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Im Meer aus Müll

Der wohl dre­ckigs­te Ort der Welt liegt am Ran­de von Ma­ni­la. Hier le­ben Fa­mi­li­en im Müll und vom Müll.
Ei­ne Or­dens­schwes­ter und ein Pries­ter wol­len et­was da­ge­gen un­ter­neh­men.

Text: Jörg No­wak
Fo­to: Hart­mut Schwarz­bach


Im­mer sind die gro­ßen Jungs sch­nel­ler als der klei­ne Char­les und schnap­pen ihm den bes­ten Müll weg. In den Stra­ßen pi­cken sie lee­re Co­la-Fla­schen und Plas­tik­be­häl­ter auf. Sä­cke­wei­se brin­gen sie den sch­mut­zi­gen Ab­fall zu den Re­cy­c­ling-Händ­lern, die ih­nen ein paar phi­l­ip­pi­ni­sche Pe­so-Mün­zen in die Hän­de drü­cken. Char­les wä­re ger­ne wie die gro­ßen Jun­gen. Denn wer ein paar Pe­sos ver­di­ent hat, kann sich Reis kau­fen und für ei­nen Tag satt wer­den.
Der auf­heu­len­de Mo­tor ei­nes Müll­wa­gens sch­reckt den sie­ben­jäh­ri­gen Char­les aus sei­nen hung­ri­gen Tag­träu­men. So­fort sprin­ten die gro­ßen Te­e­na­ger dem Last­wa­gen hin­ter­her. Der Äl­tes­te ist schon ganz nah dran und springt mit ei­nem mu­ti­gen Satz hin­ten in den Müll­wa­gen und lan­det in dem feuch­ten Ab­fall. Wäh­rend der LKW wei­ter­fährt, wühlt er in der mo­d­ri­gen La­dung zwi­schen ge­platz­ten Sä­cken, Hüh­n­er­k­no­chen und Fisch­köp­fen, mor­schen Holz­b­ret­tern und ros­ti­gen Stan­gen. Mit ei­nem Sie­ger­lächeln hält er wie ei­ne Trophäe ei­ne schwar­ze Spiel­zeug­pi­s­to­le hoch. Dann biegt der Müll­wa­gen ab und Char­les ver­liert ihn aus dem Blick. „Hier ha­ben wir kei­ne Chan­ce“, sagt Char­les zu sei­ner jün­ge­ren Cou­si­ne Jo­set­te und fasst ei­nen Ent­schluss: „Ich ler­ne schwim­men.“
Ma­ni­la liegt am Meer, und die Wel­len spü­len bei Wind viel Müll ins Ha­fen­be­cken. Char­les hat die gro­ßen Jun­gen an die­sem Ort sel­ten ge­se­hen. Hier trau­en sie sich nicht rein. Wer schwim­men kann, hat ei­ne Chan­ce, ein we­nig Geld zu ver­die­nen. Char­les lebt hier oh­ne sei­ne El­tern. Den Va­ter hat der Jun­ge nie ge­trof­fen. Seit Jah­ren sitzt er im Ge­fäng­nis. Die Mut­ter such­te sich ei­nen neu­en Lieb­ha­ber und ver­schwand in ei­ne an­de­re Stadt. Nur sei­ne Groß­mut­ter und sein Großva­ter ha­ben ih­ren En­kel nicht im Stich ge­las­sen. Aber sie sel­ber sind bit­ter­arm. Ih­re Slum­hüt­te ist not­dürf­tig aus Holz­b­ret­tern und Well­b­lech zu­sam­men­ge­zim­mert. Das Elends­vier­tel hier in Ton­do ist seit Jahr­zehn­ten die Müll­hal­de der Mil­lio­nen­me­tro­po­le Ma­ni­la. Die Um­welt­ver­sch­mut­zung dehnt sich zu­neh­mend vom Land aufs Was­ser aus. Acht Mil­lio­nen Ton­nen Plas­tik­müll ver­gif­ten Jahr für Jahr die Mee­re die­ser Welt.

