Spielplatz statt GefängnishofTausende Kinder leben in Bolivien im Gefängnis. Wenn ihre Eltern wegen Drogenhandel, Mord oder Diebstahl
bestraft werden, bleibt ihnen keine Wahl. Dann tauscht die ganze Familie ihr Zuhause
gegen eine kleine Zelle, die sie zudem noch teuer bezahlen muss... |
Von Ulrich Bock
„Warum kann unser Jüngster nicht wieder bei uns sein?“, fragt Miguel Angel die Sozialarbeiterin aus dem Kinderdorf Cristo Rey. Der 37-Jährige lehnt an der Tür mit der Nummer 209, hinter der man über mehrere Sprossen steil nach oben steigen muss, um in sein winziges Zuhause zu kommen. Das ist gerade mal sechs Quadratmeter groß. Hier lebt er mit seiner Frau – im Gefängnis San Sebastian, mitten in der 600.000 Einwohner-Stadt Cochabamba. „Das ist keine gute Umgebung für ihn. Hier kann er nicht zur Schule“, sagt Paola Hermann. Durch die dünnen Wände dringt Lärm. Miguels Blick geht ins Leere. Er trägt das Trikot seines geliebten Fußballvereins FC Barcelona, vorne auf der Brust die Werbung für das Kinderhilfswerk UNICEF. Heute geht es um sein Kind: um Steven. „Er hat mir erzählt, dass er von anderen Kindern beschimpft wird“, durchbricht Nelly das Schweigen. Die Mutter hat ihren siebenjährigen Sohn schon im Kinderdorf, in der Aldea, besucht. Sie ist als Freigängerin mit in das Gefängnis gezogen, wie ihre Kinder zunächst auch. Ihre Wohnung mussten sie verkaufen, nachdem der Vater inhaftiert worden war. Nur so konnte er sich im Gefängnis eine Zelle leisten. Die hat er einem anderen Sträfling für 1000 US-Dollar abgekauft. Miguel war einmal Polizist. Jetzt ist er wegen Mord angeklagt. Ihm drohen 30 Jahre Haft. Seit einer Woche lebt Steven mit seinen vier älteren Geschwistern in der Aldea. Und als die Mama bei ihm war, hat er geweint. „Ich werde mit ihrem Sohn sprechen“, verspricht Paola Hermann. „Wenn er beschimpft worden ist, werden wir dagegen etwas tun.“ Paola reicht Miguel und Nelly die Hand. Auch José Luis Bernhard, der Hausmeister aus der Aldea, der im Hintergrund zugehört hat. Er hat die Sozialarbeiterin begleitet. Alleine darf eine Frau hier niemals hinein. Das wäre viel zu gefährlich.
Die Zellen sind selbst gezimmert
Der Weg zum Ausgang führt durch ein verschachteltes Labyrinth aus kleinen Gängen, Bretterwänden, engen Treppen und Leitern. Generationen von Häftlingen haben sich hier Zellen unter den Dachstuhl gezimmert, um wenigstens etwas Privatsphäre zu haben. Wer in Bolivien zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, wird einfach weggesperrt. Im Gefängnis gibt es nur zweimal in der Woche ein Essen. Sonst müssen die Familien für die Insassen sorgen. Derzeit sitzen in dem dreigeschossigen Gebäuderechteck 200 Häftlinge ein. Und mit ihnen mindestens doppelt so viele Frauen und Kinder. Die Wachen sehen sich kurz den Besucherstempel von Paola Hermann und José Luis Bernhard an. Dann dürfen die beiden das Gefängnis verlassen und fahren zur Aldea.
