Text: Pia Scheiblhuber, Illustrationen: WWS

Gastfreundschaft beginnt dort, wo Schwellen überschritten werden, Grenzen, die das Draußen vom Drinnen trennen. An der Schwelle entscheidet sich, wen man hereinlässt und zu wem man hineinkommt. Bei der Familien-Weihnachtsfeier steht die Gästeliste klar fest: Onkel und Tanten kommen, Geschwister und Großeltern, Cousinen und Neffen. Man hält sich an Routinen. Sie geben Halt, erlauben jedoch nur wenig Spontaneität

Wie reagieren wir, wenn Fremde an die Tür klopfen?

Was ist, wenn unerwartet Fremde vor der Tür stehen? Vor über 2000 Jahren zogen Maria und Josef von Herberge zu Herberge und baten um eine Unterkunft. Von allen Gasthäusern wurden sie abgewiesen. Sie waren Fremde ohne Bleibe, und keiner wollte sie über die Schwelle lassen. Niemand hatte Platz für sie. Ein polnischer Weihnachtsbrauch greift den Gedanken der Herbergssuche auf: Es wird ein zusätzliches Gedeck auf den Tisch gelegt, das bereitsteht, falls ein Be- dürftiger an die Tür klopft. Aber wie würden wir reagieren, wenn das wirklich passiert?

Risiko und Chance zugleich

Gäste aufzunehmen, vor allem fremde, ist ein Risiko. Wem wir unsere Türen öffnen, den lassen wir in unser Leben. Bei Unbekannten wissen wir nicht: Sind sie Freund oder Feind? Es ist unvorhersehbar, wie sich die Situation entwickeln wird, und es erfordert daher Mut, Fremde hereinzulassen. Vertraute Rituale wie beim Familienweihnachtsfest funktionieren nicht mehr.

Das Risiko kann aber auch zur Chance werden: Spontane Gastfreundschaft gegenüber Unbekannten – sei es der neue Nachbar oder die neue Bekanntschaft aus dem Gartenbauverein – eröffnet Möglichkeiten: Wir müssen Routinen verlassen, sind mit neuen Denkmustern und Konflikten konfrontiert – können aber auch Freundschaften schließen. So die Idealvorstellung. Manch einer mag aus der Gastfreundschaft einen Nutzen ziehen. Doch: Sollte sich wahre Gastfreundschaft nicht durch Uneigennützigkeit auszeichnen? Erst wenn sich sowohl der Gast als auch der Gastgeber keine Vorteile erhoffen, wird echte Begegnung möglich. Wer hingegen hohe Erwartungen hat und jede Begegnung nach ihrem Profitpotenzial beurteilt, verschließt von vorneherein viele Türen. Ist das schlimm oder einfach nur ehrlich?

Dass Pflichterfüllung und Freiwilligkeit trotzdem zusammen funktionieren, zeigt sich an Weihnachten, wenn wir versuchen, die Verpflichtung zur Einladung und freudige Erwartungen in Einklang zu bringen.

Gastgeschenke: Wer beschenkt eigentlich wen?

Blumen, Wein, Pralinen: Wer eingeladen ist, hat oft ein Gastgeschenk dabei. Aber der Schenkende ist vor allem der Gastgeber, indem er die Gäste aufnimmt, bewirtet und dafür sorgt, dass sie sich wohlfühlen. Die Rollen scheinen klar verteilt: Der Gastgeber bietet an und gibt, der Gast nimmt dankbar an. Beide haben sich dabei an Regeln zu halten, gehen gegenseitige Verpflichtungen ein. Es ist wie ein unausgesprochener Pakt: Man zeigt Interesse am anderen, tauscht sich aus, hört einander zu. Wie beim Small Talk sind gewisse Themen tabu, um keine Grenzen zu überschreiten. An welchen Punkten die Stimmung kippt, hängt von der kulturellen Prägung der Beteiligten ab. Es sind Kleinigkeiten, die verärgern: Schuhe anlassen, die Tasse Tee nicht annehmen, sich unaufgefordert auf das Sofa legen, über Geld sprechen. Jede Geste gestaltet die Beziehung – zum Positiven wie zum Negativen.

Der Gast als Gastgeber

„Gastfreundschaft gelingt da, wo der Gast zum Gastgeber des Gastgebers wird“: Der Satz des französischen Philosophen Jacques Derrida wirkt zunächst verwirrend. Doch er bringt auf den Punkt, was im besten Fall passiert: Gast und Gastgeber tauschen die Rollen. Die Gastgeberin ist zwar in ihrem Heim, merkt aber, dass da je- mand ist, bei dem sie sich zuhause fühlt. Gastgeberschaft ist nicht unbedingt an einen bestimmten Ort gebunden. Sie wirkt vor allem zwischenmenschlich.

 

Schon gewusst?

Nach zwei Tagen muss der Gast im Haus mit anpacken – das besagt der altgermanische Rechtssatz „Zwei Tage Gast, ab dem dritten Tag an Hausgenosse“. Ähnliche Sprichwörter gibt es noch heute. In Tansania sagt man: „Nach dem dritten Tag drücke deinem Gast eine Hacke in die Hand.“ Der Spruch „Besuch ist wie Fisch – nach drei Tagen stinkt er“ geht auf den US-amerikani- schen Politiker Benjamin Franklin zurück.

 

Begrüßungsrituale weltweit

Blumengirlanden und Tücher in Indien, Sprungtanz der Massai in Kenia und Tansania, Datteln in der arabischen Kultur und der Nasenkuss der Maori in Neuseeland – weltweit gibt es ganz unterschiedliche Rituale und Dinge, mit denen Menschen traditionell ihre Gäste begrüßen.

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