Schätze aus dem OrientChristen aus Syrien und dem Irak sind vor dem Krieg und dem Terror des Islamischen Staates aus dem Stammland des Urchristentums geflohen. Sie haben alles zurückgelassen und nur ihr blankes Leben retten können.Einige von ihnen wollen in Leipzig heimisch werden – auch mit ihrer Religion. |
Text: Eva-Maria Werner
Foto: Kathrin Harms
Wir gehen!“ Yousif* zögert nicht eine Sekunde, als er den Brief mit der Botschaft in seinen Händen hält: „Überlass uns dein Haus oder wir schlachten deinen Sohn.“ Der junge Familienvater weiß, dass es sich nicht um eine leere Drohung handelt. Seit Al-Kaida in Mossul das Sagen hat, ist das Leben unerträglich geworden. Christen werden aufgefordert zu konvertieren oder hohe Schutzgelder zu zahlen. Die Islamisten besprühen deren Häuser mit dem arabischen Buchstaben für „N“ (Nazarener) und geben sie damit zur Plünderung frei. In den Schulen lernen die Kinder, dass Christen nichts wert seien. Menschen verschwinden, werden getötet und die Familien der Entführten mit hohen Lösegeldforderungen erpresst. Der Priester der Gemeinde, zu der Yousifs Familie gehört, wird verschleppt und wenig später tot aufgefunden: Die Islamisten haben ihm Kopf, Arme und Beine abgeschnitten. In ehemals gut funktionierende Nachbarschaften zwischen Christen und Muslimen schleicht sich Misstrauen, Angst und Hass. Auch Yousif zahlt Schutzgeld, von Jahr zu Jahr mehr, um in seinem Haus weiter leben zu dürfen. Wer auf die Forderungen der Islamisten nicht eingeht, muss Schlimmstes befürchten. „Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, weiß ich nie, ob ich abends wiederkomme.“ Bisher haben Yousif und seine Frau Tara nicht an Flucht gedacht, weil sie an ein Überleben der Christen in Mossul glaubten, aber nun, da die Sicherheit ihres Kindes bedroht ist, ist die Schmerzgrenze erreicht.
Über Nacht bricht die kleine Familie auf. Sie lässt alles zurück: Haus, Freunde, Verwandte und die eigene Kfz-Werkstatt. In Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Irak, finden sie vorübergehend eine Bleibe. Hier sind sie vorerst in Sicherheit, aber noch lange nicht am Ziel. Ryad, der zweite Sohn von Yousif und Tara, wird geboren. Doch Yousif findet keine Arbeit, schweren Herzens macht er sich auf, lässt Tara mit den Kindern zurück. Ryad, der Jüngste, ist da gerade drei Monate alt. Yousif zahlt einem Schleuser 17000 Dollar. Er steigt in einen Lkw, in den eine doppelte Wand eingezogen ist. Ein winziger Verschlag, in dem er alleine ausharrt. Wasser, ein paar Kekse und zwei handtellergroße Löcher im Boden – für Frischluft und das Erledigen der Notdurft – das ist alles. Die Angst fährt mit auf der tagelangen Reise. Ob alles gut geht? Ob er Tara und die Kinder nachholen kann? Am Hauptbahnhof in Chemnitz lässt ihn der Fahrer schließlich hinaus, drückt ihm 70 Euro in die Hand und verschwindet. Am Ende seiner Kräfte, geht Yousif zur Polizei und meldet sich bei Tara: „Ich bin in Deutschland.“
Die Christen müssen büßen
Während er Jahre später in seiner Leipziger Wohnung die schlimme Zeit Revue passieren lässt, sitzen Tara, Nabil und Ryad dicht bei ihm. Die Kinder wollen nicht spielen, lieber lauschen sie den Erinnerungen ihres Vaters. Er erzählt, dass vor dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak im Jahr 2003 noch 70 000 Christen in Mossul lebten. Als vermeintliche Verbündete des Angreifers USA, eines „christlichen Staates“, geraten sie ins Kreuzfeuer der Islamisten. Obwohl sie seit Jahrhunderten im Stammland des Christentums friedlich mit ihren muslimischen Nachbarn zusammengelebt haben, müssen sie zunehmend für die Fehltritte anderer büßen: etwa, wenn G.W. Bush seinen Krieg als „Kreuzzug“ bezeichnet, sich der Papst in Regensburg unglücklich über den Propheten Mohammed äußert, wenn irgendwo jemand den Koran verbrennt oder Mohammed-Karikaturen veröffentlicht: Für die Christen im Westen hat das keine Auswirkungen, die Christen im Orient jedoch müssen dafür zahlen, oft mit ihrem Leben.