Dort ist noch Schule. Das Kinderdorf mit sieben Wohnhäusern und dem dazugehörigen Gymnasium liegt im Westen der Stadt. Hier erstattet die Sozialarbeiterin der Leiterin Petra Sadura Bericht. Diese schüttelt den Kopf: „Nein, Steven darf auf gar keinen Fall ins Gefängnis zurück.“ Die Deutsche leitet das Kinderdorf seit vier Jahren. Derzeit wohnen hier knapp 200 Kinder, von denen mindestens ein Elternteil in Haft sitzt. Petra Sadura weiß um die Zustände in den Gefängnissen. Ihre Aufgabe ist, die Kinder dort herauszuholen und ihnen wieder in ein geregeltes Leben zu helfen. Die 42-Jährige hat selbst drei Kinder, die mit ihr im Kinderdorf leben. Lea, die Älteste, ist gerade 16, Rut zwölf und Eva zehn Jahre alt. Bis 2008 leitete die gelernte Altenpflegerin im westfälischen Geseke die Tagespflege Haus Elisabeth, die zu den vielen Einrichtungen der Ordensgemeinschaft der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel gehört. „Aber als für dieses Dorf eine neue Leitung gesucht wurde, hat es in mir gekribbelt“, erinnert sie sich. Gemeinsam mit Mann und Töchtern fiel die Entscheidung, nach Bolivien auszuwandern. Ihr Mann arbeitet inzwischen wieder in Deutschland. Mit ihm skypt die Familie jeden Samstag. Diese Bildtelefonie über das Internet ist kostenlos. In der Woche aber ist dazu keine Gelegenheit. Wenn die Kinder aus der Schule kommen, ist in Deutschland schon Nacht. „Problematisch ist, was meine Kinder hier manchmal mitbekommen“, sagt die Leiterin. Denn die meisten Kinder, die in der Aldea leben, wurden schon sexuell missbraucht oder misshandelt. Teilweise auch im Gefängnis. Und viele, die bisher verschont blieben, haben solche Vorfälle zumindest gesehen. Nicht wenige meinen sogar, diese sexuellen Übergriffe seien normal.” Petra Sadura sagt das ganz nüchtern. Oft bleibt ihr nicht genügend Zeit, die zahlreichen Schicksale, mit denen sie in Berührung kommt, emotional zu verarbeiten.
Der Bedarf an Kinderdörfern ist riesig
Dann erklingt die Schulglocke, laut und schrill. Aus dem Colegio Suizo Alemán strömen 500 Schülerinnen und Schüler. Sie lachen Señora Sadura an, herzen sie, winken herüber. Der Name der Schule verweist auf die Gründung der Aldea, die von einer deutschen Schwester und einem Schweizer Pater aufgebaut worden ist. Zeitweilig lebten hier 600 Kinder. Der Bedarf nach solchen Kinderdörfern ist riesig. Aber die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel wollten eine individuellere Betreuung. Jetzt sind es noch fast 200 Jungen und Mädchen, aufgeteilt auf 14 Gruppen. Jede wird von einer Tía – einer Tagesmutter – betreut, drei auch von einem Tío. Sie organisieren den
Haushalt, beaufsichtigen die Kinder, passen auf, dass die Regeln eingehalten werden.
Erst das Gebet, dann das Essen
In Haus Nummer acht decken die Kinder gerade den Tisch. Die Handgriffe sind eingeübt. Alle wissen, dass es klare Vereinbarungen gibt. Sie üben für ein geregeltes Leben. Petra Sadura sieht bei ihrem mittäglichen Rundgang vorbei und lässt sich ausnahmsweise zum Essen einladen. Die Kinder und Jugendlichen stellen sich an den Tisch und werden ruhig. Carlos Andres betet vor. Der Neunjährige faltet die Hände und sieht zu der Ikone, die an der Ziegelwand hängt. Erst danach setzen sich alle hin. Als die Sirene ertönt, wissen die Kinder, dass die Hausaufgabenzeit beginnt. Paola Hermann richtet sich in ihrem Sprechzimmer ein, um mit den Kindern zu reden. Auch Steven kommt mit seiner älteren Schwester. Verstört setzt er sich auf die Couch, den Kopf gesenkt. „Geht es Dir gut? Wie war es in der Schule?“, fragt die Mitarbeiterin der Aldea. Ihre Stimme klingt warm. Auf manche Fragen nickt Steven zögerlich, bei anderen schüttelt er zaghaft den Kopf. Seine Schwester streichelt ihm den Rücken. Paola Hermann versucht, ihm in die Augen zu blicken. Nur einmal sieht der Junge kurz auf. Die Sozialarbeiterin wird ihn ein weiteres Mal zu sich bestellen müssen. „Es dauert, bis man an die Kinder herankommt“, sagt sie.
