Mit Muße älter werdenIn der Erinnerung an ihre Großeltern stößt Miriam Leidinger auf das schöne Wort Muße.
Ein alter Begriff, der für Gelegenheit oder Möglichkeit steht. Die Theologin erklärt, was Muße
im Alltag bedeutet und wieso sie nicht mit Freizeit gleichgesetzt werden kann. |
Ein Haus mit grünen Fensterläden und einer Magnolie davor. Im Garten spendet ein Walnussbaum Schatten. Ein Haus voller Geschichte und Geschichten. Wenn ich an meine Großeltern denke, denke ich an dieses Haus: an große und kleine Familienfeiern und die Spiele der Kindheit in Garten und Keller, an die gute Hausmannskost meiner Oma und die Mittagsruhe der Großeltern, wenn wir Enkelkinder eine Folge der „Augsburger Puppenkiste“ sehen durften. Und an das einträchtige Bild der Großeltern vor den Abendnachrichten, die Teller mit geschmierten Broten vor sich. Danach wurden zuverlässig noch die Spielkarten ausgepackt.
Im Rhythmus sein
Ein fest rhythmisierter Tagesablauf prägte das bürgerliche Leben meiner Großeltern und ließ ihnen Platz für viele eigene Interessen. Für Familie und Fernreisen, Kultur und Weiterbildung, den Ökumenekreis der Gemeinde oder den Wanderverein. Sie genossen die dritte Lebensphase und die Möglichkeiten, die sich ihnen durch die frühe Pensionierung meines Großvaters boten.
Uns Enkelkindern erzählten sie oft von den Grauen des Krieges und den entbehrungsreichen Nachkriegszeiten als Kinder und Jugendliche im zerstörten Köln. Bilder, die sie nie vergessen konnten und die sie geprägt haben. Umso dankbarer schauten sie auf das Erreichte zurück und voll Gottvertrauen auf das, was noch vor ihnen lag.
Rückblickend kommt mir das angestaubte Wort „Muße“ in den Sinn, wenn ich an meine Großeltern und das alte Haus denke. Muße als erfüllte Zeit, über die man selbst verfügen und die man zum eigenen Zweck nutzen kann – nicht zu verwechseln mit dem modernen Konzept der Freizeit, wie wir sie heute kennen. Freizeit dient der Erholung von der Arbeit und wird häufig gleichgesetzt mit Nichtstun und Entspannung.
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Aktive Passivität
Muße ist hingegen nicht Müßiggang, sondern aktive Passivität. Eine Zeit des Gestaltens und Werkens – alleine oder in Gesellschaft. Manche finden die Muße beim Gärtnern oder Malen, andere beim Engagement in einem Verein oder in Diskussionen mit Nachbarinnen und Freunden. Wer sich selbst verwirklichen will, braucht Muße, stellte schon Aristoteles fest. Wer Muße findet, ist weniger abhängig von den Einflüssen und Reizen des Alltags und kann selbstbestimmter agieren – weil man weiß, wo das Herz hängt und wo man zum Strahlen kommt. |
Das tut gut, nicht nur in der dritten Lebensphase. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass ich bei meinen Großeltern erleben durfte, was es bedeuten kann, seinem Leben Muße zu geben. Das alte Haus erinnert noch daran. Und die Muße wird in der Erinnerung bleiben, auch wenn das Haus eines Tages nicht mehr da sein wird.
Text: Miriam Leidinger, Fotos: Jörg Loeffke/KNA, Reinhard Hölzl/picture alliance
Zur Person
Miriam Leidinger, 36, ist promovierte Theologin, arbeitet im Bereich politische Entwicklungszusammenarbeit und hat von ihren Großeltern gelernt, wie sehr Muße das Leben bereichern kann.
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