„Wie könnte ich diese Frauen im Stich lassen?“Als die Nachricht von der Auszeichnung kam, stand er gerade im Operationssaal. Denis Mukwege, 65, arbeitet in einer der gefährlichsten Regionen der Welt: Im Osten der Demokratischen Republik Kongo, wo seit mehr als 20 Jahren ein Konflikt um wertvolle Rohstoffe tobt. Der Gynäkologe und Sohn eines Pastors behandelt die Opfer, kämpft für faire Lieferketten und gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. 2018 erhielt er für sein Engagement den Friedensnobelpreis. |
Herr Dr. Mukwege, was bedeutet der Friedensnobelpreis für Sie?
Für mich ist er die Anerkennung des Leids der Frauen im Kongo, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Aber der Preis ist auch eine Bürde. Die Frauen erwarten, dass meine Stimme gehört wird und sich ihre Situation verbessert. Deshalb bin ich im vergangenen Jahr viel gereist. Ich habe Angela Merkel getroffen, Emmanuel Macron, die Königin von Belgien. Ich treffe viele Regierungschefs und bitte sie, uns zu helfen, dem Leid der kongolesischen Frauen ein Ende zu setzen.
Haben Sie damit Erfolg?
Ich glaube, solange der Konflikt andauert, kann sich vor Ort nichts grundlegend ändern. Aber es ändert sich etwas auf internationaler Ebene.
Inwiefern?
Ich war 2018 Co-Vorsitzender des Beratungskomitees der G7-Staaten zum Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau. Dieses Komitee hat den Regierungschefs Gesetzesvorschläge gemacht und darum gebeten, alle diskriminierenden Gesetze abzuschaffen, die Teil ihrer Verfassungen sind. Diese Empfehlungen betreffen nicht nur die G7, sondern alle Länder weltweit, auch den Kongo. Es war das erste Mal, dass auf dieser Ebene Fragen zur Gleichheit von Mann und Frau und zum Kampf gegen sexuelle Gewalt behandelt wurden. Beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben wir unter der Schirmherrschaft Deutschlands die Resolution 2467 vorgeschlagen, die sich auf Opfer sexueller Gewalt konzentriert. Es ging auch darum, das Leid von Kindern anzuerkennen, die Opfer von Vergewaltigungen geworden sind, und um entsprechende Sanktionen.
Im Kampf um Rohstoffe wie Coltan, das in jedem Handy steckt, setzen Milizen in der Demokratischen Republik Kongo sexuelle Gewalt als Kriegswaffe ein. Der Konflikt dauert schon mehr als 20 Jahre an. Warum ändert sich nichts?
Das ist eine Frage des Profits. Die Menschen wollen immer mehr, ohne jedes Gefühl für Ethik. Wir können unsere Handys nicht billig kaufen in dem Wissen, dass sie auf Kosten von Frauen und Kindern produziert sind. Das muss aufhören. Die Unternehmen haben die Möglichkeit, Mineralien zu fördern und die Menschen fair zu entlohnen. Ich wäre bereit, 20 Prozent mehr für mein Handy zu bezahlen, wenn ich sicher sein könn-te, dass es sauber ist. Dieser Krieg ließe sich innerhalb kürzester Zeit beenden. Das Problem ist, dass der politische Wille fehlt. Die Konsumenten müssen uns in unserem Kampf unterstützen. Es ist nicht normal, dass Menschen dafür leiden, dass es anderen gut geht. Vielleicht ist das eine Auswirkung der Globalisierung, aber wir brauchen auch eine Universalisierung der Menschenrechte.
Welche Verantwortung trägt die kongolesische Regierung für den Krieg?
Im November hat die Regierung erklärt, dass sie ehemaligen M23-Kämpfern Amnestie gewähren will. Diese Menschen haben getötet, vergewaltigt. Ich bin der Meinung, wer diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, sollte niemals Straffreiheit bekommen. Es gibt keinen Weg, die Dinge zu verändern, solange es keine Gerechtigkeit gibt.
Sie sind eine bekannte Persönlichkeit. Was können andere Menschen gegen sexuelle Gewalt tun?
Ich glaube, dass das Thema alle betrifft. Sexuelle Gewalt findet in unseren Häusern statt, in den Straßen, in öffentlichen Transportmitteln, in unserem Arbeits-leben. Dafür muss jeder Mann ein
Bewusstsein haben. Denn Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, leiden darunter ein Leben lang. Die Frauen haben schon viel getan, um ihre Rechte zu stärken. Ich appelliere an die Männer, ihre Haltung zu ändern. Sie müssen das patriarchalische, machistische System aufgeben mit einer Männlichkeit, die toxisch wirkt. Männer sollten Frauen als ebenbürtig betrachten, sie sollten Probleme durch Dialog lösen und nicht mit Gewalt. Jeder Mann kann etwas tun. Denn sexuelle Gewalt ist nicht an einen Kontinent, an ein Volk oder eine Rasse gebunden. Sie ist ein globales Problem.
Sie behandeln seit vielen Jahren Opfer sexueller Gewalt. Was treibt Sie an?
Vor allem der Mut der Frauen, ihre Fähigkeit, trotz ihres eigenen Leids nicht an sich selbst, sondern an andere zu denken, weiter zu lieben. Wenn ich das sehe, fühle ich mich ganz klein.
Sind Sie religiös?
Ich glaube an Jesus Christus. „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“: Das ist der Leitfaden, nach dem ich mein Leben ausrichte. Man kann nie sagen: „Es ist genug.“ Man muss sich jeden Tag neu vornehmen: „Heute muss ich jemandem meine Liebe schenken, einen anderen unterstützen, jemandem nützlich sein. Wenn wir alle so denken würden, wäre unsere Welt besser.
Die Frauen, die Sie in der Panzi-Klinik behandeln, haben körperlich wi seelisch großen Schaden erlitten. Ist Heilung für sie überhaupt möglich?
Im Krankenhaus behandeln wir mehr als 1800 Frauen im Jahr. Etwa 98 Prozent können sich physisch wieder erholen. Aber wenn jemand gedemütigt und unmenschlich behandelt wird – und das vor dem Ehemann, den Kindern, der ganzen Gemeinschaft –, destabilisiert ihn das. Die Erinnerung kommt immer wieder. Was wir medizinisch für die Frauen tun, macht vielleicht zehn Prozent aus. Wenn sie kommen, erzählen sie uns oft: „In meinem Dorf wurde ich gemieden, niemand wollte mit mir essen, mein Mann hat mich verlassen.“ Wenn Menschen leiden, brauchen sie das Gefühl, dass sich jemand um sie kümmert. Wir müssen ihnen unsere Liebe schenken, ihnen zeigen: Du bist ein Mensch! Ihnen das Gefühl geben: „Was in meinem Dorf passiert ist, war falsch. Vielleicht haben die Menschen dort mich nicht verstanden. Und jetzt finde ich einen Ort, an dem mein Leben einen neuen Sinn erhält.“
Seit einem Mordanschlag leben Sie auf dem Klinikgelände. Haben Sie je daran gedacht, ins Ausland zu gehen?
Es gab eine Zeit, als es mir zu viel wurde und ich das Land verlassen habe. Aber dann fingen die Frauen im Panzi-Krankenhaus an, Zwiebeln zu sammeln und zu verkaufen, um die Rückflugtickets für meine Familie und mich zu bezahlen. Frauen, die nicht mal einen Dollar pro Tag für sich selbst zur Verfügung haben. Wie könnte ich diese Frauen im Stich lassen?
Interview: Beatrix Gramlich
Foto: Heiko Junge/ AFP via Getty
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