Das vergessene TalIm Hochgebirge von Afghanistan leben Kirgisen und Wakhi von dem, was ihnen ihre Tiere und die kargen Böden geben. Nur wenn alle anpacken, können sie die langen Winter überstehen.
Ein Bericht über eine freie, friedliche Welt, bevor die Taliban sie zerstörten. |
Text: Andrzej Rybak; Foto: Florian Bachmeier
Es ist noch früh am Morgen, als die Yaks unruhig werden. Die Kälber, festgezurrt im Gehege aus Steinmauern, ziehen an ihren Fesseln und blöken. Nach einer langen Nacht haben sie Hunger. Die Yak-Mütter, die in der Nähe grasen, reagieren nervös. Mit tiefem, kehligem Muhen versuchen sie, die Kälber zu beruhigen. Eisiger Wind fegt durch die baumlose Landschaft im Wakhan-Korridor im nordöstlichsten Zipfel Afghanistans. Für die Yaks ist die Kälte kein Problem. Dank ihrer Wolle trotzen sie Temperaturen bis zu minus 50 Grad, wie sie hier im Winter herrschen.
Die Sonne steht bereits über den Gipfeln, als Anar und Tschenar aus der Jurte treten. Die beiden Kirgisen-Frauen tragen die traditionelle Tracht: lange rote Kleider über einer Hose, braunrote Pullover und Westen, dekoriert mit Ornamenten, Broschen und Münzen, die mit den Sowjetsoldaten nach Afghanistan kamen. Auffällig ihre Kopfbedeckung: hohe, zylindrische Kappen mit weißen Tüchern – das Zeichen, dass sie verheiratet sind.
Die Frauen gehen bedächtig, aber bestimmt ans Werk. Tschenar bindet ein Kalb los, das zu seiner Mutter stürmt und zu saugen beginnt. „Diese Kälber haben nie genug“, sagt die 25-Jährige. Zwei Minuten später holt sie das Kalb zurück ins Gehege, um die Yak-Kuh zu melken. „Wir nehmen nur einen Liter pro Tag“, erklärt Tschenar. „Dann darf der Nachwuchs wieder ran.“
Schafe und Ziegen sind die Existenzgrundlage der nomadischen Pamir-Kirgisen. Besonders stolz sind sie aber auf ihre Yaks. In Bozai Gumbaz, dem Lager von Anar und Tschenar, grasen 15 erwachsene Tiere. Die Menschen passen ihnen ihren Tagesablauf an. Die Yaks diktieren, wann ihre Halter aufstehen, essen und wann es Zeit ist, in neue Weidegründe zu wechseln.
Yaks liefern alles zum Leben
Seit Jahrhunderten hat sich daran nichts geändert. Dafür liefern die Tiere den Kirgisen alles, was sie zum Überleben brauchen: Wolle, Fleisch und Milch, aus der Butterschmalz und Käse hergestellt werden. Die Yaks werden bei Bedarf verkauft oder gegen Waren eingetauscht: Ein Bulle ist etwa 700 Euro wert, eine Kuh 400. Zudem arbeiten die Yaks als Tragtiere, sie sind schwindelfrei und schleppen gut 100 Kilo Last.
Der Wakhan-Korridor wird von zwei Flusstälern gebildet, dem des Wakhan und dem des Pandsch. Ein Lasttier ist hier überlebenswichtig: Den Landstreifen, der von den Gebirgsketten des Hindukusch im Südwesten, des Karakorum im Südosten und des Pamir im Norden eingeschlossen ist, erreicht man praktisch nur zu Fuß. Bis auf 7000 Meter falten sich die Berge auf, Straßen gibt es keine.
Dieses Randgebiet am „Dach der Welt“ ist dünn besiedelt, knapp 14000 Menschen wohnen hier. Sie stammen aus zwei Bevölkerungsgruppen: Hoch in den Bergen, an den Weiden, stehen die Jurten der Kirgisen; in den Flusstälern die Stein- und Lehmhütten der Wakhi.
Die Wakhi gehören zu den Ismailiten, einer Abspaltung des schiitischen Islam. Dank der abgeschiedenen Lage konnten die Ismailiten hier ihre Kultur und ihren Glauben gegenüber den Sunniten bewahren. Von den Kriegen, die Afghanistan in den vergangenen 40 Jahren verwüsteten, blieben sie verschont.
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