Unter DeckRund 30 Millionen Passagiere haben 2019 einen Urlaub an Bord eines Kreuzfahrtschiffes verbracht.
Unter Deck herrschen jedoch oft prekäre Arbeitsverhältnisse: Die meisten Servicekräfte stammen aus Billiglohnländern und stecken in Knebelverträgen. Für Seemannspastor Simon Boiser ist das moderne Sklaverei. |
Text: Lena Monshausen; Foto: Hartmut Schwarzbach
Das dumpfe Schiffshorn zerreißt die morgendliche Stille im Hamburger Hafen. Vier Schlepper begleiten die 333 Meter lange MSC Preziosa von der Elbe in den Hafen, im Morgenlicht schwappen schwarz schimmernde Wellen an den Kai. Neben dem schwimmenden Hochhausblock mit Spaßbad auf dem Dach wirken die kleinen Schlepper wie Nussschalen. Sonntag. Es ist Wechseltag, „turnover day“. Erschöpft versteckt Alvin sein Gesicht in den Händen. Er sitzt im Aufenthaltsraum der Deutschen Seemannsmission im Hamburger Hafen. Jetzt, am Vormittag, ist kurz Zeit, um neue Energie für den Rest des Tages zu sammeln. Rund 4300 Passagiere schlendern bei sommerlichen Temperaturen mit ihrem Handgepäck über die Gangway von Bord des Schiffes in den Hamburger Kreuzfahrtterminal Steinwerder. Gepäckbänder, Check-In-Schalter und Sicherheitskontrollen in der großen Halle erinnern an einen Flughafen. Im Laufe des Tages werden 4300 neue Gäste ihre einwöchige Reise zu den beliebtesten Städten und entlegensten Fjorden Nordeuropas auf dem Urlaubsschiff beginnen. „Das Leben als Seemann ist hart“, sagt Alvin und gähnt. Knapp zwei Stunden hat der junge Filippino die schweren Koffer aus dem Bauch des Schiffes auf Transportwagen gehievt, von Transportwagen auf die Gepäckbänder im Terminal. Bis zum Schluss sollen die Gäste allen Komfort genießen, denn dafür haben sie bezahlt. Zum Mittagessen kauft er sich eine Packung asiatischer Instantnudeln, die erinnern ihn an die Heimat. Danach wird das Gepäck der neuen Gäste geladen. Seinen richtigen Namen möchte Alvin nicht nennen, zu groß ist die Angst, dass seine Vorgesetzten auf dem Schiff negativ auf ihn aufmerksam werden könnten. In seinem eigentlichen Job als Hilfskellner in einem der acht Schiffsrestaurants darf sich der 30-Jährige keine Fehler erlauben.
Alvin fährt seit fünf Jahren zur See, es ist sein zweiter Vertrag mit der italienischen Reederei MSC. „Es war nie mein Traum, zur See zu fahren, aber hier verdiene ich Geld.“ Bei einer von vielen philippinischen Zeitarbeitsagenturen konnte er als ausgebildeter Kellner schon nach einigen Monaten eine Stelle auf einem Kreuzfahrtschiff antreten. Der Umweg über die nationalen Agenturen erspart den Reedereien hohe Personalkosten: So gelten für Alvin philippinische Lohn- und Arbeitsstandards. Auch die Agenturen machen ein Geschäft, denn um oben auf der Vermittlungsliste zu stehen, zahlen viele Jobsuchende unter der Hand extra. Alternativen gibt es für die meisten Filippinos nicht. „In Hotels in Manila habe ich keine Anstellung gefunden, also wurde ich Seemann“, erzählt Alvin. Die Jobs sind begehrt, wenn auch nicht beliebt, die harten Arbeitsbedingungen auf See sind kein Geheimnis. Sein Vertrag gilt für neun Monate, so lange ist er unterwegs, arbeitet offiziell elf Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Inoffiziell sind es auch mal mehr Stunden pro Tag.