Hat Yousif jemals an Gott gezweifelt oder seinen Glauben verloren angesichts des Elends und der Verfolgung? Der 38-Jährige schaut skeptisch, als würde er die Frage nicht verstehen, so abwegig erscheint sie ihm. Dann schüttelt er heftig den Kopf. „Nein! Egal was passiert, am Glauben halten wir fest. Jesus hat sich für uns geopfert, wir lassen unseren Jesus nicht so einfach! Lieber sterbe ich, als dass ich meinen Glauben aufgebe!“ Als wolle er seine Aussage bekräftigen, schiebt er seinen Pullover ein Stück weit nach oben und zeigt auf ein Kreuz-Tattoo auf seinem linken Unterarm.
Auch für Tara ist der Glaube wertvoll. „Wenn ich bete, fühle ich mich besser. Außerdem spüre ich, dass ich dadurch mit meiner Mutter in Schweden und meiner Schwiegermutter in Kurdistan verbunden bin. Wir unterstützen uns durch das Gebet. Es tröstet uns.“
Verlorene Lebenszeit
Tara sitzt im Wohnzimmer unter dem Porträt ihres Vaters, der 2003 in Mossul von Al-Kaida ermordet wurde. Auch wenn ihre Familie nach der Flucht mittlerweile perfekt Deutsch spricht, Yousif wieder als Kfz-Mechaniker arbeitet und die Kinder sich gut in der neuen Umgebung eingelebt haben, ist Tara manchmal wütend: „Unsere Familien leben wegen des Terrors weit verstreut. Wir haben Lebenszeit verloren. Es ist mühsam, all das wieder aufzubauen, was wir schon einmal hatten. Wir wollen verstanden werden, aber nicht jeder respektiert uns.“
Die 34-Jährige hat im Irak Informatik studiert. In Leipzig ist sie auf Jobsuche. Mit ihren Söhnen war sie eine zeitlang sehr engagiert in einer katholi- schen Gemeinde in Leipzig: „Wir haben an der Sternsingeraktion teilgenommen und beim Kindergottesdienst mitgemacht. Nabil ist Messdiener. Für mich ist nicht wichtig, welcher Konfession jemand angehört.“ Aber sie ist froh, dass es nun auch eine syrisch-orthodoxe Gemeinde in Leipzig gibt (vgl. Kasten auf Seite 14). So kann sie Gottesdienst auf Aramäisch feiern, der Sprache Jesu, ihre Liturgie pflegen und die Kinder in ihre Tradition einführen.
Auch die Familie von Aboud Karnoub ist froh, in Leipzig wieder eine religiöse Heimat gefunden zu haben. Aboud und Raffa mit ihren drei Kindern Elyas, Myriam und Jad stammen aus Aleppo. Wie Yousif und Tara hatten sie nie vor, ihre Heimat zu verlassen. „Wir haben im Krieg gelebt“, sagt die 18-jährige Myriam. „Es fielen Bomben, und wir hatten Angst. Aber trotzdem sind wir jeden Tag zur Schule gefahren.“ Erst als zwei Verwandte durch einen Bombenangriff getötet wurden, während sie verletzten Jugendlichen auf der Straße zur Hilfe eilten, entschloss sich die Familie, Syrien zu verlassen. Dank des Bundesaufnahmeprogrammes für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ging alles schnell. Die erste Zeit in Deutschland kamen Karnoubs bei evangelischen Trinitatisschwestern unter. Nun leben sie einen Steinwurf entfernt von Yousifs Familie – in einem Plattenbauviertel in Leipzig. Vor der Wende wohnten hier 90000 Menschen, dann waren es irgendwann nur noch knapp 50000. Wohnungen standen leer, ganze Blöcke verfielen und wurden abgerissen. Mittlerweile ist wieder mehr Leben im Viertel. Seit 2015 zogen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten in die günstigen Wohnungen, aber auch der Boom Leipzigs als attraktive Stadt hat neue Mitbürger gebracht. Ein großer Unterschied zu Aleppo aber fällt der Familie sofort ins Auge. „Die meisten Menschen hier haben keinen Glauben“, sagt Raffa. „Das habe ich anfangs überhaupt nicht verstanden. In Syrien sind alle gläubig. Das ist uns wichtig.“ Sohn Elyas ergänzt: „In Syrien wächst man automatisch mit der Religion auf, die die Eltern haben. Ich finde es gut, dass man hier die Freiheit hat, zu wählen.“
Oft werden die orientalischen Christen automatisch für Muslime gehalten. „Trägt deine Frau kein Kopftuch?“, werden die Männer von überraschten Arbeitskollegen gefragt. Nur wenigen sei bewusst, dass die Christen aus Syrien und dem Irak zu einer bedrohten Minderheit zählen, die vor den Islamisten geflohen ist. Was sie erlitten haben und was ihr orientalisch-orthodoxes Christsein ausmacht, ist vielen unbekannt. Während Raffa dickflüssigen, dampfenden Mokka in Tässchen füllt, erzählt sie vom ersten Gottesdienst der Rum-Orthodoxen in Leipzig. „Es war wunderbar! Mehr als 150 Leute kamen. Wir waren überwältigt. Mein Mann hatte mit Abuna Rabih herumtelefoniert und Familien eingeladen, aber dass so viele kommen würden – aus Halle, Chemnitz, Magdeburg und Dessau – haben wir nicht erwartet!“ Mit Begeisterung berichtet die 44-Jährige von der Liturgie, in der A-cappella-Gesang und Ikonen eine große Rolle spielen. Zum ersten Mal in Leipzig das Vaterunser auf Arabisch beten zu können, sei ein Geschenk gewesen.
