Aufbruch im AlterDas Alter ist mit Abschied verbunden. Körper und Geist lassen nach. Und doch erkennt Theologin
Miriam Leidinger in dieser Lebensphase eine besondere Kraft und Lebendigkeit. Denn auch
wer altert, steht mitten im Leben und hat viele Möglichkeiten sich einzubringen. |
Über das Alter, das Abschiednehmen, wollte ich zum Schluss dieses Lebensbogens schreiben – doch so recht will mir das nicht gelingen. Meine Gedanken und Überlegungen kehren immer wieder zum Anfang und zum Anfangen zurück. Umso mehr ich übers Altern nachdenke, umso bunter und lebendiger wird das Bild vor meinem inneren Auge. Sicherlich sind da körperliche Gebrechen, Einsamkeit und Krankheit, aber auch viel Engagement in Familie und Gesellschaft, neue Freiheiten und Berufungen, Dankbarkeit und Hoffnung.
Wer altert, steht mitten im Leben. Auch wenn vieles langsamer geht oder anderes weniger wird. Alt-Werden ist kein Abschied auf Raten, sondern ein beständiges Austarieren von Möglichkeiten: Was geht noch? Was geht vielleicht erst jetzt? Was darf ich gehen lassen? Jedes Alter hat seine Zukunft. Und im Alter muss nicht alles beim Alten bleiben – auch der Glaube nicht.
Du kannst jederzeit neu geboren werden
Dazu kommt mir das nächtliche Zwiegespräch von Jesus mit dem hohen jüdischen Würdenträger Nikodemus, einem Pharisäer und Mitglied des Hohen Rates, in den Sinn, von dem das Johannesevangelium berichtet: „Ja, du kannst jederzeit – auch im Alter – neu geboren werden“, antwortet Jesus auf Nikodemus’ Frage. Er spricht vom spirituellen Aufbruch und Umbruch und bringt damit die Kernbotschaft des christlichen Glaubens auf den Punkt: Du kannst das Reich Gottes und Gottes Wirken in der Welt jederzeit neu entdecken und daran mitwirken.
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Mir gefällt der Gedanke, dass Aufbrechen und Neuanfangen im christlichen Glauben nicht den Jungen vorbehalten ist. Im Gegenteil: Vielleicht gibt es sogar besondere Affinitäten und Parallelen zu den Herausforderungen des Alters. Weil man lernen muss, Gewohnheiten, Freunde, Lebensumstände und Selbstverständlichkeiten loszulassen oder sich auf die Hilfe anderer einzulassen. Die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast hat für das Einüben dieser Haltung den Ausdruck „abschiedlich leben lernen“ geprägt. |
Sie beschreibt damit, dass paradoxerweise in der Erkenntnis der eigenen Grenzen und auch in tiefer Trauer die größte, auch schmerzhafte Lebendigkeit und Offenheit für das Leben zu spüren ist. Und so schließt sich der Kreis. Wo im Abschied der Neuanfang steckt und im Alten der Aufbruch aufscheint, da ist Gott – mitten unter uns, mitten im Leben, wie am Anfang so auch im Alter.
Text: Miriam Leidinger; Fotos: Heiko Becker/picture alliance, Corinne Simon/KNA
Zur Person
Miriam Leidinger, 36, ist promovierte Theologin, arbeitet im Bereich politische Entwicklungszusammenarbeit und mag den Gedanken, dass Aufbrechen und Neuanfangen nicht nur den Jungen vorbehalten ist.
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