Medizin trifft GeisterglaubenUrsula Maier arbeitet als Kinderärztin in Ghana. Dort kämpft dieMissionsärztliche Schwester nicht nur gegen Aids, Krebs und Unterernährung, sondern auch gegen die Konkurrenz spiritueller Heiler. |
Text: Eva-Maria Werner; Fotos: Fritz Stark
Ursula Maier umschließt mit Daumen und Mittelfinger den Oberarm des Säuglings. Ein einfacher Test, der sofort signalisiert: Das Kind ist unterernährt. Sein dünnes Ärmchen füllt das Finger-Maßband der Kinderärztin nicht annähernd aus. „Ich weiß, dass Ihnen die Zeit hier im Krankenhaus lang wird“, wendet sich Ursula Maier verständnisvoll an die ungeduldige Mutter. „Aber Sie müssen noch ein Weilchen bleiben. Das Kind muss Gewicht zulegen, bevor ich Sie nach Hause lassen kann.“ Sie streicht dem Jungen über das winzige Köpfchen, schenkt der Mutter einen aufmunternden Blick und wendet sich dem nächsten kleinen Patienten zu. Sein Brustkorb hebt und senkt sich schnell. Mit dem Stethoskop hört Ursula Maier ihn ab. „Ich glaube, da ist ein Herzgeräusch“, sagt sie und beugt sich näher zum Kind.
Viel Zeit bleibt der Ärztin und Missionsärztlichen Schwester nicht für den einzelnen Patienten, zu viele warten in der Kinderstation, der Ambulanz, der Notaufnahme und im Frühchenzimmer auf sie. Die 43-Jährige arbeitet hoch konzentriert, schnell und aufmerksam. Anders ist das Tagespensum nicht zu bewältigen. 6000 Kinder kommen jährlich im Holy Family Hospital in Techiman, im Zentrum Ghanas, zur Welt. 150 Krankenbesuche stehen täglich an. Die Kinderstation mit 45 Betten ist ausgelastet, manchmal teilen sich die jungen Patienten ein Bett. Ursula Maier verzichtet während des Arbeitstages auf ihr Mittagessen, vergisst mitunter sogar zu trinken. Sie sei „eine Frau mit zwei Gaspedalen aber ohne Bremse“, charakterisiert eine Mitschwester die junge Ärztin. Dunkle Ringe unter den lebendig hin und her huschenden Augen weisen darauf hin, dass Ursula Maier sich selbst nicht schont. „Ja, ich war schon häufig krank“, gibt sie zu, weiß aber auch, dass ihr unermüdlicher Einsatz in Techiman schon viel bewirkt hat.
Vor knapp vier Jahren hat die Kinderärztin aus Schramberg im Schwarzwald ihre Arbeit in Ghana aufgenommen. Besuche in Techiman und ein Arbeitseinsatz bei ihrer Mitschwester Rita Schiffer in Attat, Äthiopien, bestärkten sie darin, nach Afrika zu gehen. Den Entschluss hat sie nicht bereut, „auch wenn vieles am Anfang sehr, sehr hart war und ich auch jetzt noch nicht mit allem klar komme“, sagt sie.
