Vorsichtiger AufbruchGlauben unter sozialistischer Fahne: Die Priesterseminare und Noviziate sind voll, auch die Gottesdienste am Sonntag. Doch Religionsfreiheit, wie in der Verfassung verankert, gibt es in Vietnam nur auf dem Papier. |
Text: Eva-Maria Werner; Foto: Fritz Stark
Eine Kirche nach der anderen taucht aus dem Nebel an diesem regnerischen, kühlen Tag in der Provinz Nam Dinh. Nur wenige hundert Meter trennen einen Prachtbau vom nächsten. Mit ihren hohen Glockentürmen, mächtigen Kuppeln und langen Säulenreihen wirken die Gebäude deplatziert. Sind es doch keine „echten“ Kathedralen, sondern Dorfkirchen, erbaut von ehrgeizigen Pfarrern zur Zeit der französischen Kolonisation. Eingebettet in kleine Ortschaften mit wenigen hundert Einwohnern und umgeben von Reisfeldern, zeugen sie von dem starken Willen, das Christentum in der Region zu verankern. Und von einer Form der Mission, die heute abschreckend wirkt: besitzergreifend, rücksichtslos im Blick auf die bestehende Kultur. Die Provinz Nam Dinh, 80 Kilometer südöstlich von Vietnams Hauptstadt Hanoi, ist eine der katholischsten Regionen des Landes.
Im Dorf Long Châu bekennen sich 460 der 500 Einwohner zum katholischen Glauben. Van Kien Nguyen hilft, ihn an Kinder und Jugendliche weiterzugeben. Der 27-Jährige ist Katechist, der älteste in einem Team von sechs jungen Menschen, die in ihrer Freizeit religiöse Gruppenstunden anbieten, ehrenamtlich. „Wenn alle zusammen beten, hat das Kraft“, sagt er. Nach dem Tod seines Vaters hat er Trost und Unterstützung in der Gemeinde erfahren. Das möchte er weitergeben. „Es ist nicht einfach, Kinder und Jugendliche zu begleiten, wenn sie groß werden. Sie stellen Fragen über Freundschaft und Liebe und zweifeln manchmal an Gott. Das fordert mich heraus“, sagt er. Weiß der Katechist nicht weiter, hält er Rücksprache mit seinem Pfarrer.
Mehr Selbstvertrauen
Zweimal wöchentlich macht sich Van Kien mit seinem Motorroller auf den Weg zum Gemeindesaal, in dem 44 Kinder und Jugendliche auf ihn warten – die jüngsten sieben, die ältesten 15 Jahre alt. Manch einer hat Mühe, die Augen offen zu halten. 90 Minuten religiöse Unterweisung nach einem langen Schultag sind eine Herausforderung. In Windeseile schreiben Van Kien und eine Kollegin die Tafel voll, stellen Fragen, erklären Zusammenhänge. Die Kinder lauschen still, niemand stört. Lebendiger wird es, als die beiden Katechisten ein Lied mit Gesten anstimmen. Wache Augen, offene Ohren und ein weites Herz: Das braucht es, um den Glauben in die Welt zu tragen. Van Kien macht es Spaß, als Katechist tätig zu sein. Das war nicht immer so. „Früher hatte ich Angst, vor größeren Gruppen zu sprechen. Mein Selbstbewusstsein war nicht besonders groß“, gesteht er. Mittlerweile aber ist er sicher und rundum zufrieden mit seinem Leben. Ihn zieht es nicht in die aus allen Nähten platzende Hauptstadt Hanoi wie viele seiner Altersgenossen. Die Blumenzucht, mit der er sein Geld verdient, und das Engagement in der Gemeinde sorgen dafür, dass seine Tage gut gefüllt sind. „Ich tue etwas Sinnvolles“, sagt Van Kien. Davon, dass die Kirche in seinem Heimatland weit davon entfernt ist, sich frei entfalten zu können, merkt er in seiner Region nichts.
Regierung mischt sich ein
Es wäre trügerisch, von Nam Dinh auf ganz Vietnam zu schließen. Zwar beherbergt das Land nach den Philippinen die zweitgrößte Anzahl an Katholiken in Südostasien, allerdings stellen Katholiken insgesamt nur sieben Prozent der 95 Millionen Einwohner. „Die Regierung mag das Christentum nicht, weil es in ihren Augen eine westliche Religion ist“, sagt eine 38-jährige Ordensschwester, die nicht genannt werden möchte. Jede Einflussnahme kirchlicherseits auf die Bevölkerung wird von der kommunistischen Partei misstrauisch beäugt. Die Zeit der Christenverfolgung nach der Machtübernahme der Kommunisten ist zwar vorbei. Damals wurden Gottesdienste verboten, Pfarrer inhaftiert, Kirchen enteignet und Gläubige in „Umerziehungslager“ gesteckt. Aber noch immer gibt es Schikanen.
„Wir dürfen, wenn wir uns ruhig verhalten, Kindergärten, Alten- und Behindertenheime betreiben“, sagt die 38-jährige Ordensfrau und Kranken- schwester, „aber ein Engagement in höheren Bildungseinrichtungen bleibt uns verwehrt.“ Und auch in innerkirchliche Angelegenheiten mischt sich die Regierung ein. So müssen etwa Bischofsbesuche in den Pfarreien, die Ernennung von Pfarrern oder die Bewerberliste für die Priesterseminare von den Behörden abgesegnet werden. Religionsfreiheit, wie in der Verfassung Vietnams verankert, besteht nur auf dem Papier.
Kirchliche Gesprächspartner nehmen eine pragmatische Haltung ein. Sie erkennen die Lockerung des Kontrollzwangs an, begrüßen die Rückgabe von konfiszierten Kirchen und freuen sich über die Kontaktaufnahme ihrer Regierung mit dem Vatikan. Mit Kritik halten sie sich jedoch zurück: Niemand möchte das karitative und soziale Engagement in der Gesellschaft, das so nötig ist und nicht nur den Christen zugute kommt, gefährden.
Nicht selbstverständlich
Und schließlich wächst die Kirche. Die Priesterseminare und Noviziate sind voll mit Bewerbern, alle Gottesdienste gut besucht. Warum? Der Leiter eines kleinen Seminars in Hanoi versucht eine Erklärung: „Die jungen Leute erkennen, dass ein religiöses Leben ein guter Weg für sie sein könnte. Es gibt ihrem Dasein Sinn.“ Und Thi Dinh Marie Tran, eine 28-jährige Postulantin sagt: „Ich möchte als Erzieherin Einfluss auf die Zukunft der Kinder nehmen. Ich möchte, dass die Kleinen ein Leben in Fülle haben und sich nach ihren Fähigkeiten entwickeln können. Das ist nicht selbstverständlich.“ Weil dort jedes Kind als Individuum gefördert wird, geben vietnamesische Eltern ihre Sprösslinge gern in katholische Einrichtungen, auch wenn sie keiner Religion angehören oder Buddhisten sind.
So wächst, unaufdringlich und langsam, die katholische Kirche in Vietnam, nach den Buddhisten die zweitgrößte Religionsgemeinschaft des Landes. Die Schwestern, Seminaristen und Pfarrer verstecken sich in der Öffentlichkeit nicht. Sie gehen im Habit durch die Straßen. Sie setzen sich weniger für sich und ihre Rechte ein als vielmehr für die ihnen Anvertrauten: kleine Kinder, behinderte, alte und einsame Menschen. Für all die, die in der Gesellschaft ansonsten keinen Platz finden.
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