Vertrieben aus dem ParadiesIn aller Welt laufen Menschenrechtler und Kirchenvertreter Sturm gegen den Bau gigantischer Wasserkraftwerke.
Welch verheerende Auswirkungen derartige Mega-Projekte auf Mensch und Natur haben können, zeigt seit 50 Jahren
der Brokopondo-Staudamm in Suriname, dem kleinsten Land Südamerikas. |
Text: Franz Jussen; Foto: Fritz Stark
Eine gigantische Talsperre versorgt Suriname seit einem halben Jahrhundert mit Energie. Aber der Fortschritt hat seinen Preis. Bezahlen müssen ihn die Marrons, die Nachfahren der Sklaven. Für sie ist der Staudamm zu einem Trauma geworden. Keine Kolonialmacht und keine Militärdiktatur hatte je den Stolz der Marrons brechen können. Als sie aber in letzter Minute die Flucht ergreifen mussten, weil ihnen das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals stand, begann für sie eine Odysee, die bis heute kein versöhnliches Ende gefunden hat. Weil Anfang der 1960er-Jahre während des Staudamm-Baus niemand seine Heimat freiwillig verlassen wollte, musste der Staat die Marrons mit vermeintlichen Garantien locken: „Sie haben uns das Blaue vom Himmel versprochen, aber es ist lange nichts und bis heute viel zu wenig passiert“, sagt Doris Weewee, 50.
Nicht zufällig spricht der Oblatenpater in der Wir-Form, denn er selbst ist Saramaccaner. Offiziell 6000, vermutlich aber mehr als 10000 Mitglieder dieses größten Marron-Stammes haben durch den Stausee ihr traditionell angestammtes Gebiet verloren. Und mit ihm ihre Jagdgebiete, ihre Äcker und ihre religiösen Stätten und Gräber. Als der Regenwald in Suriname auf einer Fläche, dreimal größer als der Bodensee, geflutet wurde, versprachen die Behörden den Nachfahren der entflohenen Sklaven neue Häuser. „In Brownsweg könnt ihr sehen, was diesen Menschen angetan wurde“, zeigt sich Pater Doris empört: „Sie haben ihnen Hütten gebaut, die als Übergangscamps gedacht waren. Die Saramakkaner leben heute immer noch in diesen Hühnerställen.“
Leere Versprechungen
Viele Transmigranten, wie die Behördensprache die Zwangsvertriebenen beschönigend nennt, warten bis heute vergebens auf Entschädigungszahlungen. Erst vor vier Jahren ist die Straße asphaltiert worden, die die Fahrzeit in die Hauptstadt um drei Stunden verringert. Und erst vor zwölf Jahren ist Brownsweg ans Stromnetz angeschlossen worden – an jene Energie, die seit einem halben Jahrhundert vom benachbarten Wasserkraftwerk in Brokopondo in gewaltigen Überlandleitungen über ihre Köpfe hinweg in Richtung Hauptstadt zieht. Die 5000 Einwohner Brownswegs sitzen seither wenigstens nicht mehr im Dunkeln. Nur dank der Kirche gibt es eine Grundschule und eine Gesundheitsstation im Dorf.
Genau betrachtet handelt es sich bei Brownsweg, der ehemals kleinen Kabelstation der 1976 still gelegten Eisenbahn, um sieben eng bebaute Dorfsiedlungen. Zwischen den in die Jahre gekommenen Holzbaracken wimmelt es von kleinen Kindern und alten Menschen. Die jungen Leute und die meisten arbeitsfähigen Männer sind in die Stadt gezogen, um ihr Glück zu suchen. Wenn überhaupt, kommen sie nur an den Wochenenden und in den Ferien nach Hause.
Nabelschnur Europa
Dass es einigen Familien in Brownsweg deutlich besser geht als anderen, darauf weisen vor allem Haben oder Nicht-Haben von Autos und elektronischen Geräten hin. Pater Doris hat dafür eine Erklärung, die nicht nur die Besitzstands-Schere bei den Marrons erklärt: Suriname hat eine halbe Million Einwohner, weitere fast 300.000 Surinamer leben in den Niederlanden. „Wer Verwandte in Europa hat, dem geht es in der Regel spürbar besser“, erklärt Pater Doris. Dass diese Nabelschnur ins ferne Holland aber auch Neid und Missgunst im „Land der vielen Wasser“ erzeugt, ist ein Problem, das alle Bevölkerungsgruppen im Land in gleicher Weise trifft.