Hohe Kindersterblichkeit
Als Ursula Maier ins Holy Family Hospital kam, war die Kinderstation sehr vernachlässigt. Es gab keine passende Aids- und Krebsbehandlung für Kinder, keine geeigneten Magensonden und Spezialnahrung für Unterernährte. Viele Frühgeborene trockneten aus, die Kindersterblichkeit war sehr hoch. Die Medikation sah abenteuerlich aus. Nicht selten bekamen Kinder einfach die Hälfte einer „Erwachsenen-Tablette“ verabreicht, ob deren Inhaltsstoffe für sie geeignet waren oder nicht. Viel hat sich seitdem verändert. Die neu eingerichtete Kinderstation ist sauber und hell, Krankenschwestern kochen für unterernährte Kinder eine eiweiß- und kalorienhaltige Spezialnahrung nach einem Rezept der Weltgesundheitsorganisation. Alle drei Stunden führen sie den Frühchen Flüssigkeit zu, päppeln sie mit Hilfe von Brutkästen auf. „Mir ist vor allem wichtig, dass wir den Kindern beistehen, sie trösten und ihnen die Angst nehmen“, sagt Ursula Maier. Ungeduld mit Kindern duldet sie nicht. „Unsere Aufgabe ist es vor allem, die Schwachen und Kranken unter ihnen zu stützen, die es in der Gesellschaft schon schwer genug haben.“ Ihnen möchte sie Zuwendung schenken. „Jede Liebe zählt, und wenn sie nur für fünf Minuten ist“, sagt die Missionsärztliche Schwester. Baustellen gibt es im Krankenhaus noch genug: zu wenig Fachpersonal, zu wenig gute, medizinische Geräte und Platzprobleme. Doch was die Kinderärztin am meisten belastet, auf wassienichtvorbereitetwar,istderandere Umgang mit Krankheit, Behinderung und Schuld in der fremden Kultur. Überall begegnet ihr der Glaube an Geister, er ist eine soziale Realität. Ursula Maier weiß, dass es viel schwieriger und langwieriger ist, Veränderungen in den Köpfen zu bewirken als Arbeitsabläufe im Krankenhausalltag umzustellen.
Alles, was außergewöhnlich ist, ist zunächst einmal verdächtig. Kommt ein Kind mit sechs Fingern an einer Hand zur Welt oder mit einer Hasenscharte, sehen die Familie und das soziale Umfeld nicht selten Geister am Werk. Die Angst vor einem Schadenzauber ist groß: Das angeblich geistbesessene Kind könnte weiteres Unglück, zum Beispiel Todesfälle in der Verwandtschaft, auslösen. Deshalb wird es zur Behandlung nicht ins Krankenhaus, sondern zu einem spirituellen Heiler gebracht. Im 80.000 Einwohner zählenden Techiman bietet etwa der sich selbst als „mächtig“ bezeichnende Mallam Yussif, der auch eifrig in Zeitungen inseriert, seine Dienste an.
Mittler zwischen Mensch und Geisterwelt
Yussif versteht sich wie andere Heiler auch als Mittler zwischen Mensch und Geisterwelt. Wer zu ihm in die Sprechstunde will, zieht beim Betreten seines luxuriösen Hauses eine Nummer und wartet dann vor laufendem Fernseher darauf, an die Reihe zu kommen. Ohne Schuhe, aber mit Geld in der Hand, darf man schließlich das Zimmer des Heilers betreten. In einer Ecke des abgedunkelten Raumes hinter einem Berg aus leeren Fläschchen, Kalebassen, verstaubten Videokassetten, abgebrannten Kerzen und Muscheln sitzt Yussif im Schneidersitz. Er versucht, gestützt auf seinen Zauberstab, die verloren gegangene Harmonie zwischen Patient und Welt auf seine Weise wiederherzustellen: durch Beschwörung, Gebet und mit Hilfe von Kräutersubstanzen. Zwischen 40 und 50 Menschen suchen Yussif pro Tag auf.
Einlauf aus Eidechsenhaut
Ein Besuch beim Heiler hat oft negative Folgen für die Patienten. Nicht nur Kinder mit Behinderung werden zu spirituellen Heilern gebracht, sondern auch solche, deren Genesung auf sich warten lässt oder die chronisch krank sind. Die Behandlung ist oft wirkungslos oder verschlimmert den Zustand des Patienten sogar. „Wie oft schon haben wir Menschen aufgenommen, für deren Heilung es zu spät war. Scharlatanerie hatte für sie den Tod zur Folge. Das ist für mich unerträglich“, sagt Ursula Maier. „Wenn ein Mensch stirbt, dessen Tod hätte verhindert werden können, kann ich meine Gefühle nicht mehr zurückhalten“, gesteht sie. Und sie ist für jeden Patienten dankbar, dessen Leiden als „spirituell“ bezeichnet wurde und den sie und ihr Team doch noch retten können.
