Stein um SteinBis die Sonne sinkt, schuften die Arbeiter im Steinbruch von Itaosy vor den Toren von Madagaskars Hauptstadt.Die Männer brechen Granit, Frauen und Kinder schlagen ihn mit dem Hammer klein. Sie machen Schotter und bekommen dafür einen Hungerlohn. |
Text: Beatrix Gramlich; Fotos: Hartmut Schwarzbach
Lautlos durchschneidet eine Gruppe weißer Gänse das Schilf. Kein Windhauch kräuselt das Wasser des kleinen Sees. Am anderen Ufer döst im Schatten der Steilwand ein Gespann bulliger Rinder: Ein Bild von archaischer Schönheit, über das sich ein Himmel wie aus zartblauer Seide spannt. Es ist zehn Uhr morgens. Die Sonne schiebt sich die letzten Meter über die Abbruchkante und verheißt einen weiteren makellosen Spätsommertag. Es wird keine Stunde dauern, und sie hat den steinernen Kessel in einen glühenden Ofen verwandelt.
Die Stille ist beinahe vollkommen. Nur ein scharfes, metallisches Hämmern weht von ferne herüber, schwillt an zu einem Schlagzeug mit eigenwilligem Rhythmus und hallt hinauf auf das Plateau. 250 Männer, Frauen und Kinder schuften seit Tagesanbruch im Steinbruch Andrambato vor den Toren der madegassischen Hauptstadt Antananarivo. Die Männer brechen oder sprengen Granitplatten aus dem Fels und zerkleinern sie bis auf Fußballgröße. Transport und Weiterverarbeitung der Brocken sind Frauensache: Sie balancieren sie auf dem Kopf durch den See, der sich vor der Steilwand gebildet hat, und schlagen sie am anderen Ufer zu Schotter.
Bienvenue hat noch einen Haufen Steine vor sich. Wie jeden Tag ist sie seit sechs Uhr hier, aber langsam geht ihr die Kraft aus. Acht Schläge braucht sie, um den Granit kleinzukriegen. Das bedeutet: achtmal ausholen, den kiloschweren Hammer über den Kopf schwingen und auf den Stein donnern. Das ist anstrengend und erfordert Konzentration. Die Frauen sitzen auf nacktem Boden, die Felsbrocken zwischen ihren ausgestreckten Beinen. Jeder Schlag ist ein Risiko, die Verletzungsgefahr groß. Niemand hier trägt Handschuhe oder eine Plastikbrille, um die Augen vor den umherfliegenden Steinsplittern zu schützen. Wer hungert, hat kein Geld für Schutzkleidung übrig. Den Schotter, den die Frauen geklopft haben, werfen sie in grobe Metallsiebe. In knirschendem Takt lassen ihn ihre abgearbeiteten, rissigen Hände über den Fliegendraht tanzen, bis kein Staub mehr hinausrieselt. Erst dann schieben sie die Steine mit dumpfem Scheppern in einen Blecheimer. Die rostigen Tonnen sind das Maß für ihre Knochenarbeit. Für eine halbe zahlt der Pächter des Steinbruchs 1000 madegassische Ariary, das sind 34 Cent. „Dieselbe Menge verkauft er für das Vierfache“, erzählt Jacqueline. Sie arbeitet seit zwölf Jahren im Steinbruch und hat ihren Platz direkt neben Bienvenue. Jacqueline ist groß und kräftig, eine Frau wie ein Schrank. Doch diese Arbeit geht an keinem spurlos vorbei. Jacqueline klagt über Schmerzen in Armen und Schultern. Seit ihr Mann sie verlassen hat, muss die 39-Jährige ihre vier Kinder alleine durchbringen. Bienvenue muss ihre Arbeit immer wieder unterbrechen, um sich um die Kinder zu kümmern. Gerade ist ihr Ältester von zu Hause gekommen und hat ihr das Baby zum Stillen gebracht. Den dreijährigen Tanjona nimmt sie ohnehin jeden Tag mit in den Steinbruch. Die meiste Zeit sitzt er neben ihr, schläft, sammelt Steinchen auf oder drischt mit einem Stock darauf ein – so wie seine große Schwester Elie mit dem Hammer. Elie ist neun und sollte eigentlich längst in der Schule sein. Stattdessen hilft sie ihrer Mutter. Das kostet keine Schulgebühren, sondern bringt der Familie ein paar zusätzliche Cent. Tanjona und Elie sind zwei von vielen Jungen und Mädchen in Andrambato. Die meisten müssen mithelfen, sobald sie den Hammer halten können. Sie klopfen Steine, befüllen die Siebe oder schleppen ihre schreienden Geschwister auf dem Rücken herum. Ein wenig abseits hält ein Zweijähriger seinen Mittagsschlaf. Jemand hat ihn auf eine Strohmatte gelegt und einen Schirm aufgespannt. Er schützt den Jungen notdürftig vor der Sonne, die seit Stunden erbarmungslos brennt.
