GerettetPfarrer Boulos Nassief hat eine Mission. Er will Menschen mit Behinderung aus der Isolationhelfen, wie dem sechsjährigen Fouad, der nicht hören kann. Keine leichte Aufgabe. Viele Ägypter sehen in einem behinderten Menschen einen Fluch Gottes. |
Text: Bettina Tiburzy; Fotos: Hartmut Schwarzbach
Ein Arztbesuch bestätigt den Verdacht der Eltern. Ihr vier Monate alter Sohn Fouad sei taub, erklärt ihnen der Doktor. Sie sind entsetzt. Ihr Baby soll behindert sein – was für eine Katastrophe. Die Familie kommt aus dem Dorf Taha El-Ameda in Oberägypten, ungefähr eine Stunde von der Stadt Minya entfernt. Die Region um Minya gehört zu den ärmsten Regionen Ägyptens. Vater Mahrous bewirtschaftet als Bauer das Land anderer. Nicht einmal der Esel vor ihrem Haus gehört der Familie. Trotzdem setzt Fouads Vater alles daran, seinen Sohn operieren zu lassen. Doch der Eingriff bringt nicht den gewünschten Erfolg. Die Eltern müssen sich damit abfinden. Ihr Sohn wird niemals hören können. Sie werden nie mit ihm sprechen können. Das glauben sie zumindest.
Neues Leben
Doch eines Tages bekommt die Familie Besuch von einem Priester. Er hat von ihrem Sohn gehört. Der Geistliche erklärt, dass er Fouad helfen wolle. Er sagt, Fouad könne die Gebärdensprache lernen. Ihr Sohn würde es einfacher haben, wenn er sie beherrsche. Von da an nimmt Fouads Leben eine Wendung. Pfarrer Boulos Nassief trägt wie alle Priester in Ägypten eine schwarze Soutane. Mit wehendem Gewand marschiert er durch den Wüstensand. Hitze scheint ihm nichts auszumachen. Trotz 45 Grad im Schatten hat er für jeden, den er trifft, ein paar nette Worte auf den Lippen. Und ein freundliches Lachen. Und Pfarrer Boulos lacht oft und gerne.
Der Weg führt an einer kleinen Siedlung entlang. An ihrem Rand bringen Bauern die Ernte ein. Wasser ist knapp. Doch überall dort, wo es aus den Kanälen auf Felder geleitet wird, ziehen sich grüne Streifen durch die Wüste. Pfarrer Boulos kommt zum Haus von Fouads Familie. Der Junge hat ihn bereits entdeckt und läuft ihm entgegen. Dabei gestikuliert und beobachtet Boulos aufmerksam. Auch der Pfarrer beherrscht die Gebärdensprache. „Wie geht es dir?“, gebärdet der Priester. „Gut, sehr gut“, antwortet Fouad mit einigen Handzeichen. „Wir haben schon auf dich gewartet.“
Eine Schule für Fouad
Fouad ist sechs Jahre alt und ein sehr aufgeweckter Junge. „Bei meinem ersten Besuch hier vor einem Jahr hatte ich den Eltern vorgeschlagen, Fouad auf eine Schule für Gehörlose nach Kairo zu schicken. Leider gibt es keine Schule in der Diözese Minya“, berichtet Boulos. „In der Hauptstadt würde er nicht nur die Gebärdensprache lernen, sondern auch eine gute Schulausbildung erhalten.“ Schweren Herzens hatten sich die Eltern entschlossen, ihren gerade einmal fünfjährigen Sohn auf das ferne Schulinternat zu schicken. Einmal im Monat besucht ihn sein Vater dort. Die Familie kann sich die weite Zugfahrt nicht öfter leisten. Nur in den Sommerferien kommt Fouad nach Hause.