Die Reedereien sparen immer mehr Geld am Personal bei steigenden Passagierzahlen. Ihr wichtigstes Argument ist die Wettbewerbsfähigkeit auf dem hart umkämpften Markt der Branche. Alvin weiß: Nur wer lächelt und trotz Schlafmangels nicht negativ auffällt, qualifiziert sich für einen Folgevertrag. In den neun Monaten fernab der Heimat bekommt er umgerechnet knapp 1000 Euro monatlich, das restliche Jahr verbringt er zu Hause auf den Philippinen – in der Hoffnung, dass er bald einen neuen Vertrag bekommt, denn Geld verdient er nur auf dem Schiff. So wie Alvin geht es vielen Männern und Frauen auf den Philippinen. Schätzungen zufolge stammt ein Viertel der Seeleute weltweit von dort, ihre Überweisungen in die Heimat tragen erheblich zum philippinischen Wirtschaftseinkommen bei. Die meisten finden Arbeit auf Containerschiffen: Immerhin rund 90 Prozent des weltweiten Güterhandels werden über den Seeweg abgewickelt. Doch seit etwa 20 Jahren verdienen immer mehr Menschen ihr Auskommen auf den schwimmenden Hotels der großen Kreuzfahrt-Unternehmen. Die Branche boomt.
Job für Arme
„Seeleute sind auf den Philippinen nicht besonders angesehen“, erklärt Pater Simon Boiser. „Die meisten kommen aus armen Familien.“ Der 45-jährige Steyler Missionar ist selbst Filippino. Mittlerweile arbeitet er seit mehr als 20 Jahren in Deutschland, seit drei als Seemannspastor der katholischen Kirche in Hamburg. „Jeder weiß: Alles klar, ein Seemann, der hat keinen anderen Job gefunden auf den Philippinen“, sagt er. Zu lange Arbeitszeiten, Schlafmangel und ein für europäische Verhältnisse geringer Lohn als Seemann weit entfernt von daheim nehmen die meisten nur aus Not in Kauf. Oft hängen von einem Gehalt die Schicksale von Großfamilien ab, die die Seeleute nur noch selten zu Gesicht bekommen. „Diese prekären Arbeitsverhältnisse in der Seefahrt sind für mich eine Form von moderner Sklaverei”, sagt Pater Boiser. 14 Stunden Arbeitszeit am Tag, mit Pausen, sind laut Maritimer Arbeitskonvention (MLC) erlaubt. Meistens hielten die Reedereien sich daran, aber längst nicht immer. Mitunter treibe das manchen Seemann in die Verzweiflung.
Als Seemannspastor ist Pater Boiser für die katholische Seemannsmission Stella Maris in Hamburg im Einsatz. Regelmäßig besucht er Seeleute auf den im Hafen liegenden Schiffen, hat immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen. Besonders hart treffe es einen Seemann, wenn seine Familie sich ihm entfremde oder seine Frau gar einen anderen Mann finde, so Boiser. Nicht wenige büßen in einem halben Leben auf See ihre familiären Bindungen ein. Andere haben schlicht kein Geld, um nach Hause zurückzukehren. Am Hamburger Krayenkamp betreibt die evangelische Seemannsmission deshalb ein Gästehaus, in dem ehemalige Seemänner nach ihrer Pensionierung eine dauerhafte Bleibe finden: ein Seniorenheim für entwurzelte Seemänner. Fidel Labrador war lange Jahre einer von ihnen. Als der damals 69-Jährige 2018 schwer erkrankte, rief das Seemannsheim zu Spenden auf: Fidels Wunsch, ein letztes Mal nach Hause auf die Philippinen zu reisen, ging in Erfüllung.
Im Kreuzfahrtterminal Steinwerder herrscht mittlerweile Hochbetrieb. Bis rund 4300 Passagiere ihre Kabinen an Bord der Preziosa gefunden haben, ist der Nachmittag verflogen. In der Zwischenzeit werden sämtliche Kabinen gesäubert, Gepäck transportiert, Lebensmittel- und Frischwasservorräte für eine ganze Kleinstadt geladen. Bei Bedarf tanken die Schiffe zudem neues Schweröl, trotz giftiger Rückstände der am meisten verwendete Treibstoff für die Ozeanriesen. Die Pause ist vorbei. In der Seefahrer-Lounge der evangelischen Deutschen Seemannsmission winken philippinische Crewmitglieder zum Abschied hektisch in ihre Handykameras, kaufen noch schnell Schokolade oder asiatische Instantnudeln auf Vorrat, bevor ihr Dienst an Bord wieder beginnt.