Inmitten der bunten Grüppchen von Arbeitern sticht eine zierliche Madegassin hervor, die in ihrer gediegenen, dunklen Kleidung so gar nicht hierher passen will. Schwester Pélagie hat sich zu Bienvenue und Jacqueline gehockt und hört den beiden Frauen aufmerksam zu. Sie erzählen von ihren Geldsorgen, von der Angst, was passiert, wenn Andrambato nächstes Jahr stillgelegt werden soll. „Wir gehen oft in den Steinbruch“, sagt die Schwester vom Guten Hirten. „Zum Beispiel, wenn es Probleme mit den Kindern gibt.“
Die Kinder, von denen sie spricht, sitzen derweil dicht gedrängt auf einfachen Holzbänken. Heute ist in der Vorschule Buchstabe „d“ an der Reihe. In sauberer Schreibschrift prangt er auf der Schiefertafel, zusammen mit kleinen Silben, die sich mit „d“ bilden lassen. Mit ihrem Zeigestock wandert Lehrerin Esther die Tafel ab, und aus 100 kleinen Kehlen schallt es lauthals „da, do, de, dy, dada, dida“. Als Esther fragt,wer nach vorne kommen und vorlesen will, schnellen die Finger dutzendfach in die Höhe. 115 Jungen und Mädchen besuchen die beiden Klassen, die die Schwestern in einem behelfsmäßigen Pavillon auf ihrem Gelände eingerichtet haben. Überhaupt einen Platz zu ergattern, ist für die Kleinen schon fast wie Weihnachten und Ostern zusammen. Denn hier lernen sie nicht nur Zahlen und Buchstaben, Regeln und soziale Verhaltensweise, sondern vor allem eins: Vertrauen. Für manche bedeuten schon die regelmäßigen warmen Mahlzeiten ein Maß an Fürsorge, das sie bisher nicht gekannt haben. Bei den Jüngsten anzufangen, erschien den Schwestern vom Guten Hirten der beste Weg. Denn wer seine Kindheit im Steinbruch statt in der Schule verbringt, hat auch später kaum Chancen, dem Teufelskreis aus Armut und Unwissenheit zu entfliehen. „Am Anfang haben manche Eltern ihre Kinder ungewaschen oder ungekämmt zu uns geschickt“, erzählt Schwester Pélagie. „Wir haben ihnen zu erklären versucht, dass sie sich um sie kümmern müssen.“ Und langsam verändert sich etwas. Die Eltern begreifen, dass ihre Kinder nur mit einer guten Ausbildung Chancen auf eine bessere Zukunft haben. Sie haben sich organisiert, um die Jungen und Mädchen in Gruppen zu den Schwestern zu bringen und abzuholen. Und sogar die Analphabeten unter ihnen haben ihrem Kind den Namen auf die karierte Schulschürze gestickt. Andere Mütter, die ein wenig lesen und schreiben können, haben ihnen dabei geholfen. Einige von ihnen treffen sich alle zwei Wochen in einer Frauengruppe, die Schwester Pélagie leitet. Sie beten miteinander, sprechen über ihren Glauben, Schwierigkeiten in der Ehe oder mit den Kindern.
