Seid mutig!Sei vorsichtig! Eltern sagen und denken diesen Satz unzählige Male. Die Sorgen hören
auch nicht auf, wenn das eigene Kind bereits erwachsen ist. Zur Für-Sorge um einen
anderen Menschen scheint das Sich-Sorgen-Machen unvermeidlich dazuzugehören. |
Doch wie viel Sorge ist genug? Als Jugendliche ärgerten mich die elterlichen Sorgen und lösten Widerspruch aus: Das ist so übertrieben! Ich werde in meinen Freiheiten beschnitten. Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Dabei wollte ich mich ausprobieren, die Welt kennenlernen und eigene Fehler machen. Immer wieder habe ich mir damals gewünscht, meine Eltern hätten statt mich zu warnen gesagt: Sei mutig, probiere es aus!
Nun wachse ich selbst in die Rolle eines Elternteils hinein und spüre die Last der Verantwortung und die nagende Sorge als tägliche Begleiterin. Selber Mut zu wagen, ist nicht leicht. Gefahren sehen und dennoch den anderen den eigenen Weg gehen lassen, ist noch ungemein schwerer. Das bedeutet nicht, dass man nicht warnen oder Grenzen setzen darf. Es wäre fahrlässig, es nicht zu tun. Aus Schutz entsteht Geborgenheit. Doch darüber hinaus braucht es das Vertrauen, dass alles gut gehen wird. Dass die andere Person für sich selbst sorgen kann.
Ein schwieriger Balanceakt
Das verlangt Courage von beiden Seiten: von den einen den Mut loszulassen und von den anderen den Mut, sich freizuschwimmen. Es braucht den Mut, Freiheit zu wagen – ohne frei von Vertrauen, Geborgenheit und Unterstützung zu sein. Kein schöner Nervenkitzel, sondern Mut zum Kontrollverlust. Das klingt alles prima in der Theorie.
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Und in der Praxis? Wie viel Kontrolle überlasse ich dem geliebten Menschen? Wo liegt die Grenze zwischen Schutz geben und Freiheit gewähren? Wie viel Sicherheit benötige ich, wie viel Sicherheit benötigt der andere? Es ist ein gemeinsamer Balanceakt, bei dem wir sicher immer wieder daneben treten werden, in der Eltern-Kind-Beziehung, aber auch mit Partnerinnen und Partnern oder Freundinnen und Freunden. Es braucht Vertrauen in ein tragendes Sicherheitsnetz – nicht getragen vom Geist der Furcht, sondern vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (2. Timotheus 1,7). |
Das bewegt mich und lässt mich wünschen: dass wir mutige Entscheidungen treffen, ohne leichtsinnig zu werden; dass wir beherzt handeln, ohne die anderen aus dem Blick zu verlieren; dass wir uns aus unseren Komfortzonen hinauswagen, ohne die Geduld mit uns und anderen zu verlieren.
Text: Miriam Leidinger; Fotos: imago images
Was mich bewegt
Man muss den Dingen
Die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen -
und dann
Gebären...
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit...
Man muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.
Von Rainer Maria Rilke
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Aus:
Rainer Maria Rilke
Gesammelte Werke
Die Gedichte
Anaconda Verlag, 2020
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