Der Fluch der LepraIn Sambia ist der Glaube an Schwarze Magie noch immer lebendig.
Für Krankheiten und Behinderungen wird oft Hexen-Zauber verantwortlich gemacht,
kranke Menschen werden ausgegrenzt. Im Lepradorf Ibeng helfen Franziskanerinnen. |
Von Stefan Beig (Text) und Fritz Stark (Fotos)
Asron liebt das Gemeinschaftsleben in seiner kleinen Siedlung. Ein Leben an einem anderen Ort kann er sich nicht mehr vorstellen. Ihm kommt es so vor, als hätte er hier schon sein gesamtes Leben verbracht: „Ich wohne seit 57 Jahren hier“, erzählt er lächelnd und rückt dabei seinen großen Strohhut zurecht. Ganz so lange kann es freilich nicht sein, denn die kleine dorfähnliche Gemeinschaft am Rand von Ndola, der zweitgrößten Stadt Sambias, wurde erst 1975, vor nicht ganz 40 Jahren gegründet.
Beim Schlendern durch die Siedlung stößt man bald auf den Gestank von Schweinen und das Gackern von Hühnern. 50 Menschen leben hier, viele von ihnen sind um die 60 Jahre alt. Meist arbeiten sie in der Landwirtschaft, oder sie bauen und verkaufen Sessel, Tische und andere Möbel. Jeder kümmert sich um etwas anderes: Ronadi mahlt Mais, Christine näht Kleider und arbeitet im Garten, John beaufsichtigt die Schweine.
Die Kinder besuchen die nahe gelegene Volksschule. Einige Kinder sind schon erwachsen geworden und ausgezogen. Von Zeit zu Zeit besuchen sie ihre Eltern. Manase – sie ist 85 Jahre alt – bekommt regelmäßig Besuch von ihrem Enkel, der bei ihr groß geworden ist. Dass Kinder bei ihren Großeltern aufwachsen, ist in Sambia nicht ungewöhnlich.
Einsame Leprakranke
Wir befinden uns also in einer gewöhnlichen Siedlung in Sambia mit einigen älteren Menschen? Nicht wirklich. Die kleine Gemeinschaft im Stadtbezirk Ibeng ist ein Lepradorf. Die meisten Bewohner leiden schon seit Jahrzehnten unter der gefürchteten Infektionskrankheit. Von anderen Menschen – auch von ihren Verwandten – werden sie gemieden. Entstanden ist das Lepradorf aus der Not: Keiner wollte sich um die Kranken kümmern.
„In den 1950-er Jahren betreuten noch die Franziskaner-Patres im nahe gelegenen Spital die Leprakranken“, erinnert sich Schwester Laetitia Longolongo, die dem franziskanischen Schwesternorden „Franciscan Missionary Sisters of Assisi“ angehört. „Doch dann, im Jahr 1964, als Sambia unabhängig wurde, übernahm die Regierung zur Hälfte das Krankenhaus und beendete die Betreuung der Leprakranken.“
So mussten die verstoßenen Leprakranken wieder nach Hause ziehen, doch dort wollte man sie ebenfalls nicht haben. „Die Verwandten kümmerten sich nicht um sie“, sagt Sr. Laetitia. „Manche gaben ihnen nicht einmal zu essen. Die Leute haben Angst vor Lepra.“ So wandten sich die Lepranken in ihrer Not an die Franziskanerinnen. „Sie klopften an unsere Tür und bettelten. Schließlich, nach einigen Jahren, wurde das Lepradorf gegründet“, berichtet die 65-jährige Ordensschwester. „Wir gaben ihnen Gärten zum Leben.“ Dank der Fürsorge der Schwestern sind die Leprakranken nicht länger auf sich allein gestellt und heimatlos.
Die Scheu vor Kranken
Anfangs hielten sich die Menschen von der Leprasiedlung fern. „In den letzten 20 Jahren ließen sich einige Leute in unserer Nähe nieder“, erzählt Sr. Laetitia. „Sie hatten früher Angst vor Ansteckung. Erst als sie sahen, dass wir uns nicht mit Lepra infizieren, obwohl wir schon seit vielen Jahren permanent Umgang mit den Kranken pflegen, getrauten sie sich hierher zu ziehen.“
Die Scheu, sich kranken Menschen zu nähern, ist ein kulturübergreifendes Phänomen. Schon die Bibel berichtet über die abgelegenen Wohnstätten der „Aussätzigen“, abseits der übrigen Gesellschaft. Doch in Sambia ist auch der Glaube an Schwarze Magie noch lebendig, und der verstärkt diese Furcht. „Manche glauben an die Einwirkung von Hexen“, erzählt der 42-jährige Niederländer Ellard Van Der Molen. „Schwarze Magie gilt als Ursache für alles, was ein Problem ist, auch für Krankheiten und Behinderungen.“
Der Physiotherapeut lebt seit zwei Jahren in Ndola und widmet sich im Rahmen eines von der Diözese durchgeführten Rehabilitationsprogramms Kindern und Erwachsenen mit Behinderung. Sein Arbeitgeber ist die „Bethlehem Mission Immensee“. In Sambia arbeitet die Hilfsorganisation vor allem mit der Diözese Ndola zusammen.
Mangelnde Hygiene und schlechte medizinische Versorgung gehören zu den Hauptursachen für viele Behinderungen in Sambia. Oft sind Schwangerschaft und Geburt mit Komplikationen verbunden, Sauerstoffmangel oder eine frühe Erkrankung an Malaria verursachen ebenfalls bleibende Schäden.