Ers­te Schwimm­übun­gen
Weil sich im Ab­fall der rei­che­ren Stadt­vier­tel noch ei­ni­ges Ver­wert­ba­re be­fin­det, ha­ben sich klei­ne Re­cy­c­ling-Lä­den an­ge­sie­delt. Die Ärms­ten der Ar­men ge­hen hier­hin und ver­die­nen sich mit dem Müll­sam­meln we­nigs­tens ein paar Pe­sos. Es wirkt, als hät­te die Haupt­stadt je­ne Slum­hüt­ten an den äu­ßers­ten Rand ge­drängt. Auf Pfäh­len ste­hen die Ba­ra­cken, halb auf den Stei­nen der Ha­fen­be­fes­ti­gung und halb im Ha­fen­was­ser. Hier macht Char­les zu­sam­men mit den Nach­bar­kin­dern sei­ne ers­ten Schwimm­übun­gen. Die drei Me­ter zwi­schen den bei­den Pfäh­len pad­delt er wie ein Hund und klam­mert sich dann an den Holz­stamm, der sein Zu­hau­se stützt. Es dau­ert nicht lan­ge und Char­les schafft schon län­ge­re St­re­cken.
Nun geht es für den Jun­gen an die Ar­beit. Er will mög­lichst viel Ab­fall aus dem Ha­fen­be­cken sam­meln. Er nimmt An­lauf und platscht ins Was­ser. Auf­ge­scheucht glei­tet ei­ne Rat­te von ei­ner Holz­pa­let­te ins sch­mut­zi­ge Nass. Char­les kämpft sich durch die Al­gen und hat schon ei­ne Plas­tik­fla­sche im Blick. Auf der Was­ser­ober­fläche glänzt ei­ne öli­ge Schicht, die von den Oze­an­schif­fen stammt, die in Sicht­wei­te am Ha­fen­kai an­ge­legt ha­ben. Schwar­ze Rauch­wol­ken zie­hen auf. Ei­ni­ge Jun­gen ha­ben lan­ge Ka­bel ge­fun­den und sch­mel­zen mit ei­nem Feu­er die wert­vol­len Me­tal­le aus der Um­man­te­lung.
End­lich kann Char­les die Plas­tik­fla­sche grei­fen. Als er mit sei­ner Beu­te in der Hand ver­sucht zu­rück­zu­sch­wim­men, geht er für ei­nen Mo­ment un­ter, schluckt das dre­cki­ge Was­ser und er­reicht schwer at­mend das Ufer. Am Abend des lan­gen Ar­beits­ta­ges hat er ei­nen gro­ßen gel­ben Sack mit Plas­tik ge­füllt. Er sch­leppt ihn durch die en­gen Gas­sen des Sl­ums. 50 Pe­sos be­kommt er vom Alt­wa­ren­händ­ler für sei­ne Ta­ges­ar­beit. Mit dem Geld kauft er ein paar Hand­voll Reis und flitzt nach Hau­se. „Groß­mut­ter, Groß­mut­ter, schau mal, was ich ver­di­ent ha­be.“ Char­les Gro­ßel­tern sind stolz und be­schämt zu­g­leich.