Die Gruppe gibt Halt
„Mein Mann trinkt“, erzählt Lanto. „Früher hat er mich und die Kinder geschlagen. Aber es ist besser geworden.“ Die Gruppe gibt ihr Halt. Hier hätten sie Teilen und den Geist der Solidarität gelernt, sagen die Frauen – aber auch ganz praktische Dinge. So hat Schwester Pélagie Nähkurse organisiert und ihnen geholfen, sich mit der Aufzucht von Schweinen, Hühnern oder Enten neue Einkommensquellen zu erschließen. Trotzdem bleibt ihr Leben ein ständiger Kampf. Die nur sieben Kilometer entfernte Hauptstadt und Itaosy trennen Welten. Itaosy gilt als verrufenes Viertel. Gewalt und Diebstähle sind an der Tagesordnung, in alle Nachbarhäuser der Schwestern wurde bereits eingebrochen. Nur die Ordensfrauen blieben bisher verschont. „Vielleicht respektiert man uns, weil wir uns für die Armen einsetzen“, vermutet Schwester Pélagie. Hier, an der Seite der Schwachen und Ausgebeuteten, sieht sie ihren Platz, daran lässt sie keinen Zweifel. Und beinahe kämpferisch, wie man es kaum von dieser sanftmütigen Person erwarten würde, fügt sie hinzu: „Ich bin eine Schwester vom Guten Hirten. Ich verteidige die Schwachen!“
Bis vor einem Jahr haben die Arbeiter in Andrambatonur 27 Cent für das Maß Schotter bekommen. Die Schwestern redeten dem Pächter ins Gewissen, daraufhin erhöhte er auf 34 Cent. Ein Hungerlohn bleibt es trotzdem. Seit sich Staatspräsident Rajoelina 2009 mit Hilfe des Militärs an die Macht putschte, ist Madagaskar politisch isoliert und mit internationalen Sanktionen belegt. Viele Geberländer haben ihre Entwicklungshilfe eingefroren. Leidtragende sind vor allem die Armen. Der Preis für ein Kilo Reis, das Grundnahrungsmittel in Madagaskar, hat sich im vergangenen Jahr verdoppelt. Es kostet jetzt 70 Cent – so viel wie ein Steinbrucharbeiter amTag verdient. Für Bienvenue reicht es ohnehin kaum zum Leben. Als sie in der Mittagshitze mit ihren Kindern nach Hause geht, kann sie ihnen nicht einmal Essen kochen. Sie hat noch nicht genügend Steine geklopft, um ein Maß zu verkaufen. Jetzt fehlt ihr das Geld, damit sie ein wenig Reis oder Gemüse besorgen kann. Wie am Morgen werden sie auch am Nachmittag mit knurrendem Magen im Steinbruch sitzen.
Armut hat ihren eigenen Geruch: Sie riecht muffig, nach kalter Asche, Schweiß und ungewaschener Kleidung. In das winzige Zimmer, das Bienvenue mit ihrem Mann und den fünf Kindern bewohnt, dringt den ganzen Tag über kaum Sonne. Das Haus liegt auf der Höhe der Reisfelder. Die Feuchtigkeit kriecht in die Lehmwände, schwängert die Luft, setzt sich in Kleider und die einzige Matratze, die sie besitzen. Das Haus gehört Bienvenues Schwiegereltern, in drei Räumen leben fünf Familien. Mit ein paar fadenscheinigen Fetzen vor Fenster und Tür versucht Bienvenue, einen Rest Privatsphäre zu wahren. Es gleicht einemAkt der Verzweiflung. Selbst der Stoff baumelt klamm und schlaff wie resigniert über dem Boden. Bienvenue wünscht sich nichts mehr, als dass ihre Kinder zur Schule gehen. Sie selber hat nur zwei Jahre lesen und schreiben gelernt, ihr Mann überhaupt nicht. Sie ahnt, wohin das führt, dass ihr armseliges Leben und ihre fehlende Schulbildung irgendwie zusammenhängen. Wie jede Mutter will sie, dass es ihre Kinder einmal besser haben. Aber die 31-Jährige ist überfordert. Die Arbeit, die Kinder, der Haushalt – sie schafft einfach nicht alles. Auf ihren Mann kann sie sich nicht verlassen. Er trinkt, und manchmal schlägt er sie auch. Eigentlich war ausgemacht, dass die Ordensschwestern für Elie das Schulgeld übernehmen. Aber dann waren die Kinder im Sommer bei ihren Großeltern auf dem Land, und sie haben die Einschreibung verpasst. Jetzt muss Elie noch ein Jahr warten. Und statt zur Schule geht sie wieder in den Steinbruch – den Ort mit der märchenhaften Geschichte, der für die Arbeiter alles andere als märchenhaft ist.
In Andrambato wird seit 1964 kontinuierlich Granit abgebaut. Der Name des Areals geht zurück ins 18. Jahrhundert. Als der König damals den Palast für die Königin errichten ließ, wollte er Steine aus allen Teilen des Landes kommen lassen. Doch mit dem Material, das seine Leute vor den Toren der Hauptstadt brachen, konnte nichts konkurrieren. Die Steine aus Itaosy waren so schön, dass er sie „Andrinan’ny vato“ nannte, was so viel wie „König der Steine“ bedeutet. Aus dem Namen wurde später Andrambato.
