Millionen syrische Flüchtlinge sind vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land geflohen. Foto: Geerlings-Diel |
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Syrien
Der exportierte Bürgerkrieg
In Syrien sind Millionen Menschen vor dem Krieg geflohen, viele als Binnenflüchtlinge innerhalb des Landes, mehr als eine Million in die Nachbarländer Jordanien und Libanon. Dort warten sie in provisorischen Lagern und einfachen Behausungen auf das Ende des Krieges.
Die Luftangriffe, die Bomben, die Schießereien – wir haben das nicht mehr ausgehalten. Einmal gab es 27 Tage ununterbrochen Kampf, dann ist die Armee in unsere Häuser eingedrungen. Sie haben Kinder und alte Leute umgebracht und ausgeraubt. Mich und viele andere haben sie gefangen genommen und gefoltert.“ Mit leiser Stimme, immer wieder stockend und offenbar schwer traumatisiert, berichtet der junge Syrer, der als Name Mohammed und als Beruf Arbeiter angibt, von der Flucht aus seiner Heimatstadt Aleppo und dem Bürgerkriegsland Syrien.
Rund 50 Frauen, Männer und einige Kinder warten im Innenhof neben der kleinen Kirche in Madaba, einer Kleinstadt südlich der jordanischen Hauptstadt Amman. Die Caritas hat hier ein Flüchtlingszentrum eingerichtet, heute wird sie Decken und eine Box mit Hygiene-Artikeln verteilen. Wie viele Syrer ist Mohammed zuerst innerhalb Syriens auf der Flucht. Als es ihm in der Hauptstadt Damaskus zu gefährlich wird, macht er sich mit Frau und den drei kleinen Kindern im Alter von nur vier, sechs und acht Jahren auf den langen Weg und überquert schließlich an einem unbewachten Abschnitt die Grenze zu Jordanien.
„Wir konnten nichts mitnehmen, kein Geld, keine Vorräte“, sagt er. Im Winter gelangen sie in das große Flüchtlingscamp Saatari, es ist kalt, es regnet, die Zelte sind undicht. Trotzdem: „Hier in Madaba geht es uns jetzt besser“, sagt er. Fast alle Flüchtlinge haben in der Heimat ihr Haus verloren. Viele haben die Gewalt und das Morden direkt miterlebt, waren schutzlos Misshandlungen ausgeliefert. Berichte und Handy-Fotos zirkulieren. In tiefer Sorge haben etliche ihre Verwandten zurückgelassen, manchmal sogar den Ehemann, der im Gefängnis sitzt oder verschwunden ist, vielleicht aber auch mitkämpft. Nicht alle, die das gefährliche Land verlassen wollen, schaffen es an den zahlreichen Posten und Kontrollen vorbei über die Grenzen. Caritas international schätzt, dass mehr als ein Drittel der 22 Millionen Einwohner innerhalb Syriens auf der Flucht sind.
In Jordanien sind sie Gäste
Nach Angaben des UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, sind bis Mitte Juni 1,6 Millionen Menschen in die Nachbarländer Syriens geflohen. Mehr als 470.000 Flüchtlinge hat allein Jordanien aufgenommen, eine unglaubliche Leistung für ein kleines Land mit gerade mal sechs Millionen Einwohnern. Offiziell ist Jordanien neutral, die Regierung spricht nicht von Flüchtlingen, sondern von Gästen. Die traditionelle arabische Gastfreundschaft ist ein hohes Gut. Weil das Land Angst vor sozialen Spannungen hat, versuchte es bisher die Errichtung großer Flüchtlingslager zu vermeiden. Lediglich die Zeltstadt Saatari nahe der syrischen Grenze fungiert als Auffanglager, dort hausen rund 90.000 Menschen.
Die anderen leben überall im Land verteilt, der soziale Druck wächst, die Mieten explodieren, Preise für Lebensmittel, Benzin und Kochgas steigen, es gibt fast keine Arbeit für die Neuankömmlinge. In das Caritasbüro von Madaba sind an diesem Tag vor allem sunnitische Muslime gekommen, sie halten zu den Rebellen und verfluchen den Diktator. Wie konnte es soweit kommen? Warum führen die Bürger Syriens heute Krieg gegeneinander? Wie so oft – es fing harmlos an.