„Er ist ei­ner von un­s“
Je­den Sonn­tag kommt Pries­ter Rey­nal­do Da­gui­te­ra zum Got­tes­di­enst zu den Fa­mi­li­en in den Was­sers­lum. Be­son­ders die Si­tua­ti­on der Kin­der be­rührt ihn. „Wenn ich se­he, wie Char­les und sei­ne Freun­de im gif­ti­gen Was­ser nach Müll su­chen, bricht es mir das Her­z“, sagt er zu der Groß­mut­ter. Zur Mes­se pre­digt er im Pries­ter­ge­wand, wenn er die Fa­mi­li­en in den Hüt­ten be­sucht, trägt er Je­ans und T-Shirt. „Er ist ei­ner von un­s“, sa­gen die Men­schen über ihn. Pfar­rer Rey­nal­do weiß, sei­ne Pre­dig­ten sind nur glaub­wür­dig, wenn die Nächs­ten­lie­be in Ta­ten um­ge­setzt wird.
Er will et­was ve­r­än­dern und star­tet mit ei­ner Es­sens­aus­ga­be für die Kin­der. „Doch wir kön­nen nicht al­le ver­sor­gen“, sagt Rey­nal­do zu sei­nen Mit­ar­bei­tern. „Wir müs­sen die Mäd­chen und Jun­gen wie­gen. Die­je­ni­gen, die Un­ter­ge­wicht ha­ben oder man­ge­l­er­nährt sind, kom­men zu­erst dran.“ In sei­ner Kir­chen­ge­mein­de fin­det Pries­ter Rey ei­nen en­ga­gier­ten Rent­ner, der für sein Le­ben ger­ne kocht. Der 82-jäh­ri­ge Ka­tho­lik steht früh auf und be­rei­tet ab 6.30 Uhr das Mit­ta­ges­sen für Dut­zen­de von Kin­dern zu. Mit Heißh­un­ger schla­gen Char­les und die an­de­ren Jun­gen und Mäd­chen zu.
Ein ers­ter Schritt ist voll­bracht. „Die Kin­der müs­sen auch et­was ler­nen und sie sol­len spie­len dür­fen“, sagt Pfar­rer Rey­nal­do zu sei­nem Team. Aber al­lei­ne die gro­ße Schul­ta­fel vom Ge­mein­de­zen­trum in den Slum zu trans­por­tie­ren, ist ein Kraf­t­akt. Auf ei­nem Kar­ren hol­pert das Un­ter­richts­ma­te­rial über die Haupt­ver­kehrs­stra­ße in die en­gen Gas­sen des Sl­ums. Zu­erst das Ler­nen, dann das Vergnü­gen, so lau­tet das Mot­to des Pries­ters. Al­so ste­hen Le­sen, Sch­rei­ben und Rech­nen auf dem Plan. Da­nach wird ge­sun­gen und ge­tanzt. Char­les und die an­de­ren Kin­der lie­ben es, dass ihr Pries­ter bei al­lem mit­macht. Da tanzt er im Rhyth­mus der Mu­sik mit um­ge­dreh­ter Ba­se­ball-Kap­pe auf dem Kopf zu dem Pop-Hit „De­s­pa­ci­to“. Char­les strahlt und singt laut mit. We­nig spä­ter fin­det er mit­ten im Müll ei­nen Schatz. Pries­ter Rey­nal­do starrt den Jun­gen un­gläu­big an, schaut auf die ab­ge­bro­che­ne Kühl­schrank­tür und ver­steht nichts. Char­les sch­leppt die Tür zum Ha­fen­be­cken und lässt sie ins Was­ser. Noch nie im Le­ben hat der Jun­ge ei­nen Kühl­schrank be­nut­zen kön­nen, aber er hat ver­stan­den, dass das Sty­ro­por-Ma­te­rial die al­te Tür in ein Boot ver­wan­deln kann. Stolz wie ein Ka­pi­tän pad­delt Char­les durch das Ha­fen­be­cken und sam­melt den Müll jetzt auf sei­nem klei­nen Schiff.