Zwei Tage für ein Sprengloch
Rund zehn Meter über dem Boden steht Jean-Claude auf einem Felsvorsprung. In seiner leuchtend gelben Hose wirkt er von Weitem wie ein Gummi, das sich vor der Steilwand spannt. Der 41-Jährige ist zu seinem Arbeitsplatz hochgeklettert. Er ist dabei, einen mehrere Kubikmeter großen Felsbrocken zu zerteilen. Zwei Tage hat er gebraucht, bis er ein Loch in den Stein geschlagen hat, das mit eineinhalb Metern tief genug für die Dynamitstange war. Aber eine Stange reicht in der Regel nicht. Nach der Sprengung will er den Koloss jetzt zerkleinern. Jean-Claude setzt den Meißel an und treibt ihn Schlag um Schlag in den Granit. Jeder Hieb muss sitzen, sonst verschwendet er unnötig Kraft. Es gelingt nicht immer, wie sein blutiger Daumen verrät. Wenn Jean-Claude dem Fels fünf Zentimeter abgetrotzt hat, kann er den Steinspalter ansetzen. Das ist jedes Mal der Punkt, an dem seine verbeulte Colaflasche zum Einsatz kommt. Aus dem ausgedienten Plastikgefäß gießt er einen Schluck Wasser in das Loch. Es öffnet die Poren des Steins und verhindert, dass der Keil durch die Hammerschläge herausspringt. Trotzdem muss Jean-Claude höllisch aufpassen. Die Steinsplitter fliegen meterweit.
Die Sonne steht schon tief. Langsam packen die Leute zusammen. Nur noch vereinzelt sind Hammerschläge zu hören. Ein Kind treibt einen der Blecheimer wie einen Hula-Hoop-Reifen vor sich her, ein anderes versucht eine Plastiktüte als Drachen steigen zu lassen. Am See hat ein Vater mit seinem kleinen Sohn die Angel ausgeworfen. Die Idylle vom Morgen scheint fast wieder hergestellt. Tsiry Randria, der Pächter, ist gekommen und zahlt den Arbeitern ihren Tageslohn. Jacqueline drückt er 20.000 Ariary in die Hand. Es ist die Summe, die sie und ihre Nachbarn heute verdient haben. Nachher wird sie es an Bienvenue und die anderen verteilen. Randria verkauft die Steine Privatleuten für den Haus- und Straßenbau. Dem 45-Jährigen gehört ein Drittel des Steinbruchs. Zehn Familien arbeiten für ihn. Barfuß, in Jogginghosen und altemT-Shirt versucht er offenbar den Anschein zu erwecken, als sei er einer von ihnen. „Ich weiß, dass sie sehr arm sind“, sagt er und gibt sich betont verständnisvoll. „Aber ich glaube, dass wir jetzt einen guten Preis zahlen.“ Seine Gewinnspanne spielt er dabei tunlichst um die Hälfte herunter. Während sich über dem Steilhang schon bleich der Mond abzeichnet, taucht die untergehende Sonne den Steinbruch in verschwenderisches, glühendes Rotgold. Andrambato verwandelt sich in ein El Dorado. Es istwie im Märchen – bis ein Felsbrocken donnernd in die Tiefe stürzt und alle Illusionen zerstört. „On travaille pour le risque ici“, bemerkt der Pächter trocken: „Hier muss man das Risiko in Kauf nehmen.“
Download der Reportage "Stein um Stein" als pdf-Datei
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Kraftakt: Ein kleiner Junge füllt Schotter in eine der rostigen Blechtonnen. Sie sind das Maß für die Knochenarbeit.
Hoffnungsträgerin: Schwester Pélagie kommt oft in den Steinbruch. Sie versucht, Menschen wie Jacqueline Wege aus der Armut zu zeigen.
Risiko: Die Männer seilen sich an der Steilwand ab und schlagen große Granitblöcke heraus.
Warmes Essen: Der Inbegriff von Glück.
Lichtblick: Die Vorschule eröffnet den Kleinen eine neue Welt. Hier lernen sie Zahlen und Buchstaben, aber auch Liebe und Fürsorge kennen.
Lohn: Pro Tag verdient eine Familie rund 70 Cent.
Zuhause: Ein Zimmer für sieben Personen.
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