Text: Pia Scheiblhuber, Fotos: Cathia Hecker
Ein helles Bimmeln ruft alle zusammen. Mit einer kleinen Glocke läuttet Schwester Maria Goetzens den Tag ein. Es ist Punkt 8.45 Uhr, Zeit für die Morgenbesprechung in der Elisabeth-Straßenambulanz (ESA) in Frankfurt. Ärztinnen, Pfleger, Praktikantinnen und Hauswirtschafterin set- zen sich in einen Kreis im Eingangsbe- reich der Praxisräume. Sie verteilen Aufgaben und planen den Tag, der gleich turbulent starten wird.
Als sich um neun Uhr die Türen öffnen, kommen einige Männer herein, gehen an den Empfang oder bedienen sich am Kaffeetisch und setzen sich leise in den Wartebereich. Noch ist drinnen alles ruhig, vor der Tür wird es aber immer lauter. Eine Frau in rosa Daunenjacke mit Schnapsflasche in der Hand steht vor dem Eingang und schreit. Ivana Culjak, zahnmedizinische Fachangestellte, versucht, sie zu beruhigen. Die Frau beschimpft sie und schlägt ihr auf den Arm
Keine Hektik trotz Trubel
In den Sprechzimmern hat derweil die alltägliche Routine begonnen: Medikamente ausgeben, Wunden behandeln, Haare waschen. Auf einmal stürzt Ur- sula Hebrank, Fachärztin für Psychiatrie, in die Ambulanzräume. „Da liegt ein Mann vor der Eingangstür und ist nicht ansprechbar.“ Sofort eilen ihr Kol- legen zu Hilfe. Zu dritt rütteln sie ihn wach, hieven ihn in einen Rollstuhl und bringen ihn in ein Behandlungszimmer.
Trotz des Trubels kommt keine Hektik auf. Das Team, das die Ärztin und Missionsärztliche Schwester Maria Goetzens leitet, arbeitet ruhig und routiniert und vermittelt damit den Patienten: „Wir haben alles unter Kontrolle, wir kümmern uns.“ Für viele Obdach- lose sind die Praxisräume zu einer Art Wohnzimmer geworden, sie fühlen sich hier gut versorgt und ernst genommen. Zu den Patienten, die immer wieder kommen, gehört zum Beispiel der Mann, der gerade auf einem blauen Plastikstuhl vor dem Pflegeraum sitzt und Kaffee trinkt. Er stellt sich als Peter* vor, „bisschen über sechzig“. Er wartet darauf zu duschen und seine Tablettenzu bekommen. Wie lange er schon auf der Straße lebt, daran kann er sich nicht erinnern. Er komme seit Jahren in die Elisabeth-Straßenambulanz, „weil mir hier geholfen wird, hier ist es gut“. Er sitzt ruhig da, redet mit sich selbst. Die Kaffeetasse mit dem Motiv einer Berglandschaft mit Kühen umgreift er fest, als Schwester Maria ihn fragt: „Wo haben Sie letzte Nacht geschlafen?“ „Bei der Sparda-Bank.“
Hinter ihm im Pflegeraum wird ein Mann entlaust. Schwester Maria nennt das Zimmer mit Pflegebadewanne, Dusche und Liege augenzwinkernd „Beauty-Salon“. Und die Regale, in denen Wäschevorräte verstaut werden, „Präsenzbibliothek“. „Wir sind eine der wenigen Anlaufpunkte in Frankfurt, an denen Obdachlose das Gefühl haben, dass sie ankommen dürfen. Hier bekommen sie Hilfe, hier können sie sich aufwärmen. Wir nehmen sie so, wie sie sind“, sagt die 64-Jährige. „Wir verstehen uns als Brückenbauer. Unser Ziel ist, diese Menschen in das Regelkrankensystem einzugliedern.“ Doch das gelingt nur selten.
Immer neue Gesichter
Der Durchschnittspatient der Straßenambulanz ist 46 Jahre alt, männlich, EU-Bürger und nicht versichert. „Der Grad der Verelendung nimmt zu. Wer psychisch angeschlagen oder suchtkrank ist und keine Unterkunft hat, für den verschlimmern sich heilbare Erkrankungen“, sagt Schwester Maria. Es sei sehr schwer, aus diesem Teufelskreis aus „Multiproblemlagen“ herauszukommen.
Eine Hürde, um im Ernstfall schnell Hilfe zu bekommen, ist der häufig ungeklärte Versicherungsschutz der Obdachlosen. „Wir müssen oft mühsam den Krankenversicherten-Status recher- chieren: Ist der Patient gar nicht versi- chert? Oder hat er eingeschränkte An- sprüche? Das wissen die wenigsten“, erklärt Schwester Maria.
Sie wollen die ganze Reportage lesen? Jetzt kontinente bestellen!