Wie den kleinen Jungen, der in der improvisierten Intensivstation in einer Ecke der Kinderstation liegt. Sauerstoffschläuche führen in seine Nase, er fiebert, seine Mutter Ama Felicia sitzt besorgt am Bettchen und hat ihre rechte Hand auf ihn gelegt. Sie schildert, was passiert ist: Der Junge hatte tagelang einen aufgeblähten Bauch. Ein sicheres Zeichen dafür, dass dort ein Geist Einzug gehalten habe. Die Familie ging zum Heiler. Dieser verabreichte einen Sud aus gekochter Kokosnusswurzel und machte mehrmals Einläufe mit einem Gemisch aus Bohnenmus und Eidechsenhaut. Dem Kind ging es immer schlechter. Mit Herz- und Nierenversagen, sprichwörtlich in letzter Sekunde, kam Ama Felicia mit ihm in die Kinderstation. Mittlerweile ist der Junge auf dem Weg der Besserung. Eine Lungenentzündung war Auslöser aller Probleme.
„Wir müssen dringend positive Erfahrungen vermitteln“, sagt Ursula Maier. „Je häufiger die Menschen erleben, dass wir viele Krankheiten heilen können und behinderte Kinder keine Gefahr für andere darstellen, umso eher werden sie das nächste Mal beim Auftreten von Krankheitssymptomen gleich zu uns kommen.“ Sie ist dankbar für die Unterstützung von Sozialarbeiter Simon Mensah. Der junge Ghanaer arbeitet seit wenigen Monaten in ihrem Team im Krankenhaus mit.
Traditionen prallen aufeinander
In Ghana, wo drei Kinderärzte für zwei Drittel des Landes zuständig sind – lediglich in der Hauptstadt Accra und an der Küste gibt es ein paar mehr –, sind auch Sozialarbeiter Mangelware. Dort, wo die Schulmedizin auf den Geisterglauben trifft, hat Mensah einen entscheidenden Vorteil: Er ist selbst Ghanaer, kennt die Traditionen und Vorstellungen seiner Landsleute und wird deshalb von ihnen ernst genommen. Er nimmt sich Zeit für Gespräche und baut damit Vertrauen auf. Ihm selbst hat ein Aufenthalt im Krankenhaus nach einer Behandlung beim spirituellen Heiler einst das Leben gerettet. Eine starke Motivation, sich nun für Bildung und Aufklärung einzusetzen. Er hat Erfolg. Auf ihn hören selbst die einflussreichen Großmütter, die den Worten der deutschen Ärztin oft keinen Glauben schenken und die Enkel mitunter vor Abschluss der Behandlung einfach nach Hause mitnehmen. Ansichten, Traditionen und Kulturen prallen hier aufeinander. Ungeduld hilft nicht weiter, weiß Ursula Maier. Auch wenn Geduld im Angesicht des Todes nicht leicht aufzubringen ist. „Ich muss lernen, manches zu akzeptieren. Es ist ein Teil ihrer Kultur, auch wenn es Leben kostet.“
Der Glaube an Geister und spirituelle Einflüsse, der selbst heute noch weite Schichten der Gesellschaft in Ghana durchdringt, ist seit Jahrhunderten als Ursache für Krankheit im Weltbild der Menschen verwurzelt. In einer Welt mit vielen Unsicherheiten bietet er eine Erklärung für jedes Unglück. Die spirituelle Welt ist für die Ghanaer zum Teil realer als die materielle und wird als stärker wahrgenommen.
