„Behindert ist man nicht, man wird es“Als Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK setzt sich Verena Bentele für mehr
soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft ein. Ein Job, der Durchhaltevermögen und Kampfgeist
erfordert. Beides bringt die erfolgreichste deutsche Paralympikerin aus ihrer sportlichen Karriere mit. |
Verena Bentele, 40, ist seit 2018 Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK. Davor war sie vier Jahre lang Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderung. Sie coacht Führungskräfte und hält Vorträge zu Themen wie Vertrauen, Motivation und Leistungsdruck. Bentele ist von Geburt an blind. Sie wuchs am Bodensee auf einem Biobauernhof auf. Ihre Eltern ermutigten sie früh, vieles selbstständig auszuprobieren – Reiten, Skifahren, Radfahren. Ihre sportliche Karriere beendete die erfolgreichste deutsche Paralympikerin 2011. Insgesamt gewann sie zwölf Goldmedaillen
im Biathlon und Skilanglauf.
Hilft die Pandemie, den VdK-Forderungen nach Verbesserungen im Gesundheitssystem Nachdruck zu verleihen?
Zumindest ist es so, dass die Corona-Pandemie den Handlungsdruck deutlich erhöht hat. Dass unser Gesundheitssystem eher ökonomischen Maßstäben dient als dem Wohl der Patienten, das fällt uns gerade auf die Füße. Die Pflegekräfte sagen: Wir wurden kaputt gespart, und wir haben viel zu wenig Personal. Das ist eine unserer Forderungen: Dass das Gesundheitssystem sich wieder mehr am Wohl des Patienten und am Wohl der Mitarbeiter orientieren soll und nicht an der Gewinnmaximierung.
Was läuft ansonsten noch falsch in unserer Gesellschaft? In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von einer drohenden Spaltung ...
Eine Riesengefahr sehe ich darin, dass Arm und Reich immer weiter auseinander driften. Wir haben immer mehr Menschen, die ihre Miete kaum bezahlen können und die unter den hohen Energiepreisen leiden.
Welche Änderungen wären nötig?
Der VdK fordert etwa eine Kindergrundsicherung, von der besonders Alleinerziehende und Familien mit geringen Löhnen profitieren würden. Durch die Pandemie hat sich die Situation vor allem für die 2,8 Millionen Kinder, die als arm gelten, spürbar verschlechtert. Außerdem plädieren wir für eine gesetzliche Krankenversicherung für alle. Auch Beamte, Selbstständige und Politiker sollen einzahlen. Und das Rentensystem muss umgestellt werden und alle miteinbeziehen, um Altersarmut vorzubeugen.
Welche Note geben Sie Deutschland beim Thema „Inklusion“?
Eine Drei. Das Thema ist auf der Agenda, und es ist auch schon viel passiert. Aber zufrieden bin ich nicht. Es ist für Menschen mit Behinderung etwa extrem schwierig, Arbeit zu finden. Man hat auch versucht, das Bildungssystem für alle zu öffnen, ohne es aber zu verändern. Also, ohne die Klassen kleiner zu machen und mehr Personal einzustellen.
In Tansania haben Sie Einrichtungen für Menschen mit Behinderung besucht. Sie waren ganz angetan, warum?
In einer inklusiven Schule gab es Kinder mit Behinderungen, aber auch solche, die in ihrem Ort keine Schule hatten oder deren Eltern sie nicht unterstützen konnten. Diese Kinder halfen sich intensiv gegenseitig und lernten so die Bedürfnisse und Einschränkungen der anderen kennen. Das war beeindruckend.
Viele sind unsicher im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Welchen Umgang wünschen Sie sich?
Ich freue mich, wenn Menschen mich ansprechen und lieber eine Frage zu viel stellen als zurückhaltend zu sein und dann vielleicht von falschen Annahmen ausgehen. Unsicherheit entsteht, weil sich Menschen mit und ohne Behinderung nicht kennen. Ich glaube, wirklich offen zu sein und zu fragen, ist immer das Beste, weil man so eben auch in den Austausch kommt.
Einmal haben Sie gesagt: „Behindert ist man nicht, man wird es ...“
Ja, Behinderung kommt oft von außen, weil die Bedingungen nicht für alle Menschen angepasst sind. Ich bekomme jetzt öfter beim Bezahlen das Kartenlesegerät hingehalten und das hat nur noch einen Touch-Screen und keine Knöpfe mehr. Für mich ist das einfach nur nervig, weil ich dann entweder bar zahlen oder jemandem, der in der Nähe steht, meine PIN verraten muss.
Sie haben den Kilimandscharo bestiegen, mehrmals beim Radmarathon Trondheim-Oslo mitgemacht, Sie laufen an Hochhauswänden herunter. Warum?
Grenzen haben mich immer schon fasziniert. Ich finde es schön, immer wieder in neue Bereiche zu kommen, neue Sportarten zu lernen, schneller zu sein, Geschwindigkeiten zu fühlen, meine Angst zu überwinden. Man erfährt dadurch viel über die eigenen Fähigkeiten. Die Grenzen, die mir die Blindheit gibt, muss ich ja nicht zwingend akzeptieren. Ich habe die Chance, auch mit diesen Grenzen umzugehen.
Als Ihr damaliger Begleitläufer 2009 während der deutschen Meisterschaften im Langlauf ein falsches Kommando gab, stürzten Sie schwer. Wie gelang es Ihnen, neues Vertrauen aufzubauen?
Man muss sich Unterstützung suchen, langsam anfangen, über die Angst sprechen, damit sie nicht so groß wird. Ganz wesentlich ist, sich ein neues Ziel zu setzen. Es ist eine aktive Entscheidung, zu sagen: Ich vertraue wieder und erkenne für mich, dass mich das weiterbringt. Das gilt auch in Partnerschaften oder im Beruf. Angst zu haben, reduziert ja nicht irgendein Risiko. Es macht mein Leben nur stressiger, wenn ich permanent von der Angst getrieben bin.
Können Sie mit den Heilungsgeschichten aus der Bibel etwas anfangen?
Ich habe mich als Kind schon gefragt: Wer glaubt denn an sowas? Nachdem ich mit meiner Oma einmal einen Wallfahrtsort besucht hatte, fragte ich sie, ob sie sich ernsthaft davon versprochen hätte, dass ich danach wieder sehen kann? Ich wollte sie ein bisschen ärgern. Und ich fand ihre Antwort so toll, dass ich seitdem die Heilungsgeschichten mag. Sie sagte, sie habe nicht daran geglaubt, aber sie wollte mir Mut geben, dass ich mit den Herausforderungen des Lebens gut klarkomme. Es geht ja nicht darum, dass jemand vom Rollstuhl aufsteht und wieder geht oder – wie in meinem Fall – die Augen aufmacht und wieder sieht und alles super ist. Also, super ist mein Leben eh... Sondern es geht darum, dass man mit jeder Voraussetzung, die man hat, gut umgehen und sich bewegen kann, Ziele erreichen und ein schönes Leben haben kann. Das ist eine gute Botschaft, finde ich.
Interview: Eva-Maria Werner; Foto: Susie Knoll
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