Ein Hauch von Orient
Seit eineinhalb Jahren hat die rum-orthodoxe Gemeinde mit Abuna Rabih Nassour einen eigenen Priester. Der 38-jährige Familienvater hat in Latakia Informatik und Mathematik studiert, bevor er ein Zusatzstudium in Theologie anschloss und in Berlin zum Priester geweiht wurde. Einmal monatlich feiert die Gemeinde Gottesdienst. Bei thematischen Wochenenden setzen sich die Gläubigen mit unterschiedlichen Themen auseinander, etwa: Was brauchen wir im Leben? Wo fühlen wir uns kulturell zugehörig? Es gibt Chor-Workshops, in denen die byzantinische Musik gepflegt wird. Die Gemeindemitglieder gestalten ihre Freizeit zusammen und unterstützen sich im Alltag. Und sie halten über Facebook und Telefon Kontakt zu ihrer Ursprungsgemeinde in Aleppo, für die es ein wichtiges Zeichen ist, dass in der Diaspora das rum-orthodoxe Leben weitergeht.
Ein Hauch von Orient weht in der modernen Leipziger Propsteikirche, in der die rum- und syrisch-orthodoxen Christen regelmäßig Gottesdienst feiern. Ein paar Neugierige stehen an der Tür und lauschen den fremd klingenden Gesängen. Während Abuna Stefan, der 40-jährige Priester, der erst seit wenigen Wochen der Gemeinde in Leipzig vorsteht, ein Gebet rezitiert, schwingen Messdiener zwei Fächer aus Silber mit Glöckchen daran. Das Bimmeln soll den Klang der Engelsflügel symbolisieren. Zur Kommunion sind alle eingeladen, auch die kleinen Kinder. Es gibt keine Hostien, sondern selbst gebackenes Brot, das Abuna Stefan in Wein tunkt und den Gläubigen in den Mund schiebt. Frauen aus der Gemeinde wechseln sich mit dem Brotbacken ab. Naoum Ghassali, der Schriftführer der syrisch-orthodoxen Gemeinde, sagt: „Wir gehen nicht zur Kirche aus Gewohnheit. Wir sehen uns in der Verantwortung, das, was unsere Vorfahren für ihren Glauben geopfert haben, hier zu leben.“
Bei Propst Gregor Giele sind die orientalischen Christen als Gäste willkommen. Weil sie ihre Gemeindeaktivitäten ausweiten möchten, sind sie jedoch auf der Suche nach eigenen Räumlichkeiten. „Leider sind bisher alle Verhandlungen mit evangelischen und katholischen Gemeinden über die Nutzung von deren Kirchen- und Gruppenräumen, die nur noch selten beansprucht werden, gescheitert“, sagt Bruder Andreas Knapp, der die orientalischen Christen in Leipzig begleitet. Viele wohlwollende Gemeindemitglieder hätten das Anliegen unterstützt, aber es gebe auch ablehnende bis feindselige Stimmen. Man wolle nicht teilen und lehne die Gläubigen der syrisch-orthodoxen Gemeinde als „Ausländer“ ab. Das sei für die Menschen, die von Islamisten vertrieben worden seien, nur weil sie Christen sind, eine schmerzliche Erfahrung. Trotz aller Herausforderungen zeigt sich Naoum Ghassali optimistisch: „Unsere Gemeinde wird bis zum Ende der Welt existieren. Die Jünger Jesu waren auch nur zu zwölft unterwegs.
*Namen von der Redaktion geändert
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