Die sogenannte „Seafarers‘ Lounge“ steht den wegen des Booms immer zahlreicheren Crewmitgliedern von Kreuzfahrtschiffen seit 2011 als Aufenthaltsraum mit freiem WLAN, kleiner Bar und Kiosk zur Verfügung. „Damit sie mal vom Schiff runter kommen“, bringt Markus Wichmann, Leiter der Lounge, das Ziel auf den Punkt. Denn viele Seeleute hätten keine Rückzugsmöglichkeit auf dem Schiff, erzählt der 46-Jährige. Während die Ausstattung auf den Schiffen für Gäste immer luxuriöser werde, gelten schon Zweibettzimmer unter südostasiatischen Crew- mitgliedern als Glücksfall. Allerdings: „Die Filippinos beschweren sich nie. Sie lächeln und freuen sich, überhaupt einen Job zu haben“, sagt Wichmann. Diejenigen, die von Problemen erzählen, seien die Ausnahme. Das bestätigt auch Monica Döring, Leiterin der katholischen Seemannsmission Stella Maris in Hamburg: „Bis Filippinos selbst sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist, muss viel passieren. Deshalb wollen wir ihre Stimmen hörbar machen, besuchen sie auf den Schiffen und setzen uns für bessere Arbeitsbedingungen ein.“ Die Kreuzfahrten einzustellen, sei aber keine Lösung, so die 53-Jährige. Vielmehr müssten Crewmitglieder über ihre durch die Maritime Arbeitskonvention festgelegten Rechte Bescheid wissen. Zudem müsste die Öffentlichkeit besser informiert sein, auf wessen Kosten Urlauber häufig ihre Kreuzfahrten buchten. Das scheint dringend nötig: Die Mitarbeiter einiger Reedereien sind nicht einmal befugt, mit Außenstehenden über ihre Arbeitsbedingungen zu sprechen. Die Interview-Anfrage von kontinente an AIDA, ein Gespräch mit philippinischen Crewmitgliedern zu führen, lehnte der Konzern ab.
Keine Alternative
Auf der MSC Preziosa hat der indische Familienvater Nicholas di Rosario es bereits zu etwas gebracht: In den vergangenen zehn Jahren arbeitete er sich bis zum Küchenchef hoch. Der 50-Jährige verdient verhältnismäßig so gut, dass er eine Kündigung nicht riskieren kann. „Ich würde lieber heute als morgen aufhören, ich sehe meine Kinder nicht aufwachsen. Aber ich habe keine Alternative. Jeden Tag macht mich das traurig.“ Als Küchenchef hat er am „turnover day“ eine etwas längere Pause. In Hamburg freut er sich meist darauf, denn so hat er Zeit für eine Atempause in der Seefahrer-Lounge und telefoniert in Ruhe weiter mit seiner Frau, während die jungen Kollegen bereits wieder an Bord hasten. Unterdessen ist der junge Alvin längst wieder im Dienst. Bevor die Preziosa im romantischen Abendlicht träge aus dem Hamburger Hafen ausläuft, deckt er schon Tische ein, putzt unzählige Kilo Gemüse für mehrere Hundert Restaurantbesucher und trägt sein gewinnendes Lächeln zur Schau, zumindest wo die Gäste ihn bemerken können. Mehr als 340 schwimmende Urlaubsresorts kreuzen aktuell auf den Weltmeeren, 2020 sollen weitere neun in Dienst gehen. Mit ihnen wird auch die Zahl der Crewmitglieder steigen, die aus Billiglohnländern wie den Philippinen kommen und keine Aussicht auf eine Alternative haben.
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