Der Mörder meiner KinderKann eine Mutter dem Mann vergeben, der ihre Töchter getötet hat?
Mehr als 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda gehen
Menschen den schwierigen Weg der Versöhnung. |
Text: Eva-Maria Werner; Fotos: Fritz Stark
Noch vor zwei Jahren wäre es für Marie Mukagasana undenkbar gewesen, neben dem Mörder ihrer Familie, Valens Nteziryaya, zu sitzen. Und noch immer ist es schwer. Nteziryaya hat neben ihr Platz genommen, während sie sich an jedes Detail des Schreckenstages erinnert. Niemals in ihrem Leben wird sie den 21. April 1994 vergessen können. Am Morgen ist die damals 27-Jährige noch unterwegs, um irgendwo etwas Essbares für ihre Töchter Athanasia (5) und Clarisse (3) aufzutreiben. Erfolglos. Am Abend irrt die junge Frau durch den nahe gelegenen Wald. Allein. Ihr Mann und ihre beiden Töchter sind tot. Mit dem Blut der Opfer am Körper, betäubt vom Schmerz und der Angst, sucht sie ein Versteck. Sie lebt, aber ein Teil von ihr ist an diesem 21. April gestorben, für immer.
„Wir dachten, dass die Pfarrei ein sicherer Ort ist. Deshalb haben wir dort Schutz gesucht“, sagt Mukagasana. Als die Hutu-Milizen am 7. April beginnen, die Häuser der Tutsi anzuzünden und deren Kühe zu töten, flüchten 35 000 Tutsi aus den umliegenden Dörfern wie Marie und ihre Familie auf das von hohen Mauern umzäunte, weitläufige Gelände der Pfarrei Cyanika. So viele Menschen, so viel Verzweiflung und nur ein Priester, der mit ihnen ausharrt. Mukagasana spricht voll Wärme und Anerkennung über Pfarrer Joseph Niyomugabo, der das wenige Essen ausschließlich an die Kinder verteilte. Am Abend des 21. April ist auch er tot.
„Als wir die Soldaten mit ihren Gewehren und die Hutu-Milizen mit Messern und Macheten den Hügel hinaufkommen sahen, rechneten wir mit dem Schlimmsten“, sagt die heute 49-Jährige. Die Bewaffneten zertrümmern die Schutzmauer an mehreren Stellen und dringen in das Gelände ein. Sie eröffnen das Feuer auf Kinder, Frauen und Männer. Die Milizen reißen den Menschen die Kleider vom Leib, hacken mit der Machete Arme und Köpfe ab, bevor sie sich die wenigen Wertsachen ihrer Opfer in die Taschen stopfen. Auf einmal steht Valens Nteziryaya bewaffnet vor Marie und ihrem Mann Athanase, die ihre Kinder umklammert halten. Das Ehepaar kennt ihn flüchtig, er kommt aus ihrem Dorf, ist Vater von sechs Kindern und Maurer. Mit wenigen Hieben tötet er Athanasia, Clarisse und Athanase und verletzt Marie so schwer am Nacken und Hinterkopf, dass sie zusammensackt. „Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Boden wie tot“, sagt Mukagasana. Außer ihr überleben nur vier weitere das Massaker in der Pfarrei Cyanika.
Die Frau erzählt leise, 90 Minuten lang, fast bewegungslos. Sie will sich erinnern, sich mitteilen, auch wenn es schmerzt. Manchmal flackern ihre Lider, Tränen stehen in ihren Augen, aber sie spricht weiter. So lange, bis sie nicht mehr kann, weil der Kopf immer stärker dröhnt, wie sie sagt. Nteziryaya unterbricht sie kein einziges Mal. Nur als sie den Kopf senkt, um die Narben zu zeigen, die nach der Verletzung durch seine Machete entstanden sind, beugt er sich zu ihr und weist mit dem Zeigefinger auf die wulstigen Stellen, wie um seine Schuld zu bekräftigen.
