Zurück ins LebenDie „Widerstandsarmee des Herrn“ entführte in Norduganda zehntausende Kinder, auch viele Mädchen,
um sie als Soldaten und Sex-Sklaven zu missbrauchen. Manche sind inzwischen heimgekehrt –
gebrochen und verroht. Comboni-Missionare helfen ihnen in eine Zukunft. |
Text: Kirsten Milhahn; Fotos: Anne Ackermann
Lilly Acayo starrt vor sich auf die Tischplatte. Ihr Blick aus schwarzen Augen, die keinen Kontakt suchen. Die junge Frau sitzt an diesem Morgen an einem der Langtische im Speisesaal des Daniel Comboni Vocational-Institutes in Gulu, der Provinzhauptstadt der nordugandischen Region Acholiland. Sie hält die Hände fest im Schoß gefaltet. Ihr drahtiger Frauenkörper steckt in einem Blaumann, in den kurz geschorenen Haaren eine schwarze Sonnenbrille. Still sitzt sie da, nur die rechte Daumenkuppe malträtiert unnachgiebig die Innenfläche ihrer linken Hand. Die Hand ist ölverschmiert, voller Schwielen. Seit etwa drei Monaten lernt die 23-Jährige in der Comboni-Berufsschule das Schlosserhandwerk. Lilly ist kräftig, sie kann zupacken, zählt zu den Besten in ihrer Ausbildungsklasse. Doch das Reden fällt ihr schwer. Eigentlich spreche sie nie über das, was ihr vor sieben Jahren widerfahren ist, flüstert sie, als habe sie Angst, belauscht zu werden. Stille.
Der Albtraum dauerte zwei Jahre
Dann beginnt Lilly mit gedämpfter Stimme zu erzählen. „Es war im Jahr 2006, als die Rebellen das Flüchtlingscamp stürmten. Meine Mutter und ich hatten dort Zuflucht vor Joseph Kony’s Lord’s Resistance Army (LRA) gesucht. Schon am Morgen sah ich bewaffnete Männer der LRA ums Camp schleichen. Mit der Dämmerung griffen sie uns an, feuerten auf die Truppen der ugandischen Armee, die das Camp beschützten.“ Lillys Daumen bohrt sich nun tief in ihre linke Handfläche. „Mutter und ich rannten um unser Leben, in der Panik den Rebellen geradewegs vor die Läufe ihrer AK-47. Sie rissen mich weg von Mutter, brüllten, sie würden mich töten, wenn die mich nicht gehen ließe. Dann warfen sie mir Berge von Gepäck zu, Diebesgut von den Bewohnern des Camps, und stießen mich zusammen mit anderen Kindern vorwärts in den Busch.“
Lilly war 16 Jahre alt, als sie entführt wurde. Ihr Albtraum sollte fast zwei Jahre dauern. Die Rebellen überließen sie einem Mann aus ihren Reihen als „Ehefrau“. Sie diente ihm als Kurtisane, sie kochte, schleppte Lasten. Sie wurde geschlagen, hungerte, trank ihren eigenen Urin, um nicht zu verdursten. „Ich hatte Angst, bei allem was sie mit mir taten und was ich im Busch sah. Wenn du nach tagelangem Marschieren im Busch gestolpert bist, haben sie dir in den Kopf geschossen. Wenn du nach Hause wolltest, haben sie dir in den Kopf geschossen und wenn sie spürten, dass du Angst hast, haben sie dich auch erschossen. Wir waren so viele Kinder und sie haben so viele von uns getötet. Ich wollte leben. Ich habe nie wieder geweint.“ Erst vor acht Jahren ging in Norduganda einer der brutalsten Rebellenkriege in der Geschichte Ostafrikas zu Ende. Kony’s religiös getriebene Rebellenarmee tyrannisierte zwischen 1986 und 2006 die Bevölkerung in allen nördlichen Provinzen, vor allem im Acholiland und dessen Zentrum um die Stadt Gulu.
Die LRA marodierte durchs Land, plünderte die Dörfer, brannte sie nieder, tötete deren Bewohner, riss Kinder von den Schulbänken oder nachts aus den Betten und verschleppte sie in den Busch. Mehr als 30.000 Kinder dienten den Rebellen in dieser Zeit als Buschkrieger. Die Regel lautete: Töte, oder du wirst selbst getötet. Etwa die Hälfte der entführten Kinder waren Mädchen, die meisten haben den Busch nicht überlebt.
Lilly hatte Glück. Kurz vor Kriegsende entkam sie ihren Entführern. Während einer Attacke der ugandischen Armee auf die Rebellen ganz in der Nähe ihres Flüchtlingscamps rannte das Mädchen davon, mitten durch den Kugelhagel in Richtung Lager. Sie fand ihre Mutter und kehrte später mit ihr aus dem Camp zurück ins Heimatdorf. Doch Lilly fand nicht zurück ins Leben. „Nachts kamen die Albträume, tags darauf Depressionen“, sagt sie. Eines Tages habe sie im Radio vom Ausbildungszentrum der Combonis in Gulu gehört. „,Geh hin‘“, dachte ich, „eine andere Chance kriegst du nicht‘.“ Sie sei zur Berufsschule gegangen, habe ans Tor geklopft. Die Combonis hätten ihr bei den Bewerbungsformalien geholfen und ihr ein Stipendium besorgt. Im darauffolgenden Monat begann Lilly ihre Lehre als Schlosserin. Ein Männerberuf, sagt sie. Aber das mache ihr nichts aus.
