Foto: Richter Le |
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Witwen-Schicksal in Indien
Alt, arm, abgeschoben
Stirbt der indische Ehemann vor seiner Frau, wartet auf sie ein schlimmes Schicksal. Als „ardhangini“, halber Körper des Mannes, wird ihr das Recht auf ein eigenständiges Dasein verwehrt. Früher wurden Witwen lebendig mit dem Leichnam ihres Mannes auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein Ritual, das heute bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr praktiziert wird.
Aber immer noch gilt es als Sünde, den Ehemann zu überleben. Selbst der Schatten einer Witwe wird gefürchtet. Von ihm gehe Unheil aus, ist weiterhin herrschende Meinung. Ausgestoßen von der Familie und von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, müssen sich die Witwen mit Betteln über Wasser halten. Sie dürfen keinen Kontakt zu anderen Menschen pflegen, nicht arbeiten, nicht feiern, keine Süßigkeiten essen und keinen Schmuck tragen.
Kahlgeschoren und in weißen Kleidern – der Farbe des Todes und der Asexualität – sind sie gesellschaftlich gebrandmarkt. Da indische Frauen oft sehr jung an wesentlich ältere Männer verheiratet werden, ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass sie ihren Ehemann überleben. Zwar wäre eine Wiederheirat rechtlich möglich, findet aber praktisch fast nie statt. 45 Millionen Witwen in Indien teilen dasselbe Schicksal. Familien und Gesellschaft berufen sich auf die Tradition, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen: Es ist billiger, die verwitwete Mutter zu verstoßen statt sie zu umsorgen.
Von der Regierung ist bis jetzt auch wenig Hilfe zu erwarten. Es sind vor allem Nichtregierungsorganisationen oder religiöse Gemeinschaften, die sich um die Ausgestoßenen kümmern. Die Frauen leiden nicht selten unter Depressionen aufgrund ihrer jahrelangen Isolation. Wer noch die Kraft hat, pilgert zu klosterähnlichen Zentren, etwa den Ashrams in der Tempelstadt Vrindavan, um sein Leben Gott Krishna zu weihen. In den Ashrams haben die Witwen ein Dach über dem Kopf und bekommen eine warme Mahlzeit täglich. Mit religiösen Gesängen verdienen sich manche eine Kleinigkeit hinzu.
Von Eva-Maria Werner
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