Marie Mukagasana, das Opfer, und Valens Nteziryaya, der Täter, sitzen in einem kleinen Besprechungszimmer in der Krankenstation von Cyanika. Nebenan findet gerade eines der Seminare zur Konfliktbewältigung innerhalb von Familien statt, die die Kirche an vielen Orten Ruandas anbietet. In Cyanika nehmen 70 Personen an der Gruppentherapie teil, Paare und Einzelne. Mukagasana und Nteziryaya gehören auch dazu, seit vier Jahren. Die Kommission Justitia et Pax, die von dem 33-jährigen Priester Joseph Nayigiziki geleitet wird, hat sich für die Seminare stark gemacht und eine Psychologin eingestellt, die die Teilnehmer begleitet. Denn Ruandas Familien haben mit vielfältigen Problemen zu kämpfen: Alkoholsucht, Ehebruch, finanzielle Misswirtschaft, Macho-Gehabe, Gewalt. Viele der Probleme resultieren aus traumatischen Erfahrungen während des Völkermordes, auch wenn das nicht immer ausdrücklich erwähnt wird.
„Zur Zeit des Genozids war ich elf Jahre alt“, sagt Joseph Nayigiziki. „Der Unterricht in der Schule fiel aus. Nachbarn und Mitschüler verschwanden. Ich habe nicht verstanden, warum man meine Freunde tötet. Ich hatte Angst, auch umgebracht zu werden.“ Der Hutu-Junge, dessen Eltern sich weigerten, zu den Waffen zu greifen, hatte früh den Wunsch, Priester zu werden. „Ich bin dankbar dafür, heute an der Versöhnung mitarbeiten zu können“, sagt Nayigiziki. Während seiner Ausbildung im Priesterseminar belegte er einen Kurs in Psychologie. Die vielen Gespräche mit Opfern und Tätern, die er seitdem geführt hat, haben ihn gelehrt, dass gutes Zuhören am Anfang jeder Konfliktbewältigung steht.
Vergebung setzt Reue voraus
Die junge Mutter, die ihr Baby auf dem Schoß wiegt, der ältere Mann mit den harten Gesichtszügen, der die Arme fest verschränkt vor der Brust hält, die Frau mittleren Alters, die sich nicht davor scheut, vor den Teilnehmern des Seminars ihren untreuen Ehemann anzuklagen: Sie alle haben ihr Bündel zu tragen, auch wenn die Bürde unterschiedlich schwer wiegt. Alle setzen sich mit Fragen von Schuld, Reue, Strafe und Vergebung auseinander. Es gibt Paare, die ihre Probleme in den Griff bekommen haben, etwa Soline Nyiramugisha und Jean Baptiste Nbayambaje. Sie nehmen teil, um anderen Mut zu machen. Die 54-jährige Ehefrau berichtet, wie ihr Mann – ein Trinker – sie jeden Abend verprügelte und ihr das Leben zur Hölle machte. Die Familie konnte nicht genug Essen für die Kinder kaufen, weil er alles Geld in Alkohol steckte. Doch mit Hilfe der von der Kirche angebotenen Einzel- und Gruppentherapie lebt das Paar mittlerweile friedlich zusammen.
„Wie oft, heißt es in der Bibel, sollst Du Deinem Bruder vergeben“, fragt Pfarrer Nayigiziki. „Sieben Mal?“ – „Nein, 77 Mal!“, tönt es ihm von den Teilnehmern des Seminars entgegen. Wie klingt so etwas in den Ohren einer Mutter wie Marie Mukagasana, die dem Mann verzeihen soll, der ihre Töchter getötet hat? Die zwar wieder eine Familie gegründet hat, das schlimme Schicksal ihrer ersten Familie aber niemals wird vergessen können. Ist Versöhnung auf dieser Ebene überhaupt möglich? Pfarrer Nayigiziki spricht darüber, dass beide Seiten große Anstrengungen unternehmen müssen. Die Opfer wollen Reue, eine Entschuldigung, die Bestrafung der Täter und Wiedergutmachung. Die Täter verdrängen, verharmlosen, schämen sich und wünschen sich doch, wieder einen Platz in der Gesellschaft zu erhalten.
Einige Seminar-Teilnehmer schreiben mit. Sie unterstreichen Wörter, kreisen manche Gedanken ein. „Das haben wir alles gelernt“, sagt eine Frau, indem sie wie zum Beweis ein voll geschriebenes, zerfleddertes Blöckchen vorstreckt. Für die Teilnehmer ist es wichtig, etwas in der Hand zu halten, eine Art Leitfaden, der ihnen hilft, wenn die Verzweiflung, Wut und Trauer sie wieder übermannen. „Um Verzeihung zu bitten ist nicht leicht, vergeben ist auch nicht leicht, aber beides heilt“, sagt Nayigiziki. Mukagasana und Nteziryaya pflichten ihm bei. Aber es dauerte, bis die beiden diese Aussage bejahen konnten.