Der Kirchenmann ist einer der wenigen Marrons, die überhaupt über die Auswirkungen des Staudamms sprechen. Es scheint, eine Mischung aus Scham und Wut, Verdrängung und Wehrlosigkeit hat die Vertriebenen zu verschlossenen Menschen gemacht. Sie fühlen sich als die Verlierer des Fortschritts. Der Stausee wurde von 1960 bis 1964 nahe der Ortschaft Brokopondo errichtet. Die erzeugte Energie wird seither eingesetzt, um die Verarbeitung von Bauxit zu Tonerde und weiter zu Aluminium in der Hütte von Paranam zu ermöglichen. Betreiber der Hütte ist Suralco, die Suriname luminium Company, eine Tochtergesellschaft der Alcoa, der Aluminium Company of America. Ein Teil der gewonnenen Elektrizität wird zur Hauptstadt Paramaribo weitergeleitet.
Der Vertrag über die Wasserkraft läuft über 75 Jahre und ist noch bis 2033 gültig. Er besagt, dass 90 Prozent der Energie an die Bauxit-Industrie gehen, zehn Prozent an Suriname. Alles, was der Staat darüber hinaus benötigt, muss er teuer bezahlen. Und so kam es, wie es kommen musste: Weil Suralco weniger Aluminium herstellt als in den ersten Jahrzehnten, bezahlt der Staat inzwischen mehr Geld für die Stromrechnung, als er vom Konzern durch Steuern erhält.
Neben diesen wirtschaftlichen Folgen droht dem See die Verseuchung durch Quecksilber, das die Goldsucher ins Wasser kippen. Der Staudamm mit all seinen verheerenden Auswirkungen für den Lebensraum, die Natur, die Menschen und die Wirtschaft sei eine Warnung für alle ähnlichen Bauvorhaben wie das Megastaudamm-Projekt Belo Monte in Brasilien, meint Pater Doris. Aber gegen den Energiehunger der Welt und die Macht der Konzerne sei kaum ein Kraut gewachsen. Während sich die Menschen in den Transmigrations-Dörfern wortkarg, unzugänglich, fast lethargisch zeigen, findet sich oberhalb des Stausees ein völlig anderer Menschenschlag. Für die Dörfer entlang des Suriname-Oberlaufes ist Toon te Dorsthorst, der Oblatenmitbruder von Pater Doris, zuständig. Der 71-Jährige ist der jüngste der noch sechs in Suriname verbliebenen Missionare aus den Niederlanden. Knapp vier Stunden dauert seine Fahrt mit dem Jeep von der Hauptstadt bis Adjoni, einer kleinen Anlegestelle am südlichen Ende der Talsperre. Hier holt Pater Toon sein kleines Motorboot vom Dach eines Containers, um seine wochenlangen Pastoralfahrten auf dem Suriname zu starten.
Heute bittet ihn ein Polizist, einen Stopp in Gingiston, einer kleinen Saramanccaner-Siedlung, einzulegen. Denn dort habe es in der Nacht gebrannt. Eine Stunde später legt Pater Toon mit seinem Boot in dem Regenwald-Dorf an. Noch am Steg holt ihn Stephen Linga, 38, der Dorfkatechist ab, der den Missionar von seiner Schreinerei aus hat kommen sehen. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg ins Dorf. Schon von weitem ist das Drama zu sehen: Das Haus seines Onkels Max Linga, 60, ist völlig abgebrannt. Die fünfköpfige Familie steht nach dem Blitzeinschlag in der Nacht mit leeren Händen da.Schnell sind sich der Pater und sein Katechist einig, was zu tun ist: Stephen wird die 200-Seelen-Gemeinde mobilisieren, um beim Wiederaufbau des Hauses zu helfen und Kleidung und Nahrung zu spenden. Er wird das Holz für die Maßnahme spenden, und Pater Toon kann mit einem Klein-Kredit aushelfen.
