Hetze dich nicht!Gerade in der Lebensmitte rast die gefühlte Zeit nur so. Beruf, Familie, Kinder, pflegebedürftige
Angehörige, Hobbys, Ehrenamt... Alles will unter einen Hut gebracht werden. Theologin Miriam
Leidinger fragt sich, was das für ihr Leben bedeutet. |
„Hetze dich nicht!“, denke ich und laufe doch eiligen Schrittes los. „Keinen Stress“, schreibe ich und prüfe doch unentwegt, ob ich schon eine Antwort auf meine WhatsApp-Nachricht bekommen habe. „Genieße den Tag“, wünsche ich mir an freien Tagen und kann es doch nicht lassen, im Kopf eine Liste, mit dem, was ich erledigen will, zu führen.
Geduld ist nicht meine Stärke – nicht mit anderen und am wenigsten mit mir selbst. Am liebsten erledige ich alle Dinge zügig und nutze die Zeit effizient: schnell die E-Mails beantworten, zwischendurch den Einkauf erledigen, im Kopf die Woche vorplanen. Eine Qual, wenn es mal anders kommt, die Bahn verspätet ist, der Behördengang ewig dauert oder Kopfschmerzen meine Pläne durchkreuzen.
Was kommt als Nächstes?
Diese innere Unruhe begleitet mich schon immer durchs Leben. Sie treibt mich an und lässt mich fragen: Was kommt als Nächstes? Und sie lässt mich planen: Wie komme ich da hin? Sie macht mich aber auch rastlos und unzufrieden, wenn ich merke, das ich etwas nicht beeinflussen kann oder rückblickend denke: Warum habe ich die Zeit nicht noch mehr genossen? Warum habe ich nicht intensiver im Augenblick gelebt?
Das Gefühl der Schnelllebigkeit und des Sich-Hetzen-Müssens hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Gerade in der rechnerischen und gefühlten Lebensmitte rast die gefühlte Zeit nur so. Nicht umsonst wird sie als „Rushhour des Lebens“ bezeichnet. Es herrscht Hochbetrieb: im Beruf vorankommen, vielleicht mit Partner oder Familie sesshaft werden, Kinderbetreuung organisieren, Angehörige pflegen, Hobbys, Sport, ein Ehrenamt... Alles will unter einen Hut gebracht werden. Kein Wunder, dass ich geschäftig und routiniert geworden bin, um den Alltag zu meistern.
Kurz nach Luft schnappen
Aber ich bin auch angekommen in einem Leben mit vielen Routinen. Ist es das jetzt?, ruft mir ungeduldig mein Selbst aus der Vergangenheit zu. Und wieder: Was kommt als Nächstes? Doch diesmal will ich keine schnelle Antwort geben, merke ich. Ich will mich selber nicht hetzen, sondern lieber mal kurz Luft schnappen, zurückschauen und feststellen: Das habe ich erreicht. So manches war anders geplant, fehlt vielleicht oder hätte besser laufen können – und ist doch gut so, wie es ist.
„Lass dich von der Zukunft überraschen und stresse dich nicht“ zu meinem Lebensmotto machen, will ich trotzdem nicht. Was das in aller Ambivalenz bedeutet, hat gerade das vergangene Jahr im Umgang mit der Corona-Pandemie gezeigt. Aber großzügiger werden mit mir und meinem Tempo, das wäre doch was. Es täte gut, es öfter mal anzupassen und zu verweilen – und dabei zu merken: Es geht voran, auch wenn du Wurzeln schlägst.
Text: Miriam Leidinger, Foto: KNA/Harald Oppitz
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