Tan­zen für den Hir­se­gott

Für die Volks­grup­pe der Tsou in Tai­wan ist es kein Pro­b­lem, ih­re tra­di­tio­nel­le Kul­tur mit dem
christ­li­chen Glau­ben zu ver­bin­den. Ein­mal im Jahr fei­ert sie ihr Stam­mes­fest „Ma­yas­vi“.
Die eins­ti­gen Kopf­jä­ger sin­gen, tan­zen und tra­gen dann ih­re far­ben­präch­ti­ge Tracht.

Text: Eva-Ma­ria Wer­ner
Fo­tos: Fritz Stark

Wem nachts um drei wäh­rend des Tan­zes die Au­gen zu­fal­len, der kann un­be­sorgt sein. Die Ar­me fest mit de­nen der Nach­barn ver­schränkt und Schul­ter an Schul­ter, ist es fast un­mög­lich, um­zu­fal­len. Die Tän­zer schie­ben den Schlum­mern­den ein­fach wei­ter, Wie­ge­schritt um Wie­ge­schritt – zu ei­nem Ge­sang, der mit sei­nen Wie­der­ho­lun­gen da­für sorgt, dass al­le in ei­ne Art Tran­ce fal­len. Der Voll­mond er­leuch­tet den Platz vor der Ku­ba, dem Männ­er­haus des Tsou-Stam­mes, wo Frau­en und Män­ner, Kin­der und Al­te schon seit mehr als zwölf Stun­den tan­zen und sin­gen. Und sie wer­den nicht auf­hö­ren da­mit bis zur Mor­gen­däm­me­rung. So will es die Tra­di­ti­on, und so ha­ben sie es wäh­rend ih­rer Stam­mes­fes­te seit Jahr­hun­der­ten ge­tan. Doch noch ist es mit­ten in der Nacht, und ei­ne an­ge­neh­me Küh­le hat sich über den Platz ge­legt. Von den um­lie­gen­den Ber­gen, in de­nen das Dorf Te­fuye liegt, sind nur sche­men­haf­te Um­ris­se zu er­ken­nen. In der Mit­te des Plat­zes fla­ckert ein Feu­er, um das die Tan­zen­den im­mer en­ge­re Krei­se zie­hen. Kom­men sie dem Feu­er zu na­he, sorgt ein Ze­re­mo­ni­en­meis­ter da­für, dass die Schlan­ge der Tän­zer in ei­nem wei­ten Bo­gen wie­der Ab­stand von den Flam­men nimmt.

Wer zwi­schen­durch Durst be­kommt, muss den Tanz nicht un­ter­b­re­chen. Ein kur­zes Hand­zei­chen ge­nügt, und schon kommt je­mand her­bei, um fri­schen Reis­wein oder Hir­se­schnaps in das höl­zer­ne Ge­fäß zu fül­len, das je­der um den Hals trägt. Die Tsou, ei­ner der 16 of­fi­zi­ell an­er­kann­ten Ur­ein­woh­ner­stäm­me in Tai­wan, be­ge­hen ihr Stam­mes­fest „Ma­yas­vi“. Noch vor 100 Jah­ren fei­er­ten sie da­mit die er­folg­rei­che Jagd, ei­ne üp­pi­ge Ern­te oder ei­nen ge­lun­ge­nen Beu­te­zug. Die Köp­fe der Be­sieg­ten sam­mel­ten sie in ei­nem ge­f­loch­te­nen Korb, der un­ter dem Dach des Männ­er­hau­ses bau­melt. Auch heu­te noch hängt dort ein sol­cher Korb, al­ler­dings ist er leer.

Vie­le Sym­bo­le von früh­er sind ge­b­lie­ben, und manch ri­tu­el­le Hand­lung wird im­mer noch voll­zo­gen, al­ler­dings be­schwö­ren die Kopf­jä­ger von einst heu­te mehr die ge­mein­schafts­bil­den­de Funk­ti­on von „Ma­yas­vi“. Chen Ming Li, der ehe­ma­li­ge Bür­ger­meis­ter von Te­fuye, der mehr als 50 Stam­mes­fes­te er­lebt hat, er­klärt: „Das Fest stärkt un­se­re Iden­ti­tät. Wir füh­len die Kraft der Ge­mein­schaft. Das ist sehr wich­tig, weil vie­le Tsou nicht mehr in den Alis­han-Ber­gen le­ben.“ Vor al­lem die jün­ge­re Ge­ne­ra­ti­on zie­he es in die boo­men­den tai­wa­ni­schen Groß­s­täd­te Tai­peh und Ka­os­hi­ung oder ins Aus­land. Sei­ne bei­den Töch­ter zum Bei­spiel le­ben in den USA.

