Zauber des AnfangsMit der Geburt beginnt unser Leben. Für eine junge Mutter ist der Zauber des Neuanfangs
sehr präsent. Zum Beginn eines neuen Jahres spüren wir alle diese Kraft. Wie aber können
wir des Gefühl von Anfang und Neubeginn auch im Alltäglichen wiederentdecken? |
Plötzlich ist alles anders. Der Tag wird zur Nacht und die Nacht zum Tag – ohne Unterschied. Seit unser Sohn da ist, gehört mein Körper nicht mehr nur mir. Jedes Lächeln ist von unschätzbarem Wert, jede Stunde Schlaf auch. Und jedes Weinen erzeugt Aufruhr. Ein kleiner Mensch hat das Licht der Welt erblickt und alles auf den Kopf gestellt. Er bestimmt nun, wann wir essen und wann wir ruhen, wieviel wir arbeiten und spielen.
Es ist alles anders, auch wenn sich eigentlich nichts geändert hat. Familie und Freunde sind geblieben, Wohnort und Beruf, Hobbies und Vorlieben auch. Doch die vertrauten Geräusche aus der Nachbarschaft klingen plötzlich ungewohnt und aufregend, wenn ich sie mit den Ohren des Neugeborenen höre. Jede Begegnung mit vertrauten Menschen, jeder Spaziergang im Stadtviertel wird zur neuen Erkundung. Ein Anfang ist gesetzt, der das Gewohnte und Vertraute in neuem Licht erstrahlen lässt.
Wie wäre es, die Kraft des Anfangs und des Perspektivwechsels im Alltäglichen immer wieder neu zu entdecken, auch wenn kein Neugeborenes Ihr Leben verändert? Dazu inspiriert das Werk der Philosophin Hannah Arendt. Sie beschreibt das menschliche Handeln als das Setzen eines neuen Anfangs.
Neue Fäden einweben
In ihrem Buch „Vita activa oder vom tätigen Leben“ unterscheidet sie dabei insgesamt drei Formen des Tätigseins: das Arbeiten, das Herstellen und schließlich das Handeln. Wir arbeiten für unseren Lebensunterhalt oder stellen Produkte her. Doch nur wenn wir handeln, setzen wir auch einen neuen Anfang. Ganz im Sinne des lateinischen Wortes Anfang, initium, ergreifen wir handelnd die Initiative. Und zwar nicht im luftleeren Raum, sondern mitten in unserem gewachsenen Bezugsgewebe – als wäre das Leben ein Beziehungsteppich, in den ich immer neue Fäden einweben kann.
Arendt hat mit dieser Definition des Handelns selbst einen Perspektivwechsel vorgenommen. Sie definiert das Leben nicht vom Tod, sondern von der Geburt her. Für das menschliche Handeln bedeutet das: Wer handelt, richtet sich nicht am Ende, am Verfallsdatum des Tuns, aus, sondern wer handelt, setzt auf die Kraft des Anfangs. Nicht damit alles radikal neu werde, sondern um die gewachsenen und geschätzten Beziehungen und Gewohnheiten zukunftsfest zu machen. Wer handelt, wagt Veränderung.
Zu Beginn eines neuen Jahres tut es mir gut, mich auf den Zauber des Anfangs einzulassen. Ich wünsche mir viele kleine „Neubeginne“. Nicht, damit alles stets radikal neu werde, sondern damit das Vertraute immer anders bleiben darf.
Von Miriam Leidinger; Foto: Friedrich Stark
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