Text: Beatrix Gramlich, Fotos: Hartmut Schwarzbach
Bei Tagesanbruch setzt sich der Pilgerzug in Bewegung. Am Horizont schiebt sich träge ein riesiger Feuerball in den Himmel. Vereinzelt versperren Bäume die Sicht auf das grandiose Naturschauspiel. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch an ihren Stamm jemand die Axt anlegt und sie zu Feuerholz verarbeitet. Rund 120 junge Leute laufen auf der einst von Wald gesäumten, sandigen Straße in Richtung Rumbek, Hauptstadt des Bundesstaates Lakes im Südsudan. Die bunt gemischte Truppe ist ein Spiegel des Vielvölkerstaats Südsudan mit seinen mehr als 60 Sprachen und Ethnien, zwischen denen es immer wieder zu blutigen Konflikten kommt. Doch sie sind gemeinsam unterwegs – und allein das ist ein Zeichen.
„It’s time to build peace“ – „Es ist Zeit, Frieden zu schaffen“, appellierte Papst Franziskus 2023 bei seinem Besuch in der Hauptstadt Juba an das südsudanesische Volk. Jetzt prangen seine programmatischen Worte auf Flaggen und Bannern, Rucksäcken und T-Shirts. Gleich einem Manifest tragen die jungen Frauen und Männer sie auf die Straße. Sie sind viele, und sie gehen zu Fuß wie sonst nur die Ärmsten. Das erregt Aufmerksamkeit, sodass Passanten stehen bleiben, Autofahrer ihr Tempo drosseln.


Wie eine rotbraune Schnur zieht sich die Straße von der ugandischen Grenze bis nach Khartum, der Hauptstadt des arabisch-muslimischen Erzfeindes Sudan, von dem sich die Schwarzafrikaner im christlichen Süden nach Jahrzehnten erbitterter Kämpfe lossagten. 2011 erklärte der Südsudan seine Unabhängigkeit: der jüngste Staat der Welt und bitterarm. In keinem Land ist die Müttersterblichkeit so hoch wie hier, und auf dem Index für menschliche Entwicklung belegt er den vorletzten Platz, nur Somalia und Sudan gelten als noch fragiler.
Rache zu üben, ist im Südsudan Pflicht
Seit dem Papstbesuch brechen die Maria-Ward-Schwestern, die in Rumbek eine weiterführende Schule für Mädchen betreiben, jedes Jahr mit ihren Schülerinnen und Jugendlichen aus dem gesamten Bistum zu einem Friedensmarsch auf. Er entstand er aus der Idee der Mädchen, zum Heiligen Vater nach Juba zu pilgern. Der damalige Bischof von Rumbek, Christian Carlassare, war sofort begeistert. Denn er weiß, wie wichtig Versöhnung ist. „Gewalt ist hier allgegenwärtig“, sagt er. „Wenn ein Familienmitglied getötet wird, ist es Pflicht, Rache zu üben.“ Der Comboni-Missionar wurde kurz nach seiner Ernennung zum Bischof nachts im Schlaf überfallen und schwer verletzt. Wie sich bald herausstellte, steckte hinter dem Anschlag ein Priester, der die Diözese lange verwaltet und selbst Ambitionen auf das Amt hatte.


Jetzt kehrt Carlassare als Bischof der neu errichteten Diözese Bentiu an seine alte Wirkungsstätte zurück. Er begleitet Séamus Patrick Horgan, der seit April vergangenen Jahres Nuntius für den Südsudan ist. Die jungen Leute holen die Männer am Flughafen ab und feiern mit ihnen Gottesdienst. Am nächsten Tag wollen die beiden sie ein Stück auf dem Pilgerweg begleiten.
Aus vielen Völkern eine Nation formen
Eine Woche lang werden die Jugendlichen unterwegs sein und am Ende rund 150 Kilometer zurückgelegt haben. Dabei werden sie mit einem Gebet in den Tag starten und in Gruppen über die Bibel sprechen. Sie werden in Schulen übernachten, in Gegenden kommen, vor denen ihre Eltern sie warnen würden, und erleben, dass wildfremde Menschen sie dort willkommen heißen. Genau deshalb gehen die Schwestern mit den jungen Leuten diesen Weg. Denn sie wollen Brücken bauen, alte Denkmuster und Feindseligkeiten überwinden. Somit ist der Pilgermarsch nicht nur ein Schritt zum Frieden, sondern auch dazu, aus den vielen Völkern im Südsudan eine Nation zu formen.
Südsudans Blutiger Weg zum Staat
Der Südsudan ist ein geschundenes Land. Generationen haben nur Krieg und Gewalt erlebt. Bereits zwei Jahre nach der Unabhängigkeit brachen zwischen Präsident Salva Kiir und seinem Stellvertreter Rick Machar, einst Waffenbrüder im Kampf gegen den Norden, alte Rivalitäten neu auf: auf der einen Seite Kiir von der Volksgruppe der Dinka mit Regierungstruppen, auf der anderen sein Vize, ein Nuer, und Milizen. Erst 2018 gelang es der Afrikanischen Union, ein Friedensabkommen auszuhandeln und den blutigen Konflikt zu beenden. Doch das Land kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder flammen örtliche Kämpfe auf. Nach den jüngsten Gewaltausbrüchen im Nordosten und Spannungen innerhalb der Einheitsregierung steht der Südsudan erneut am Rand eines Bürgerkriegs.
„Wir haben von klein auf gelernt, dass Dinka unsere Feinde sind“, sagt Thabita, 19 Jahre und eine Nuer. Am Abend, bevor der Pilgermarsch startet, sitzt sie in kurzen Hosen und rosa Plüschpantoffeln mit anderen Maria-Ward-Schülerinnen im Schatten eines Niembaums und erzählt. Sie war neun, als bewaffnete Dinka das Dorf überfielen, in dem sie mit ihrer Großmutter lebte. Vier Monate lang versteckten sich die alte Frau und das Mädchen im Busch. Doch auch im Wald lauerten Gefahren. „Es gab Schlangen, Tiger, Löwen“, erinnert sich Thabita. Ein Jahr später wurde ihr Vater von Dinka getötet.
Lernen, Konflikte zu klären
Bei den Maria-Ward-Schwestern wohnt sie zum ersten Mal in einer Dinka-Gegend. Die 400 Mädchen in Schule und Internat stammen aus vielen verschiedenen Ethnien. Das ist Teil des Programms. Jeder Neuankömmling wird einer „Familie“ zugeordnet, in der ältere Schülerinnen die Rolle von weiblichen Verwandten übernehmen. „Da ist ein Nuer-Mädchen die Tochter einer Dinka-Mutter und die Enkelin einer Nuba“, erklärt Schwester Helena Erler, 51. Dass sie hier ungeachtet aller Stammesunterschiede mit offenen Armen empfangen werden und lernen, Konflikte untereinander zu klären, ist für viele eine völlig neue Erfahrung.
„Wie wir hier leben, kann ein Modell für die Gesellschaft sein. Die Nation ist wichtiger als der Stamm“, sagt Martha Dawli. Sie ist eine zurückhaltende junge Frau, die sich in der Gruppe nur selten zu Wort meldet. Doch was sie sagt, zeugt von hohem Reflexionsvermögen. Ginge es nach ihrem Vater, wäre die 20-Jährige nie zur Schule gegangen, längst verheiratet und hätte ihm eine stattliche Zahl Kühe eingebracht.
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