Im Haus der Familie ist es kühl und dunkel. An der Wand hängt ein Bild von Jesus. Fouads Eltern begrüßen Pfarrer Boulos herzlich. Es sei für sie sehr schwer gewesen, ihren Sohn wegzuschicken, sagt der Vater. „Wir wollen eine gute Schulbildung für ihn.“ Bildung ist in Ägypten keine Selbstverständlichkeit. Selbst für Hörende nicht. Die Hälfte der Menschen kann nicht lesen oder schreiben. Fouad sagt, er sei froh, auf die Schule in Kairo zu gehen. „Es gibt dort viele Kinder, die auch nicht hören können. Ich kann mit ihnen spielen, ohne geärgert zu werden“, erklärt er. „Am liebsten spiele ich Fußball.“ In seinem Dorf sei er oft weinend nach Hause gekommen, weil ihn die Kinder gehänselt hatten, berichtet seine Mutter.
„Menschen, die anders sind als andere, haben es in Ägypten nicht leicht“, erklärt Pfarrer Boulos. Er ist für die sozial-pastorale Arbeit der koptisch-katholischen Kirche in Minya zuständig. Die Arbeit mit behinderten Menschen – auch geistig behinderten – fällt ebenso darunter wie die Gefangenenseelsorge und die Betreuung einer Selbsthilfegruppe von Krebspatienten. Fast alle kämpfen mit Vorurteilen. Und nicht nur für sie ist es schwer. Auch die Familien wissen oft nicht, wie sie mit Behinderung oder Krankheit umgehen sollen. „Manche ignorieren das einfach“, sagt Boulos.
Familien machen mit
Darum bezieht der Priester die Familien in seine Arbeit möglichst mit ein. Er will aufklären und zu einem besseren Verständnis beitragen. So hat er für die Gehörlosen in der Region regelmäßige gemeinsame Treffen initiiert, an denen auch Familienangehörige teilnehmen können.
Freitagnachmittag in einer Schule in Minya. Der reguläre Unterricht ist längst beendet, da strömen Kinder mit einer Reihe von Erwachsenen auf den Schulhof. Auch Pfarrer Boulos ist mit dabei. Die Kleinsten rennen aufgeregt auf ihn zu. Die Erwachsenen gebärden freundlich ihre Begrüßung. Überall stehen kleine Gruppen und tauschen die letzten Neuigkeiten aus.
Auch Eltern lernen die Gebärdensprache
Jeden Freitag treffen sie sich hier, um gemeinsam die wichtigsten Gebärden zu lernen und zu vertiefen. Auch die Familien lernen eine einfache Form der Gebärdensprache. „So können sie sich mit ihren Kindern viel besser verständigen“, berichtet Pfarrer Boulos. Gerne würde der engagierte Priester auch in Minya eine Schule für Gehörlose einrichten. „Doch das ist leider zu teuer für uns“, erklärt er. Während die Gehörlosen – unter ihnen auch Fouad – sich begrüßen, schließen einige junge Männer die Tore, die von der Straße auf den Schulhof führen. Laute Rufe dringen von der Straße über die Mauern. Nach dem Freitagsgebet zieht eine Gruppe Salafisten von einer Moschee am Schulgelände vorbei. Die Demonstranten fordern den islamischen Staat. Es ist nur eine kleine Gruppe und schnell kehrt wieder Ruhe ein. Die Gehörlosen haben von der Demonstration nichts mitbekommen, aber einigen freiwilligen Helfern sieht man ihre Besorgnis an. Ägypten befindet sich in einem schwierigen politischen Umbruch. Immer wieder gibt es Spannungen, manchmal auch Gewalt.
In der Schule bilden sich verschiedene Gruppen, die von Freiwilligen in der Gehörlosensprache instruiert werden. Manche der Lehrer sind selbst gehörlos, andere können hören und haben die Sprache erlernt. Neben der Vertiefung der Gebärdensprache führen die Lehrer auch in die christliche Religion ein, denn die Teilnehmenden sind orthodoxe oder katholische Kopten. Der gemeinsame christliche Glaube hilft der Gruppe auch, Schwierigkeiten zu überwinden.
Mehr Selbstständigkeit
Nach dem Unterricht kommen Familien und Kinder zusammen, um das Treffen gemeinsam ausklingen zu lassen. Die Gemeinschaft stärkt die Familien, die sonst mit ihren Problemen allein wären. Die Jungen und Mädchen gewinnen so ein Stück Selbstständigkeit. Fouad und die anderen Kinder sind gehörlos. Doch sie sind jetzt nicht mehr stumm.