Der blutige Konflikt entwickelte sich im März vor zwei Jahren aus Protesten gegen Staatschef Assad. Damals reagierte das Regime mit einer Mischung aus Unsicherheit, schlechter Planung und Brutalität auf ein paar Graffiti-Parolen von Schulkindern in der Stadt Dar‘a. Inzwischen ist der Bürgerkrieg längst zu einem Krieg der Konfessionen eskaliert. Anrainer-Staaten und regionale Mächte mischen im Machtpoker mit. Die Rebellen, überwiegend Sunniten, haben Zulauf erhalten von Salafisten, Dschihadisten, Muslimbrüdern und Al-Quaida-Anhängern. Einzelne Gruppierungen werden unterstützt von den arabischen Golf-Staaten und der Türkei, andere von pakistanischen Moslems. Zudem kämpfen Kriminelle und Räuberbanden auf eigene Rechnung, Entführungen und Erpressungen zeugen davon. Auf der anderen Seite unterstützen die Alawiten, eine schiitische Sekte, der auch der Assad-Clan angehört, den syrischen Machthaber. Neben seiner regulären Armee griffen zuletzt die kampferprobte schiitische Hisbollah aus dem Libanon, iranische Brigaden und irakische Milizen in die Kämpfe ein.
Ortswechsel in den Libanon
„Keine Fotos, keine Fotos“, – Angst steht den Menschen ins Gesicht geschrieben. Sie haben uns ihr Zelt am Rande der libanesischen Bekaa-Ebene geöffnet – in Sichtweite der syrischen Grenze. Ein barmherziger Libanese erlaubt Bürgerkriegsflüchtlingen hier zu lagern, die Zelte hat eine Hilfsorganisation zur Verfügung gestellt. Ahmal, 57, seine Frau Mona, 53, mit ihren Töchtern Delal, 25, und Minya, 19, und drei kleine Kinder leben hier, mit Teppich, dünnen Matratzen und einigen Habseligkeiten, die sie auf ihrer Flucht mitnehmen konnten. Wir sitzen auf dem kühlen Boden, trinken den angebotenen Tee und hören ihre Geschichte: Sie wohnten in einem Vorort von Damaskus, erlebten die Kämpfe und das Morden der Assad-Soldaten. Minya muss als Sozia auf einem Motorrad miterleben, wie vor ihr der Fahrer erschossen wird. Als ihr Haus von einem Granaten-Treffer zerstört wird, fliehen sie. Sie halten zur Freien Armee, gegen den Diktator Assad. Alle in ihrem Stadtviertel seien politisch einer Meinung gewesen, sagt Ahmal. Und dann bricht es aus ihm heraus: „Warum greifen die westlichen Staaten nicht ein?“, fragt er uns. „Wir wollen keine Spenden, wir wollen kein Essen, wir wollen zurück nach Syrien.“ Zurückgehen werden sie nur, „wenn Assad verschwindet“, sagt Ahmal.
Drei Stunden später sitzen wir nicht weit entfernt in der Stadt Zahlé in einer kleinen Wohnung bei einer christlichen Familie, die aus Syrien geflüchtet ist und jetzt von der lokalen Caritas unterstützt wird. Ein altes Ehepaar mit ihrer erwachsenen Tochter: Georges, 76 Jahre, Mariam, 62, und Mirna, 32, leben hier ohne Strom, nur mit einem kleinen Ofen und zwei Betten und sie beweinen ihr Unglück: Auch sie wohnten in einer kleinen Stadt nahe Damaskus, waren wohlhabend. Als die Krise begann, kamen die Rebellen als erstes zu ihnen und forderten sie auf, die Stadt zu verlassen. Diese Region gehöre jetzt den Muslimen, sagte man ihnen. Sie berichten über Kidnapping und Erpressung, die Kirchen und Glaubensbilder sind zerstört, das Haus ihrer Schwester haben die Rebellen besetzt. „Wir wollen die Ordnung und die Sicherheit zurück, die vor der Revolution herrschten“, sagt Mirna. Kein Zweifel, sie halten zu Assad, sie hoffen, dass er die Oberhand behält, beten gar für seinen Sieg. „Wenn Gott will, werden wir zurückkehren“, sagt Mirna, „aber wenn die Rebellen gewinnen, werden wir nicht gehen“, fügt sie hinzu.
Über 500.000 syrische Flüchtlinge sind inzwischen im Libanon angekommen, der selbst gerade mal vielleicht fünf Millionen Einwohner hat. Ein enormes zusätzliches Konfliktpotenzial: Die syrischen Flüchtlinge treffen auf eine libanesische Gesellschaft, die sich nach jahrelangem Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, einer teilweisen Besetzung durch Israel im Jahr 2000, einem Krieg zwischen der israelischen Armee und der schiitischen Hisbollah in 2006 und ständigen innenpolitischen Spannungen nur mühsam auf eine fragile staatliche Ordnung einigen konnte. Im Libanon gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften, die größten davon sind maronitische Christen, schiitische und sunnitische Muslime. Daneben gibt es Drusen, aramäische Christen, melkitische griechisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, alawitische Muslime. Bis zur so genannten Zedernrevolution im Jahr 2005 hatte Syrien als Schutz- und Besatzungsmacht fungiert, es hat viele Verbündete im Nachbarland, aber auch radikale Gegner. Jetzt schwappt der Bruderkrieg, der sich zum Krieg der Konfessionen wandelt, wieder zurück.
Von Markus Lahrmann
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