Gebrochene Seelen ohne Kindheit
Seit 1995 bildet die Daniel Comboni-Berufsschule in Gulu junge Männer und Frauen zu Handwerkern aus. „Jedes Jahr sind das 400 junge Tischler, Steinmetze, Maurer, Elektriker, Friseure, Automechaniker und Schlosser“, sagt Bruder Konrad Tremmel, der das Trainingszentrum seit fünf Jahren leitet. „Wir zeigen ihnen, wie sie mit Kopf und Händen für ihre eigene Zukunft arbeiten.“ Tremmel weiß, wovon er spricht. Bevor er zu den Combonis kam, war er selbst lange Zeit erfolgreicher Handwerker. Heute ist er in erster Linie Manager und seine Berufsschule inzwischen eine der besten in ganz Uganda. Doch das Zentrum hat noch eine andere Funktion. Seit Kriegsende fördert es Härtefälle – vor allem junge Frauen, die wie Lilly Acayo aus dem Busch heimkehrten. Gebrochene Seelen ohne Kindheit, wie Tremmel die ehemaligen Kindersoldatinnen nennt. In ihren Dörfern würden sie vor die Hunde gehen, ließe man sie dort allein. Fast alle seien traumatisiert, viele bekämpften Depressionen mit Drogen. „Bei uns bekommen diese Frauen eine Aufgabe und die Aussicht auf einen Neuanfang.“ Damit das gelingt, unterhält Tremmel Kontakte zu Handwerksbetrieben in ganz Uganda. „Wir schicken Auszubildende für Praktika sogar bis in die Hauptstadt Kampala und vermitteln später Arbeitsplätze im ganzen Land.“
Beschäftigung lenkt ab und bringt Anerkennung. Das weiß auch Schwester Dorina Tadiello von den Comboni Samaritern der Diözese in Gulu aus langjähriger Erfahrung mit den Frauen. Sie sieht allerdings noch einen anderen Weg aus dem Trauma. „Die Mädchen haben im Busch ihre Würde und das Vertrauen in andere Menschen verloren. Sie brauchen das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein.“ Eine Kooperative des Pfarrbezirks mit dem treffenden Namen Wawoto Kacel, „Geht gemeinsam“, setzt daher nicht nur auf Arbeitsplätze, sondern vor allem auf Gemeinschaftssinn.
Auf dem weitläufigen Gelände der Diözese herrscht reger Betrieb. Stimmengewirr und Gelächter hallt aus den Produktionsräumen. An langen Tischen sitzen Frauen vor Nähmaschinen oder Schalen voller exotischer Früchte und Samen, die sie zu Perlenketten fädeln. Sie schneidern traditionelle Kleidung und Taschen, weben Schals, Decken oder Tischtücher und verkaufen ihre Produkte im Ausstellungsraum nebenan. Wawoto Kacel liefert Kunsthandwerk sogar in andere ostafrikanische Länder und bis nach Europa.
Vergewaltigt, misshandelt, entwurzelt
„Die Frauen kommen zu uns, weil sie hier Freunde finden“, sagt Schwester Dorina. Die Diözese öffnete 1992 ihre Pforten, zunächst für Menschen mit HIV und AIDS. Später kamen auch ehemalige Kindersoldatinnen. „Nichts ist schlimmer, als diese Mädchen mit ihrem Schicksal alleinzulassen“, sagt sie. „Sie leiden viel mehr als männliche Kindersoldaten.“ Weshalb? Weil Mädchen in den Reihen der Rebellen nicht nur gezwungen wurden, Nachbarn oder Familienmitglieder zu töten. Sie wurden vergewaltigt, misshandelt, entwurzelt. Zudem tragen viele von ihnen heute das Zeugnis ihrer Vergangenheit mit sich herum.