In Ägypten gibt es schätzungsweise sieben Millionen Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Nur für ungefähr 10.000 Menschen gibt es Einrichtungen, in denen sie gefördert werden. Besonders geistig Behinderte sind in den Augen vieler ein Schandfleck. „Sie werden oft aus dem Haus verbannt oder vollkommen ignoriert“, berichtet der Priester. So erging es auch dem Geschwisterpaar Hani und Nagat Habib. „Das ist wirklich die traurigste Geschichte, die mir in Erinnerung geblieben ist“, sagt der Pfarrer. „Ich fühlte einen großen Schmerz, als ich den beiden zum ersten Mal begegnete.“ Er fand die beiden Jugendlichen eingesperrt in einer engen Kammer unter dem Treppenabsatz eines Mehrfamilienhauses. Gottesdienstbesucher hatten Pfarrer Boulos von deren Schicksal berichtet. Die Tante der Kinder hatte sie nach dem Tod der Eltern einfach weggesperrt.
Fluch Gottes
Sechs Monate lang bestand die Welt für Hani und Nagat nur aus wenigen Quadratmetern Dunkelheit. Zwar brachten die Tante und Nachbarn den beiden etwas zu essen und manchmal setzte sich auch jemand zu ihnen. Doch die Wohnung der Frau betreten oder das Haus verlassen durften sie nicht. Niemand sollte sehen, dass Gott die Familie mit einem Fluch belegt hatte.
Pfarrer Boulos fragte die Tante, warum sie sich nicht besser um sie kümmere. Sie sagte, sie habe nicht genügend Geld. Von da an besuchte er die beiden regelmäßig, brachte Essen und saubere Kleidung. Der Priester wollte die Geschwister an das Leben außerhalb ihres Gefängnisses gewöhnen, sie regelmäßig mit auf die Straße nehmen. Doch anfangs erwies sich das als äußerst schwierig: „Die beiden wollten ihr Gefängnis nicht verlassen“, erklärt Pfarrer Boulos. „Sie sprachen kein Wort.“ Mit Hilfe eines Psychologen gelang es schließlich, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Heute, elf Jahre nach der ersten Begegnung, leben die Geschwister in einer betreuten Arche-Wohngemeinschaft in einem Haus, 45 Kilometer von Minya entfernt.
Vorbild kommt aus Frankreich
Grüne Bäume und Sträucher umgeben das Gebäude der Gemeinschaft. Eine Oase in einem Meer von Sand. Zusammen mit zwei Freunden initiierte Pfarrer Boulos 2002 unter dem Dach der koptisch-katholischen Kirche in Minya die erste Arche-Gemeinschaft in Ägypten nach französischem Vorbild. Ziel ist die bessere Akzeptanz und Integration von geistig Behinderten in die Gesellschaft und auch in ihre Familien. Pfarrer Boulos und ein weiterer Priester sind die geistlichen Begleiter der Gemeinschaft, in der die Bewohner wie in einer Familie mit freiwilligen Helfern zusammenleben. Das Projekt wird von missio unterstützt.
Ein neues Zuhause
In einem der Räume schabt eine Frau mit gelbem T-Shirt mit einem Brotmesser Wachs vom Rumpf einer Kerze, die sie dann sorgfältig in einen Karton packt. „Ich mag die Arbeit mit Kerzen“, sagt Nagat Habib leise. „Und ich helfe auch gerne in der Küche und decke den Tisch.“ Sie, die einst unter einer Treppe weggesperrt war, hat ein neues Zuhause gefunden. Ihr Bruder und sie gehörten zu den ersten Mitgliedern, als die Gemeinschaft gegründet wurde. Hani trägt ein gestreiftes Poloshirt und eine Brille mit dicken Gläsern. Hinter seinem Rücken holt er einige Blätter Papier hervor, die er „seinem Freund“ Pfarrer Boulos stolz präsentiert. Der Priester bestaunt die Bilder und nickt anerkennend. Es sind bunte Zeichnungen meist religiöser Szenen vor einer Wüstenkulisse.