Speer statt Smart­pho­ne
Die sch­lech­te In­fra­struk­tur in den Ber­gen, man­geln­de Ar­beits­mög­lich­kei­ten und die Ver­lo­ckun­gen ei­nes mo­der­nen Le­bens ha­ben zum Exo­dus der jun­gen Leu­te bei­ge­tra­gen. Die jahr­zehn­te­lan­ge Be­nach­tei­li­gung der Ur­ein­woh­ner in Tai­wan und die ra­san­te wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung des Lan­des seit den 1970er-Jah­ren för­der­ten die Zer­stör­ung der tra­di­tio­nel­len Le­bens­for­men. Ur­sprüng­lich gin­gen die Tsou auf die Jagd, fin­gen Fi­sche und bau­ten Hir­se, Tro­cken- und Nassreis so­wie Knol­lenpflan­zen an. Im­mer wie­der gab es je­doch Kon­f­lik­te mit der Re­gie­rung um Jagd- und Fi­sche­rei­rech­te, die Spra­chen der Ur­ein­woh­ner wur­den ge­sch­mäht und ih­re An­ge­hö­ri­gen ge­gen­über Tai­wa­nern – et­wa bei der Job­su­che – be­nach­tei­ligt. Zwei Pro­zent der 23,5 Mil­lio­nen Ein­woh­ner Tai­wans sind In­di­ge­ne, dar­un­ter 7000 Tsou. Sie ge­hö­ren zum au­s­tro­ne­si­schen Kul­tur­kreis und leb­ten be­reits auf der In­sel, be­vor im 17. Jahr­hun­dert nie­der­län­di­sche Ko­lo­nial­her­ren da­mit be­gan­nen, Ar­bei­ter aus Fest­land­chi­na an­zu­sie­deln. Chen Ming Li sagt: „Früh­er war ,Ma­yas­vi‘ hei­lig. Heu­te – mit der Glo­ba­li­sie­rung – öff­net sich un­se­re Kul­tur, und Ein­flüs­se von au­ßen ve­r­än­dern uns.“

Er spricht das Span­nungs­feld an, in dem die Tsou sich be­we­gen: Tou­ris­ten und ei­ne be­gin­nen­de Kom­mer­zia­li­sie­rung be­ein­flus­sen die al­ten Ge­bräu­che, gleich­zei­tig sind die Öff­nung nach au­ßen und das In­ter­es­se von Frem­den ein Ga­rant da­für, dass die al­ten Tra­di­tio­nen wie­der wert­ge­schätzt und be­kann­ter wer­den. Mit meh­re­ren Ge­set­zen seit 2005 – et­wa dem „Ur­ein­woh­ner-Grund­ge­set­z“ oder dem „Spra­chen­ge­set­z“ – will die Re­gie­rung die Rech­te der 16 in­di­ge­nen Völ­ker stär­ken. Man ist jetzt von of­fi­zi­el­ler Sei­te aus wie­der stolz auf das ei­ge­ne kul­tu­rel­le Er­be – um sich ge­gen­über Fest­land­chi­na ab­zu­g­ren­zen und die Ei­gen­stän­dig­keit Tai­wans zu be­to­nen. Und weil man da­mit Tou­ris­ten ins Land lo­cken kann.

Der 24-jäh­ri­ge Chen Yu-Hao, der an der Na­tio­nal Dong Hwa Uni­ver­si­ty in Hua­li­en stu­diert, checkt noch kurz sei­ne Mails auf dem Smart­pho­ne, wäh­rend er auf den Auf­tritt sei­ner Tanz­grup­pe war­tet. Mit Kom­mi­li­to­nen ist er zum Stam­mes­fest nach Te­fuye ge­kom­men. Er ist kein Ur­ein­woh­ner, hat aber durch die tra­di­tio­nel­len Tän­ze und Ge­sän­ge ei­nen Zu­gang zum Le­ben der Tsou und an­de­rer Stäm­me ge­won­nen. „Die meis­ten wis­sen nicht, was in­di­ge­nes Le­ben aus­macht, vie­le ha­ben Vor­ur­tei­le“, sagt er. „Ich mag die Art, wie die Ur­ein­woh­ner sin­gen, sehr. Ih­re Tän­ze und Lie­der ken­nen­zu­ler­nen, ist für mich ein ers­ter Schritt, ihr Le­ben zu ver­ste­hen. Ich hof­fe, ich ler­ne hier noch mehr.“ Ge­mein­sam mit an­de­ren Män­nern läuft Jeng Chang Pu hin­ter ei­ner bren­nen­den Fa­ckel die Stu­fen des Männ­er­hau­ses hin­un­ter auf den Platz vor der Ku­ba. Für drei Ta­ge tauscht der 54-jäh­ri­ge Tsou, der in der Haupt­stadt Tai­peh beim Mi­nis­te­ri­um für Aus­wär­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten ar­bei­tet, An­zug und Kra­wat­te ge­gen die tra­di­tio­nel­le Klei­dung aus Hir­sch­le­der und ro­tem Stoff und sein Smart­pho­ne ge­gen ei­nen Speer, um ein­zu­tau­chen in die Welt sei­ner Vor­fah­ren. Ein Teil sei­ner Fa­mi­lie lebt noch im­mer in sei­nem El­tern­haus di­rekt hin­ter der Ku­ba in Te­fuye. Es ist ein herz­li­ches Wie­der­se­hen zu „Ma­yas­vi“. Auf den Ti­schen tür­men sich Jä­gerreis im Bam­bus­rohr, Mee­res­früch­te und vie­le Sor­ten Ge­mü­se. Wäh­rend des Fes­tes ver­brin­gen die Fa­mi­li­en­mit­g­lie­der – es sind im­mer et­wa 20 Leu­te im Haus – viel Zeit mit­ein­an­der auf der Ter­ras­se, es­sen, trin­ken, sin­gen und er­zäh­len.