Das Haus der Familie Sadura liegt am Eingang des Kinderdorfes. Hier gibt es auch das einzige Telefon. Deshalb ist das Wohnzimmer zugleich Schaltzentrale zwischen den 200 Kindern und ihren Eltern. Die Privatsphäre der Familie ist auf die Schlafzimmer beschränkt. „Viele Hausaufgaben auf?“, fragt Petra Sadura ihre Tochter am Nachmittag. Zu Hause wird Deutsch gesprochen, in der Schule Englisch, vor der Haustür Spanisch. Viel Zeit bleibt ihnen nicht: Petra Sadura muss noch einmal in die Stadt, im Konvent der Schwestern eine Spende abholen.
Eine Tía und zwei Mädchen am Eingang des Kinderdorfes schieben das schwere Rolltor auf. Die Aldea ist von einer drei Meter hohen Mauer umgeben. Nur so ist es möglich, dass die inhaftierten Eltern in Begleitung der Polizei ihre Kinder in der Aldea besuchen, einmal im Monat. An der nächsten Ecke steigen zwei Tías zu, die mit in die Stadt wollen. Und dann geht auch schon wieder das Handy. „Señor Thedoro“, begrüßt Petra Sadura einen Herrn mit der rechten Hand am Ohr, während sie mit der linken gekonnt Schlaglöcher umfährt. Der Schreiner hat nach seiner Haftentlassung Arbeit gefunden. Er möchte seine drei Kinder zurück, hat bisher aber keine Wohnung. Freundlich, doch bestimmt antwortet die Kinderdorf-Leiterin, dass es dafür zu früh ist. „Sie brauchen erst wieder eine Wohnung.“
Planung kaum möglich
Das gehört ebenso zu ihren Aufgaben: Die Kinder nicht nur aus den Gefängnissen herauszuholen, sondern sie später wieder in die Obhut ihrer Eltern zu übergeben, wenn sie dazu bereit sind: „Das passiert nicht automatisch, sobald Vater und Mutter aus dem Gefängnis kommen. Wir achten darauf, dass die Voraussetzungen stimmen.“ Der Verkehr ist dicht. Wer die Spur wechseln will, braucht das richtige Maß an Geschick und Dreistigkeit. Petra Sadura ist das inzwischen gewohnt. Nach einer Viertelstunde erreicht sie die Calla Lanza. Das Provinzhaus der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel liegt hinter einer unscheinbaren Fassade mitten in der Stadt. Wenn man schellt, kann es einen Moment dauern, ehe jemand die schwere Tür öffnet. Der Innenhof gleicht einem Paradiesgarten mit üppigen Blüten, süßen Düften und Vogelgezwitscher. Provinzoberin Schwester Maria Laura Rosado kommt selbst an die Tür. Sie umarmt Petra Sadura und übergibt ihr einen Umschlag mit Bargeld. Nach Möglichkeit sind es amerikanische Dollar. Regelmäßig gibt es Spenden aus Deutschland. Einige kommen auch von wohlhabenden Bolivianern oder Ausländern, die in Cochabamba leben. Aber es ist schwierig, mit diesem Geld zu planen. Überhaupt ist es schwierig, in Bolivien irgendetwas zu planen. Der Termin mit dem Direktorium, in dem Vertreter der Pfarrgemeinde und des Bistums sitzen, um die Aldea rechtlich abzusichern, ist einmal mehr verschoben worden, berichtet die Leiterin des Kinderdorfes. Dabei drängen mal wieder wichtige Entscheidungen. Als Petra Sadura nach einer knappen Stunde aus der Stadt zurückkommt, ist in der Aldea Spielzeit. Die kleine Ana Maria läuft ihr entgegen und lässt sich von ihr in die Arme schließen. Diese Momente sind es, für die die deutsche Auswanderin diese Arbeit macht. Vom Spielplatz hört man fröhliches Gekreische. Auf der Rutsche herrscht Hochbetrieb. Auch die Schaukel mit den Autoreifen ist immer belegt. Mittendrin sind Steven und seine Geschwister. Zumindest in diesem Augenblick hat der Junge das Weinen vergessen. Er hält sich an seiner Schwester fest. Und lacht.
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