Volksgerichte auf dem Gras
Drei Mal weist Mukagasana den Mörder zurück, als er anklopft, um sie um Vergebung zu bitten. Seine Antwort auf die Frage, wie man als Christ und Vater von sechs Kindern zum Mörder werden kann, überzeugt sie nicht. „Die bösen Autoritäten haben mich dazu verleitet“, erklärt er. Im Radio, auf öffentlichen Versammlungen, überall habe die Regierung verlauten lassen: Tutsi sind unsere Feinde, die sterben müssen. „Irgendwann habe ich das geglaubt.“ Nach dem Massaker in Cyanika flieht Nteziryaya mit seiner Familie in den Kongo, wie andere Hutu-Milizen auch. Nach zwölf Jahren kehrt er zurück in die Heimat und stellt sich der Polizei. Sein Weg ist typisch für viele Täter.
Nach dem Völkermord sind die wenigen, kleinen Gefängnisse in Ruanda schnell überfüllt. Hunderttausend mutmaßliche Verbrecher hausen zusammengepfercht in Haftanstalten, die für wenige Tausend vorgesehen sind. Und die Gerichte sind mit so vielen Verfahren heillos überfordert.
Der seit 2000 amtierende Präsident Paul Kagame beauftragt so genannte Gacaca-Gerichte in den einzelnen Ortschaften, die Fälle zu bearbeiten. Auf einer Grasfläche im Dorf (gacaca heißt „Gras“ in der Landessprache Kinyarwanda) wird Anklage erhoben und Verantwortung übernommen, werden Zeugen gehört, fällt das Urteil. Die „Richter“ sind Männer aus dem Dorf, die wegen ihrer Rechtschaffenheit als Vorsitzende der Gerichte gewählt werden. Wer als Beschuldigter seine Taten zugibt und Reue zeigt, für den halbiert sich die Haftzeit. So hat es der Präsident verfügt. Nteziryaya wird vom Gacaca-Gericht zu elf Jahren Haft verurteilt, nach sechs Jahren kommt er wegen guter Führung aus dem Gefängnis und verbüßt den Rest seiner Strafe durch gemeinnützige Arbeit.
Innerhalb von zehn Jahren werden in Ruanda auf diese Weise fast zwei Millionen Fälle vor den Volksgerichten verhandelt. Auch wenn diese heute in der Kritik stehen – wegen Korruption, mangelnder Beweisführung und Fehlurteilen – sind sie in den Augen vieler Ruander doch ein Meilenstein hin zu einer versöhnten Zukunft.
Marie Mukagasana und Valens Nteziryaya haben den Seminarraum verlassen und gehen den Hügel in Cyanika hinauf. Dorthin, wo die Tutsi im April 1994 Zuflucht gesucht hatten. Heute ist dort eine Gedenkstätte. Jeannette Kagame, die Frau des Präsidenten, hat sie 2012 eingeweiht. Im Inneren des Gebäudes werden Schädel und Knochen aufbewahrt, auch Schmuck, Kleider, kleine Bälle, Pfeifen, Gesichtscreme und ein Rosenkranz der Opfer. Jedes Jahr am Genozid-Gedenktag werden dort weitere Gebeine beigesetzt, die über das Jahr in der Umgebung ans Tageslicht kommen – bei Feld- oder Waldarbeiten. Mukagasana bleibt an der Stelle stehen, an der ihre Familie getötet wurde. Sie schweigt. Auch Nteziryaya kommt kein Wort mehr über die Lippen.
„Das Leben muss trotz allem weitergehen“, sagt Joseph Nayigiziki. Staat und Kirche arbeiten in Ruanda an dem großen Projekt der Versöhung und versuchen, die Menschen zu unterstützen, wo es geht: mit dem Bau von Häusern für die Opfer, mit Gedenkstätten und Gedenktagen, mit Hilfe von psychologischer Betreuung. Die Wunden sind noch lange nicht verheilt, aber viele Menschen werden begleitet auf einem hoffnungsvollen Weg in die Zukunft. „Heute fragt niemand mehr: Bist Du Hutu oder Tutsi“, sagt Pfarrer Nayigiziki. „Das ist ein gutes Zeichen.“
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