Zu Be­ginn des Fes­tes tö­ten die Män­ner ein Fer­kel. Sie tun­ken die Speer­spit­ze in das Blut des Op­fer­tie­res und st­rei­chen da­mit über den Stamm des hei­li­gen Bau­mes „Yo­no“, der an ei­ner Ecke des Ver­samm­lungs­plat­zes steht. Durch ihn wird Gott Ha­mo auf die Er­de kom­men, um das Volk zu seg­nen, so die Vor­stel­lung. Das Blut am Stamm soll ihn näh­ren. Um Ha­mo den Ab­s­tieg zu er­leich­tern, klet­tern vier Tsou in die Ba­um­kro­ne und be­f­rei­en sie vom Blatt­werk. Nur vier grü­ne Zweig­lein blei­ben üb­rig. Sie wei­sen in die Rich­tun­gen der vier Haupt­clans. Nun ist der Weg frei.
Da­nach bil­den die Män­ner ein Spa­lier vom Baum bis zur „Ku­ba“, da­mit Ha­mo pro­b­lem­los hin­durch­sch­rei­ten kann. Ei­nen Tag und ei­ne Nacht soll der Gott un­ter den Men­schen wei­len. Und er möch­te un­ter­hal­ten wer­den. Die Tsou be­gin­nen mit ei­nem Be­grüß­ung­s­tanz. Dann lau­fen sie ins Dorf, um ge­weih­ten Reis­wein zu den Ah­nen­häu­s­ern zu brin­gen. Un­ter­wegs trin­ken sie auch reich­lich da­von. Der Ablauf des Fes­tes liegt bis jetzt ganz in männ­li­cher Hand. Von der Vor­be­rei­tung in der „Ku­ba“, die nur Män­ner be­t­re­ten dür­fen und in der sie an sieg­rei­che Schlach­ten er­in­nern, bis zur Be­schwör­ung des Got­tes und des­sen Be­grüß­ung in Te­fuye sind die Frau­en aus­ge­sch­los­sen. Hier spie­gelt sich die pa­tri­ar­cha­le Struk­tur der Tsou wi­der, die hier­ar­chisch in Clans or­ga­ni­siert sind.

„Macht­lo­ser“ Häupt­ling
Das Amt des Häupt­lings wird vom Va­ter an den Sohn ver­erbt. Das ist bis heu­te so, al­ler­dings hat der Häupt­ling längst sämt­li­che ad­mi­ni­s­t­ra­ti­ven und Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se an den Staat ver­lo­ren. Nun hat er nur noch re­prä­sen­ta­ti­ve Auf­ga­ben und fun­giert als Ze­re­mo- ni­en­meis­ter – wie beim Stam­mes­fest. Nach der of­fi­zi­el­len Be­grüß­ung des Got­tes mi­schen sich nicht nur die Frau­en un­ter die Tan­zen­den, son­dern auch Nor­bert Pu, der ein­zi­ge Diözes­an­pries­ter vom Volk der Tsou. Bei der tai­wa­ni­schen Bi­schofs­kon­fe­renz ist er Ge­ne­ral­se­k­re­tär der Kom­mis­si­on für die Stam­mes­völ­ker.