Pfar­rer Rey­nal­dos Traum
Pries­ter Rey­nal­do muss sch­mun­zeln, gleich­zei­tig zeich­nen sich Sor­gen­fal­ten auf sei­ner Stirn ab. Es gibt nicht ge­nug Geld, um das Es­sen re­gel­mä­ß­ig aus­zu­tei­len. Knapp ei­nen Eu­ro kos­tet die Verpf­le­gung pro Kind. Oh­ne Hil­fe von au­ßen kann der Pries­ter nicht wir­k­lich et­was än­dern und die Kin­der nicht aus dem Teu­fels­kreis von Ar­mut und Müll be­f­rei­en. Er ver­grö­ß­ert den Kreis der Un­ter­stüt­zer und kann die er­fah­re­ne Or­dens­frau Schwes­ter Ma­ry John Ma­nanz­an für die Mit­ar­beit ge­win­nen. Sie war schon an vie­len Pro­jek­ten in Ton­do be­tei­ligt und will ge­zielt mit Pro­gram­men die Müt­ter un­ter­stüt­zen. Doch Pries­ter Rey­nal­do muss sich noch mehr ein­fal­len las­sen. In der Ver­gan­gen­heit hat­te er be­reits für ein klei­nes Pro­jekt Spen­den aus Deut­sch­land von mis­sio be­kom­men. In ei­nem Brief be­rich­tet er über die ak­tu­el­le Si­tua­ti­on in Ton­do und über die Fa­mi­li­en in Not. Er sch­reibt von sei­nem Traum, ein Ge­mein­de­zen­trum zu bau­en. Da­rin sol­len die Kin­der tags­über ver­sorgt wer­den und ge­sun­de, aus­ge­wo­ge­ne Er­näh­rung er­hal­ten. Nach dem Früh­s­tück sol­len die Kin­der mit ei­nem klei­nen Bus in die Schu­le ge­fah­ren und spä­ter wie­der ab­ge­holt wer­den. Nach dem Mit­ta­ges­sen hät­ten sie dann im Zen­trum Zeit und Platz zum Ler­nen, Aus­ru­hen und Spie­len. Das ist Pries­ter Rey­nal­dos Traum.
mis­sio will hel­fen und sucht we­gen der Grö­ße des Pro­jekts nach ei­nem Ko­ope­ra­ti­on­s­part­ner. Mit der Spen­den­ga­la „Ein Herz für Kin­der“ ver­lau­fen die Ge­spräche po­si­tiv. Die ZDF-Sen­dung will über das Pro­jekt be­rich­ten und zwei Drit­tel der Kos­ten über­neh­men. Die Dreh­ar­bei­ten vor Ort sol­len von der Schau­spie­le­rin Bar­ba­ra Wus­sow, be­kannt durch die Sen­dun­gen „Das Traum­schif­f“ und die „Schwar­z­wald­k­li­ni­k“, be­g­lei­tet wer­den. Die 57-Jäh­ri­ge möch­te Bot­schaf­te­rin für das Hilf­s­pro­jekt wer­den und für Spen­den wer­ben. Aus die­sem Grund will sich Bar­ba­ra Wus­sow ei­nen ei­ge­nen Ein­druck ver­schaf­fen und scheut sich nicht vor dem Sch­mutz und Ge­stank im Müll­vier­tel von Ton­do. Pries­ter Rey­nal­do und Schwes­ter Ma­ry John füh­ren die Schau­spie­le­rin durch die en­gen Gas­sen bis zur Ha­fen­mau­er. „Wir brau­chen un­be­dingt Gel­der, um re­gel­mä­ß­i­ger ärzt­li­che Un­ter­su­chun­gen für die Kin­der be­zah­len zu kön­nen“, sagt Rey­nal­do. „Denn die Hüt­ten ha­ben al­le kei­ne Toi­let­ten. 2000 Fa­mi­li­en le­ben hier. Al­les lan­det im Was­ser des Ha­fen­be­ckens.“ Wäh­rend­des­sen schwim­men Char­les und die an­de­ren Kin­der in der Kloa­ke und su­chen nach Plas­tik. Mit ein paar lee­ren Fla­schen kommt der Jun­ge an Land. „Wir müs­sen das ma­chen, sonst ha­ben wir zu Hau­se nichts zu es­sen“, sagt er in ei­nem bit­ter erns­ten Ton.

Bar­ba­ra Wus­sow packt mit an
Bar­ba­ra Wus­sow ist scho­ckiert. „Es ist wir­k­lich der sch­mut­zigs­te und elends­te Ort auf der Wel­t“, sagt sie zu Pries­ter Rey­nal­do und Schwes­ter Ma­ry John. „Ich glau­be, der Ab­fall der gan­zen Welt schwimmt da­rin.“ Char­les und Jo­set­te ge­hen mit den Fla­schen zu ei­nem Plas­tik­sack. Bar­ba­ra Wus­sow be­o­b­ach­tet sie und packt so­fort mit an. Sie geht in die Ho­cke, hält den Müll­sack auf und hilft ih­nen. Die Kin­der sind be­geis­tert von der Frau, die ih­nen so viel Auf­merk­sam­keit schenkt. Zwi­schen den Dreh­ar­bei­ten für die ZDF-Sen­dung er­zählt Ba­ba­ra Wus­sow Schwes­ter Ma­ry John Ma­nanz­an, welch gu­te Er­in­ne­run­gen sie an die Klos­ter­schu­le in Wi­en hat, die sie als Kind be­such­te. Un­be­dingt will die Schau­spie­le­rin noch die Kir­che der Mis­si­ons­be­ne­dik­ti­ne­rin­nen von Tut­zing in Ma­ni­la se­hen, dem Or­den von Schwes­ter Ma­ry John. Ge­mein­sam be­ten sie das Va­ter­un­ser auf Deutsch und hal­ten ei­nen Mo­ment in­ne.
Da­nach ge­hen die ZDF-Auf­nah­men wei­ter und vor lau­fen­der Ka­me­ra be­rich­tet Bar­ba­ra Wus­sow, wie wich­tig das Pro­jekt von Pries­ter Rey­nal­do, Schwes­ter Ma­ry John und dem ge­sam­ten Team ist. „Schwes­ter Ma­ry John ist hier der En­gel der Ar­men. Sie gibt den Kin­dern Lie­be und Wär­m­e“, sagt Bar­ba­ra Wus­sow. „Kin­der sind un­se­re Zu­kunft. Wir ha­ben die Pf­licht, uns um sie zu küm­mern.“

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