und Gewalt in Afrika und beschäftigt sich auch mit dem Missbrauch von Ordensfrauen. Seit 2021 ist sie Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission der Weltsynode.
Schwester Josée, von welchen Formen des Missbrauchs sind afrikanische Or- densschwestern betroffen?
Hauptsächlich von drei verschiedenen Arten: spirituellem Missbrauch, Autoritätsmissbrauch und sexuellem Missbrauch, der immer mit psychischer und körperlicher Gewalt verbunden ist. Dabei sollte man nicht vergessen, dass auch Ordensbrüder unter diesen Miss- brauchsarten leiden.
Wer sind die Täter, und welche Strategien nutzen sie?
Der Missbrauch kann sich im Kloster abspielen, wo Mitschwestern oder Besucher die Ordensschwestern bedrängen. Es kommt auch vor, dass die Täter das Vertrauen der Ordensfrauen missbrauchen, um sie an einen abgeschiedenen Ort zu locken. Auch an Studienorten, im beruflichen oder pastoralen Kontext kommt es zu Übergriffen: Männliche oder weibliche Lehrende, andere Studierende, aber auch Vorgesetzte missbrauchen Ordensfrauen. Sie drohen ihnen oder verabreichen heimlich Betäubungsmittel.
Zwischen Opfer und Täter besteht also meist eine hierarchische oder berufliche Beziehung?
Nicht nur. Auch vermeintliche Freundschaften stellen sich hin und wieder als Fallen heraus: Täter nähern sich den Schwestern vertrauensvoll, wollen aber eigentlich nur deren Schwachstellen herausfinden. Irgendwann nutzen sie das gesammelte Wissen, um die Ordensfrauen zu erpressen und von ihnen Gefälligkeiten einzufordern wie zum Beispiel sexuelle Dienste.
Mit welchen Argumenten rechtfertigen Täter ihren Missbrauch?
Grundsätzlich nutzen sie zwei vollkommen falsche Argumentationen: Entweder schieben sie die Schuld auf eine sie beherrschende „menschliche Schwäche“ oder sie werfen der Schwester vor, die Tat selbst provoziert zu haben. Ins- geheim wissen die Täter jedoch genau, dass sie die Tat bis ins Detail geplant hatten. Gewalt ist ein Übel, das man niemals rechtfertigen darf.
Warum ist der Missbrauch an Ordens- frauen in Afrika ein so großes Tabu?
Ein Tabu ist etwas, das im öffentlichen Diskurs einer Kultur offiziell verboten ist. Bis heute gibt es kein offizielles Verbot, das es den afrikanischen Kirchen untersagen würde, darüber zu sprechen. Es ist also kein Tabu. In Afrika passiert ganz einfach das, was auch auf allen anderen Kontinenten passiert. Ob Frau oder Mann – wer sagt schon in aller Öffentlichkeit: „Ich wurde missbraucht“? Kaum jemand. Selbst in Europa leiden die meisten Opfer in Stille und vertrauen sich nur sehr diskret jemandem an. Genauso ist es in Afrika.
Was muss sich ändern, um Missbrauch zu verhindern?
Das, was der Papst von allen Autoritätspersonen verlangt: Es muss die Idee verschwinden, dass man sich alles erlauben kann, nur weil man „Chef“ ist. Außerdem müssen Menschen aufhö- ren, etwas erklären zu wollen, das nicht zu rechtfertigen ist: Viele Männer sagen, dass sie sich nicht beherrschen könnten, wenn sie eine Frau sehen und rechtfertigen das mit ihrer „menschlichen Schwäche“. Es muss die Überzeugung verschwinden, dass der Körper des Nächsten ein beliebig zur Verfügung stehendes Objekt sei. Der Körper einer Person ist ihr privates, intimes, in Menschenwürde gehülltes Eigentum.
Welche Präventionsstrategie würden Sie vorschlagen?
Zuallererst müssen Ordensfrauen lernen, Vorboten von sexuellem Missbrauch zu erkennen, seien es Gesten oder Bemerkungen. Zweitens muss die Straflosigkeit in der Kirche aufgehoben werden, um Nachahmer abzuschrecken. Und drittens sind klare, wirksame Maßnahmen in der Opferbegleitung dringend notwendig. Denn wer nicht rechtzeitig Hilfe bekommt, ist für weiteren Missbrauch anfällig.
Auf welche Probleme stoßen Sie, wenn Sie helfen, Missbrauch anzuzeigen?
Vor allem auf Misstrauen und Banalisierung: Viele denken, dass die Opfer lügen und dass es Missbrauch „bei uns doch nicht gibt“. Wir sollten uns hingegen stets daran erinnern, warum wir Christen Karfreitag feiern: Das Christentum schämt sich nämlich nicht zu sagen, dass sein Gründer und Retter auf eine extrem gewalttätige Weise gedemütigt wurde. Der Karfreitag veranschaulicht das Ausmaß des Leids und der Bloßstellung, das Missbrauchte verkraften müssen. Deshalb müssen sich alle Christen gegen Gewalttaten stellen. Wenn also ein Priester als „Repräsentant Christi“ psychisch und physisch Gewalt ausübt, dann drückt diese Tat einen bewussten Glaubensabfall aus.
Eines Ihrer Forschungsgebiete ist die Theologie in afrikanischen Sprachen. Was hat Sie dazu bewegt?
Als der Sohn Gottes auf diese Welt gekommen ist, hat er die Menschen in ihrer Muttersprache evangelisiert: Aramäisch. Und als die Apostel mit der Evangelisierung begannen, haben sie die Nachfolger Jesu nicht gezwungen, Aramäisch zu lernen, um mit Gott zu sprechen. Das Christentum hat keine heilige Sprache. Wenn die Heilsbotschaft das Innerste eines Volkes berühren soll, sollten wir die Sprache dieses Volkes respektieren und sie benutzen, um den Glauben zu verkünden.
Sie sind die einzige afrikanische Frau in der Internationalen Theologischen Kommission der Weltsynode. Welche Themen bringen Sie ein?
Mir ist die Wahrung der Menschenwürde wichtig. Und auch der Dienst,
den die Kirche für die Millionen Men- schen leisten kann, die Opfer von Krieg, aber auch jeglicher Form von Gewalt in Friedenszeiten geworden sind.
Wie wird der Synodale Weg der Deut- schen Kirche in Afrika wahrgenommen? Einige Stimmen befürchten, dass es zu einem Alleingang Deutschlands kommen könnte ...
In Afrika haben wir von den Erfahrungen der Kirche in Deutschland gehört. Die einzige Verbindung, die wir herstellen, bezieht sich auf unsere Erfahrung des Palaver: In den afrikanischen Traditionen besteht das Palaver-Prinzip ganz einfach darin, dass man sich die Zeit nimmt, allen zuzuhören.
Interview: Pia Scheiblhuber
Foto: Frederike Schönecker/Universität Frankfurt
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