Christine Aciro sitzt in der Weberei von Wawoto Kacel am Webstuhl, lässt das Schiffchen hin- und herflitzen. Die 28-Jährige lächelt viel. Das war nicht immer so. Als sie vor vier Jahren zu Schwester Dorina in die Diözese kam, war die junge Frau am Ende. Sie war zehn, als Rebellen sie entführten. Zwölf Jahre verbrachte sie bei ihnen im Busch und wurde dort Mutter. Als Christine 2005 von den Rebellen floh, war sie gezeichnet. Sie kehrte mit drei Söhnen in ihr Dorf zurück. Der Vater der Jungen: ein 50-jähriger LRA-Kommandant und Vertrauter Kony’s, dem Christine seit ihrem 13. Lebensjahr als „Ehefrau“ diente. „Es gab keine Liebe im Busch“, sagt sie. „Dort draußen gab es niemanden, der dir geholfen hat, keinen, dem du vertrauen konntest. Wir haben immer getan, was uns die Rebellen befahlen, weil jede von uns ums Überleben kämpfte. Jede für sich, jede auf ihre Weise.“ Als die junge Frau mit den Kindern in ihren Heimatort zurückkehrte, wurde sie von den Dorfbewohnern gemieden und als Rebellenhure oder Mörderin beschimpft. Seither quälten sie Schuldgefühle. Die Diözese sei ihre Rettung gewesen. Christine ist heute eine von 14 ehemaligen Kindersoldatinnen, die in der Kooperative arbeiten.
„Schuld, die auf tiefe Verletzung trifft“, sagt Schwester Dorina. „Das spiegelt heute die Situation in vielen Dörfern im Acholiland wider. Die Leute stehen noch reihenweise unter Schock. Jede Familie im Distrikt Gulu ist vom Krieg gezeichnet. Sie haben Mütter, Väter, Brüder oder Schwestern durch die Rebellen verloren, fast alle von ihnen hausten jahrzehntelang in den Flüchtlingscamps der Regierung.“ Die Mädchen seien zwar entführt worden, hätten aber aus Sicht der Dorfbewohner für die Rebellen gekämpft und deren Kinder ausgetragen. „Sie halten diese Frauen für einstige Komplizinnen der Mörder. Mit ihrer bloßen Anwesenheit reißen Frauen wie Christine beständig alte Wunden auf.“ Der Weg zur Vergebung sei daher noch lang und steinig. Denn Versöhnungsprozesse bleiben vielfach aus. Zwar leisteten Hilfsorganisationen nach Kriegsende psychische Nothilfe. Sie sprachen mit Dorfältesten und klärten in den Gemeinden über das Schicksal der Kindersoldaten auf. In Einzelfällen hat das Erfolg gezeigt. Die Akuthilfe ist jedoch vorbei, die Organisationen ziehen ihre Leute inzwischen ab in Richtung Kongo und Zentralafrika. Die ugandische Regierung unter Präsident Yoweri Museveni müsste nun endlich Verantwortung in Sachen Aufarbeitung übernehmen, doch sie zeigt wenig Interesse am Norden.
Die Combonis haben deshalb versucht, Gespräche in den Familien anzuschieben. Manche der Mädchen hatten Glück und wurden wieder in ihre Familie integriert. „In vielen Fällen, vor allem den harten, bei den Mädchen, die getötet haben, waren wir nicht sehr erfolgreich“, erzählt Schwester Dorina. „Oft gingen Familienmitglieder schon nach einer halben Stunde aufeinander los. Die Wunden müssen erst heilen und die Menschen lernen, sich wieder zu lieben.“
Doch was, wenn Albträume bleiben? Christine sucht Trost im Gebet. „Das hilft zu vergessen, gelingt aber nicht immer.“ Wie viele ihresgleichen verdrängt sie die Erinnerung, schweigt über das, was war, auch weil sie sich dafür schämt. Das Schwesternteam um Dorina Tadiello hält deshalb neben täglichen Gottesdiensten auch regelmäßige Gesprächsrunden ab. „Die Frauen sollen lernen, dass sie keine Schuld tragen“, erklärt eine der Schwestern. „Hartnäckige Fälle provozieren wir, indem wir im Gespräch in die Rolle der einstigen Peiniger schlüpfen. Oft bricht der Damm, sie reden, manche schreien mir ihre Wut geradezu ins Gesicht. Meist fließen Tränen, die erleichtern und schon lange hätten geweint werden müssen.“
Lilly kämpft sich ins Leben zurück
Auch Lilly Acayo sagt, sie wolle reden. Irgendwann. Am Nachmittag hat sie ihren Blaumann gegen Rock und Bluse getauscht. Die junge Frau wirkt entspannter, als sie sich an diesem Tag auf den Heimweg macht von der Berufsschule. Lilly lebt mittlerweile in einer anderen Gemeinde, dort, wo nur Mutter und Geschwister von ihrer Vergangenheit wissen. Sie hat eine dreijährige Tochter, die sie allein großzieht. Für die kämpfe sie sich zurück ins Leben, sagt Lilly. Komme was wolle. Jeden Tag geht sie dafür fünf Stunden zu Fuß: morgens zweieinhalb Stunden zur Berufsschule und nachmittags zurück ins Dorf. Sie will als eine der Besten ihres Schlosserkurses abschließen. Den zehn Erfolgreichsten geben die Combonis Starthilfe fürs eigene Unternehmen und sponsern die ersten Maschinen. Die junge Frau hofft so auf ihre Schlosserei, mit der sie endlich eigenes Geld verdient. Tochter Sophie kommt in diesem Jahr in den Kindergarten, danach soll sie zur Schule gehen. Lilly ist überzeugt: „Sophie wird eine bessere Kindheit haben als ich.“