Im mehr­heit­lich buddhis­tisch-tao­is­tisch ge­präg­ten Tai­wan sind die Chris­ten mit vier Pro­zent in der Min­der­heit. Al­ler­dings: Un­ter den Ur­ein­woh­nern ha­ben sie be­son­ders vie­le An­hän­ger. Als die Nie­der­län­der mit der christ­li­chen Mis­sio­nie­rung be­gan­nen, konn­ten sich die Ur­ein­woh­ner, die an die Be­seelt­heit von Bäu­men, Ber­gen, Flüs­sen und Blu­men glau­ben, in den Ge­schich­ten aus dem Al­ten Te­s­ta­ment gut wie­der­fin­den. Das er­leich­ter­te die In­kul­tu­ra­ti­on. Ei­ni­ge der tai­wa­ni­schen Bi­sc­hö­fe wa­ren je­doch noch lan­ge ge­gen die Aus­rich­tung der Stam­mes­fes­te. Heid­ni­sches Brauch­tum woll­ten sie nicht för­dern. Doch der Tsou-Pries­ter Nor­bert Pu lud sie ein, nach Te­fuye zu kom­men, mit­zu­fei­ern und mit den ka­tho­li­schen Ur­ein­woh­nern ins Ge­spräch zu kom­men. Für die­se ist es kein Pro­b­lem, ih­re Tra­di­ti­on mit dem christ­li­chen Glau­ben zu ver­bin­den.

Die 19-jäh­ri­ge Ta­ni­vu Ja­ku­ya­ya­na, die am rech­ten Hand­ge­lenk ein Kreuz-Tat­too trägt, sagt: „Für mich gibt es kei­nen Kon­f­likt zwi­schen Ka­tho­li­zis­mus und Tsou-Kul­tur. Gott hat uns und un­se­re Kul­tur er­schaf­fen. Ich bin stolz dar­auf, Tsou zu sein. Und gleich­zei­tig glau­be ich an den Gott der Bi­bel.“ Und Wang I-Fu, der 57-jäh­ri­ge Häupt­ling der Tsou, möch­te die An­we­sen­heit der Mis­sio­na­re in sei­nem Dorf nicht mis­sen. Do­mi­ni­ka­ner und Stey­ler Mis­sio­na­re ha­ben jahr­zehn­te­lang in Te­fuye ge­wirkt. „Die Kir­che hat vie­le gu­te Din­ge für un­se­re Dorf­ge­mein­schaft ge­tan“, sagt er. „Sie be­g­lei­tet uns und gibt Trost, wenn je­mand stirbt. Vor al­lem aber küm­mert sie sich um die Er­zie­hung un­se­rer Kin­der und ver­mit­telt Wer­te. Das macht sie sehr gu­t“, sagt der Häupt­ling.

Gleich­nis­se er­zäh­len
Un­ter­halb der gro­ßen pro­te­s­tan­ti­schen Kir­che hin­ter dem ka­tho­li­schen klei­ne­ren Kir­chen­bau, an des­sen Wän­den die Far­be ab­blät­tert, wohnt Piotr Bud­kie­wicz in ei­ner sehr be­schei­de­nen Un­ter­kunft. Der 42-jäh­ri­ge Po­le ist Stey­ler Mis­sio­nar, lebt seit neun Jah­ren in Te­fuye und be­g­lei­tet die Tsou im All­tag. „Ich fah­re äl­te­re Leu­te zum Arzt, ar­bei­te im Ge­mein­de­rat mit, or­ga­ni­sie­re Aus­flü­ge für die Kin­der und Bi­bel­a­ben­de in Fa­mi­li­en. Wenn ich ehr­lich bin, ste­he ich mit mei­ner Evan­ge­li­sie­rungs­ar­beit hier noch ganz am An­fang“, sagt er. Der Pries­ter er­in­nert da­ran, dass das Chris­ten­tum in den tai­wa­ni­schen Ber­gen noch jung ist: „In Eu­ro­pa ha­ben wir jahr­hun­der­te­lang Kir­chen­er­fah­rung, hier ist das Evan­ge­li­um erst vor gut 60 Jah­ren her­ge­kom­men.“

Die Tra­di­tio­nen der Tsou und den ka­tho­li­schen Glau­ben zu­sam­men­zu­brin­gen, das brau­che Zeit. „Ich bin noch da­bei, her­aus­zu­fin­den, wie ich die Men­schen am bes­ten er­rei­chen kann. Gleich­nis­haf­tes Er­zäh­len, so wie Je­sus es ge­tan hat, Ge­schich­ten über Jagd und Land­wirt­schaft, fin­den am ehes­ten Ge­hör. Aber auch Hu­mor ist wich­ti­g“, be­tont er. Er sei froh, wenn die Men­schen die Zehn Ge­bo­te ver­in­ner­licht hät­ten. Das sei ein Er­folg. Das Stam­mes­fest be­sucht er na­tür­lich. Wie­der ei­ne Chan­ce, das Le­ben der Tsou zu tei­len.

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