Jedes praktische Problem hat eine spirituelle Seite. Die Angst vor den Einflüssen des Bösen treibt die Menschen in die Arme der Fetischpriester, selbsternannten Wunderheiler – und in die Kirchen. In Zeiten, in denen es keine anderen Möglichkeiten zu heilen gab, waren die spirituellen Heiler und Kräutermediziner oft die einzige Rettung. Auch wenn es einigen unter ihnen nicht wirklich um Heilung, sondern um Profit geht. Der Geisterglaube spielt ebenso für die Stabilisierung der sozialen Gemeinschaft eine große Rolle. Er trägt dazu bei, Hierarchien zu erhalten, Gesetze durchzusetzen und die Menschen von bösen Taten abzuhalten. Trotz alldem gibt Ursula Maier die Hoffnung nicht auf. „Denn wenn die Menschen spüren, dass es Alternativen gibt, ein Leben, das auf Liebe, Vertrauen und Verantwortung aufgebaut ist, dann verlieren auch die bösen Geister ihre Macht“, zeigt sie sich überzeugt.
Besuch vom Kräuterdoktor
Die meisten Menschen in Ghana sind Christen. „Viele gehen donnerstags in den heiligen Wald und opfern den Göttern, sonntags besuchen sie die heilige Messe“, bringt die Ärztin und Ordensfrau die Gleichzeitigkeit von traditionellem und christlichem Glauben auf den Punkt. Das Christentum hat sich erst vor etwa 80 Jahren in der Region etabliert, ist also noch ein recht junges Phänomen. „Aber ich glaube daran, dass es hier befreiend wirken kann“, sagt Ursula Maier. „Dass es der Angst und dem negativen Geisterglauben die Frohe Botschaft entgegenstellen kann. Schließlich habe ich selbst die Wahl, wem ich die Macht über mein Leben gebe“, führt die Missionsärztliche Schwester weiter aus, „dem guten, befreienden Gott oder der bösen Geisterwelt. Seit ich in Ghana arbeite, lese ich das Evangelium anders.“
Obwohl die Schlange der Patienten vor dem Sprechzimmer der Ärztin lange ist, nimmt sich Ursula Maier Zeit für ein Gespräch mit einem seltenen Gast: Kräuterdoktor Hien Kwabena hat eine junge Patientin ins Krankenhaus gebracht. Sie hat hohes Fieber und ist so schwach, dass sie alleine nicht mehr laufen kann. „Ich weiß nicht, wie ich noch helfen soll“, sagt er. Ausführlich berichtet er über die Symptome des Mädchens und welche Mittel er verabreicht habe. Ein Krankenpfleger übersetzt. Zwischendurch immer wieder zustimmendes Kopfnicken von Schwester Ursula. Sie lobt den Kräuterdoktor. Er habe verantwortlich gehandelt, nicht mit schädlichen Substanzen hantiert und könne sich seine Grenzen eingestehen. Immerhin gebe es auf dem weiten Feld der traditionellen Heiler nicht nur Scharlatane, gibt die Ärztin zu. Aber für Laien sei es fast unmöglich, einen guten von einem schlechten Heiler zu unterscheiden. Und so hört Ursula Maier weiter zu, versucht, die Tradition zu verstehen und ihre Sicht der Dinge einzubringen. Auf diese Weise wirkt sie mit – an der Unterscheidung der Geister. Tag für Tag.
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Austausch: Die Ärztin im Gespräch mit Kräuterdoktor Hien Kwabena (rechts).
Gerettet: Ama Felicias Sohn geht es schon besser.
Spiritueller Heiler: Mallam Yussif verdient viel Geld mit seinen Geisterbefragungen.
Gesellschaft im Wandel: Technischer Fortschritt und Geisterglaube existieren nebeneinander.
Krankenhaus: Seit etwa vier Jahren gibt es eine gute Kinderstation.
Visite: Am Morgen informiert sich die Ärztin an jedem einzelnen Bett.
Im Gespräch: Sozialarbeiter Mensah mit Ama Felicia.
Geduldsübung: Die Mütter harren den ganzen Tag bei ihren Kindern aus. Nachts bereiten sie sich ein provisorisches Lager unter den Bettchen.
Die Missionsärztliche Schwester Ursula Maier bei der Arbeit.
Geduld ist angesagt im Warteraum. Aber alle sind froh, dass es überhaupt eine gute Behandlung für Kinder im Krankenhaus gibt.
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