Retter der Kirche
Mehr als 100 Katechisten wie Stephen hat Pater Toon zusammen mit einer Ordensfau in den vergangenen 20 Jahren ausgebildet. Eigentlich nennt er sie viel lieber „pastorale Leiter der Gemeinden“ als Katechisten, denn sie seien viel mehr als nur Vorbeter, sagt der Ordensmann: „Sie sind die Rettung für die Kirche im Binnenland: Sie bringen nicht nur Gottes Wort, sondern auch Entwicklung.“
Fünf Jahre dauert die Ausbildung zum Katechisten in Suriname. Und erst wenn sich das Dorf mit der Berufung einverstanden erklärt, erhält der Kandidat vom Bischof Kreuz und Bibel als äußere Zeichen seines Amts. Ab diesem Tag ist er Garant für ein lebendiges Gemeindeleben. Laut Pater Toon ist bis heute jede zweite Taufe im Binnenland eine Erwachsenentaufe. „Die steigenden Katholikenzahlen in Suriname sind in erster Linie den pastoralen Leitern zu verdanken“, versichert er. „Ja, die Kirche im Land ist im Aufbau. Anders als die Kirche in Europa, die immer mehr abbaut!“
In Jaw Jaw, einige Kilometer weiter flußaufwärts, kann Pater Toon dies mit Zahlen und Fakten belegen. Gab es vor rund 15 Jahren nur eine Handvoll Katholiken unter den mehr als 1000 Saramakkanern des Ortes, sind heute Dreiviertel der Bewohner getauft. Jaw Jaw ist ein weitläufiger Ort, mit großzügig angelegten Häusern, Vorgärten, offenherzigen und kontaktfreudigen Einwohnern, die Initiative und Geschäftssinn zeigen.
Die Menschen hier hatten Glück. Sie waren vom Bau des Staudamms nicht direkt betroffen und konnten ihre vertraute Umgebung, ihre Jagdgründe und Felder behalten. Mit einigen hundert Zwangsvertriebenen, die nicht in die Transmigrations-Dörfer gezogen sind, konnten die Saramakkaner ihre Traditionen bewahren. „Sie erlagen nicht den Verlockungen des Staates und sind damit letztlich besser gefahren“, bekräftigt Pater Toon, bevor er in sein kleines Motorboot steigt, um den Heimweg nach Paramaribo anzutreten.
Unterwegs erzählt er eine kleine Geschichte. Sie handelt von dem Schatz, der ein halbes Jahrhundert im aufgestauten See ruhte: Ein versunkener Wald von Edelholz. Als der Regenwald geflutet wurde, hatte man die Bäume einfach stehen lassen. Damals erkannte niemand den immensen Wert der exotischen Hölzer – vermutet werden zehn Millionen Kubikmeter, 500.000 Lkw-Ladungen voll. Ein niederländischer Konzern hat den Schatz entdeckt und mit seiner Bergung begonnen.
Verschnaufpause für den Regenwald
Die Marrons sollten als Taucher angeheuert werden. Aber sie trauten sich nicht in den See, angeblich wegen der vielen Piranhas. Tatsächlich aber dürfte es die Angst vor den Toten sein, die in den überfluteten Dörfern immer noch begraben liegen. Jetzt sind es brasilianische Spezialisten, die die Bäume unter der Wasseroberfläche bergen. Um den Brokopondo-See herum hat sich nun auch die holzverarbeitende Industrie angesiedelt. Wenigstens dort haben ein paar Einheimische einen Arbeitsplatz gefunden. Rund 15 Jahre wird es dauern, bis der letzte Unterwasser-Baum gefällt ist. Hauptabnehmer für das Holz sind die Niederlande und Deutschland. Für jeden Baum aus dem Stausee kann ein Baum an Land verschont werden. Was die einen als kleine Verschnaufpause für den wilden, noch lebenden Amazonas-Regenwald preisen, empfinden die Marrons als Totenschändung, denn die Bäume wachen über die Verstorbenen auf den Friedhöfen der versunkenen Siedlungen.
Am Horizont tauchen die vom Kraftwerk gespeisten Lichter Paramaribos auf, als Pater Toon seine Geschichte beendet. Er freut sich auf ein paar Stunden Schlaf, denn morgen beginnt der nächste Katechisten-Kurs.