„Ich bin sehr glücklich darüber, wie sich Hani und Nagat entwickelt haben“, sagt Pfarrer Boulos. „Anfangs war es sehr schwierig mit Hani. Er war aggressiv und konnte seine Bewegungen nicht kontrollieren. Doch dann hat er zu zeichnen begonnen. Er hat großes Talent.“ Voll Stolz berichtet der Priester, dass Hani seine Werke mittlerweile sogar in einer Galerie präsentieren durfte. Auch die Talente der anderen elf Bewohner werden in verschiedenen Workshops gefördert. Dazu kommen weitere Teilnehmer, die tagsüber mit den anderen Kerzen herstellen, sie verzieren, Grußkarten gestalten oder im Garten arbeiten und abends wieder zu ihren Familien gebracht werden. Gewinne aus dem Verkauf von Kerzen und Grußkarten tragen zum Unterhalt der Gemeinschaft bei. Die Bewohner selbst erhalten auch einen Teil der Einnahmen. Sie sind sehr stolz auf ihre Leistung. Neben den Workshops unternimmt die Gemeinschaft, die aus katholischen und orthodoxen Christen besteht, auch Ausflüge, gestaltet soziale Aktivitäten, feiert regelmäßig Gottesdienste, organisiert spirituelle Wochen und pflegt einen engen Kontakt zu den Familien der geistig behinderten Menschen.
Freiwillige helfen
Betreut werden die Arche-Bewohner und ihre Familien von gut ausgebildeten Freiwilligen wie dem 42-jährigen Ibrahim Boshra. Zusammen mit seiner Frau und Tochter kümmert er sich vormittags um die Bewohner der Gemeinschaft. Nachmittags arbeitet er in einem Büro für Export. „Warum ich das mache? Ich fühle, Gott will, dass ich für diese Menschen da bin“, erklärt er. Gerne möchte Pfarrer Boulos die Gemeinschaft vom Rand der Wüste näher an Minya heranführen. „Wir können die Menschen nicht in die Gesellschaft integrieren, wenn wir in der Wüste leben“, sagt er. Ein zweites Haus nahe der Stadt ist bereits gekauft. Das Haus in der Wüste soll weiterhin als Werkstatt genutzt werden. Aber es gab Probleme. Nachbarn glaubten, in dem Stadthaus solle eine Kirche eingerichtet werden und griffen das Gebäude an. Doch der Konflikt konnte ausgeräumt werden.
Geschenk Gottes
Über der Wüste geht langsam die Sonne unter. Von der Veranda des Hauses ertönen orientalische Rhythmen. Einer der Bewohner hat sich eine Trommel zwischen die Beine geklemmt. Schnell findet sich eine Gruppe von Bewohnern, die zu dem Schlag des Instruments im Takt mitschwingt. Unter den spontanen Tänzern sind auch Hani und Pfarrer Boulos. Das Tempo steigert sich. Sie lachen und klatschen in die Hände bis sie erschöpft sind. Danach sitzen alle noch eine Weile bei einem kühlen Getränk auf der Veranda; Bewohner, Betreuer und Pfarrer Boulos. „Ich liebe diese Menschen“, sagt er. „Für mich sind sie etwas ganz Besonderes. Ein Geschenk Gottes.“
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vertiefen.
Fouad ist sechs Jahre alt und ein sehr aufgeweckter Junge.
Sommerferien: Nur in den Ferien kann Fouad seine Familie im kleinen Dorf Taha El-Ameda in Oberägypten besuchen.
Arche-Bewohner: Sie sind nicht länger Menschen mit Behinderung, sondern Menschen mit vielen Talenten, die man nicht verstecken muss.
Befreit: Pfarrer Boulos hat Nagat und Hani gerettet.
Gemeinsam werden die wichtigsten Gebärden gelernt.
Minya: Die Kathedrale ist eine koptisch-katholische Kirche.
Arche: Mehr als 20 Menschen werden hier täglich betreut.
Nagat: „Ich mag vor allem die Arbeit mit Kerzen.”
Hani: Er nutzt jede freie Gelegenheit, um
zu zeichnen.
Talent: Hani hat schon Bilder in Galerien ausgestellt.
Beispielhaft: Die interreligiöse Initiative von der muslimischen Predigerin Sheika Amal, Sheik Abdel Rahman und Pfarrer Boulos könnte ein Modell für ganz Ägypten sein.
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