Von den Eltern verlassen
Van Der Molen besucht einige Jugendliche zu Hause, um dort physiotherapeutische Übungen mit ihnen zu machen. Der 13-jährige James ist halbseitig gelähmt. Als er nach seiner Geburt an Malaria erkrankte, liefen seine Eltern weg. Seine Tante sorgt heute für ihn. „Er hat sich angewöhnt, herumzukriechen. Dabei bildete sich im Laufe der Jahre eine Hornhaut auf seinen Knien“, erzählt Van Der Molen. „Wenn er vor Jahren richtig begleitet worden wäre, hätte er laufen lernen können. Nun sind seine Knie steif. Er bräuchte eine Operation.“
James wohnt im Stadtbezirk Chipulukusu, in dem die Diözese auch eines ihrer Zentren für Kinder mit Behinderung errichtet hat. Doch James hat keinen Rollstuhl, deshalb kann er nicht zum Zentrum gehen. Eine regelmäßige Physiotherapie ist unmöglich. Der Transport ist zu kompliziert. Die vierjährige Melody lebt hingegen bei ihrer Mutter. Ihre einnehmende Fröhlichkeit lässt nichts von ihrer körperlichen Beeinträchtigung erahnen. Gleich nach ihrer Geburt wurden Melody beide Beine unter den Knien amputiert. Der Grund klingt für europäische Ohren absurd: Melodys Beine waren zu sehr nach innen ausgerichtet. Nun hat sich die Schule geweigert, Melody aufzunehmen. „Dabei ist sie intelligent“, unterstreicht Van Der Molen. Im besten Spital des Landes wurden Prothesen für Melody angefertigt, die aber zu groß und schwer zu tragen sind.
Melodys Gesichtszüge werden ernst, sobald sie die Prothesen anzieht; es kostet sie viel Kraft, vor allem in den Hüften, sie zu tragen. Was Melody für ihre Physiotherapie bräuchte, wären Holzstufenbarren zum Turnen. So könnte sie lernen, sich besser mit ihren Prothesen fortzubewegen. Eventuell würde sie dann auch die Schule aufnehmen. Doch zurzeit fehlt das Geld für dieses Gerät.
19 Kinder besuchen wochentags das Zentrum von Chipulukusu. Einige von ihnen haben geistige Behinderungen. Sie werden nach einem alternativen Lehrplan unterrichtet. Nach dem Morgengebet und dem gemeinsamen Frühstück beginnt der Unterricht. Jedes Kind ist anders. Deshalb haben sie auch unterschiedliche Fächer. Einige Jungen bauen Möbel. Wenn es mehr Geld für besseres Holz gäbe, könnten sie die langen Holzbarren für Melody anfertigen.
Schwester Karen Chileshe, 30, widmet sich seit vier Jahren den Kindern in Chipulukusu – und das mit ganzem Herzen, denn sie liebt ihre Arbeit sehr: „Oft fühle ich mich schlecht, wenn ich nicht bei den Kindern bin.“ Schwester Karen gehört einer diözesanen Ordensgemeinschaft an, die 1986 vom damaligen Bischof gegründet wurde, damit sie sich der Erziehung der besonders verwundbaren Kinder widmet.
Ängste der Gesunden vor Gewalt
Schwester Karen bringt den Kindern unter anderem Kochen und Nähen bei. Besonders beliebt ist die Drama-Klasse. Hin und wieder werden auch Sportwettkämpfe gegen andere Zentren für Menschen mit Behinderung organisiert. Zuweilen verbringen die Kinder eine gemeinsame Zeit mit den Schülern der benachbarten Schule, etwa an Festtagen bei der heiligen Messe. Doch manch gesunder Schüler hat Angst vor den behinderten Kindern. Sie befürchten zum Beispiel, diese könnten gewalttätig werden. „Das stimmt nicht“, widerspricht Schwester Karen energisch. Mehr gemeinsame Zusammenkünfte und Sport könnten die Vorurteile abbauen, so hofft sie.
Das Zentrum widmet sich zunehmend auch der Stärkung des Verantwortungsgefühls der Eltern. Denn die wichtigsten Trainer zu Hause sind die Eltern, doch die überlassen die Förderung am liebsten dem Zentrum. Um die Eltern besser einzubinden, werden sie seit einigen Monaten vertraglich zur Mitarbeit verpflichtet.
Schauplatzwechsel: In der Schule von Luanshya findet gerade der Religionsunterricht in der zehnten Klasse statt – und zwar auf Englisch, wie in allen anderen Fächern. Schwester Elisabeth Yawila prüft das Wissen der Schülerinnen über Johannes den Täufer. „Er wollte zuerst Jesus nicht taufen“, sagt eine Schülerin. Und warum? „Er dachte, er sollte von Jesus getauft werden“, meint eine andere. „Und was geschah bei der Taufe?“, fragt Schwester Elisabeth. Viele Hände sind in der Höhe: „Der Heilige Geist kam in Gestalt einer Taube auf Jesus herab und eine Stimme vom Himmel rief: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“, erzählt ein Mädchen begeistert.
Die Elite des Landes
135 Kinder mit körperlicher Behinderung, zumeist Mädchen, besuchen diese von Franziskanerinnen geführte Schule. Ehemalige Schüler haben Karriere gemacht, sind Lehrer, Psychotherapeuten und Juristen geworden, einzelne schafften es sogar in die Regierung. Eine Behinderung muss einem Kind in Sambia nicht alle Zukunftswege verbauen. „In der Regel haben die Leute vor geistigen Behinderungen noch mehr Angst; sie werden weniger akzeptiert als körperliche Behinderungen“, sagt Van Der Molen.
Viele kirchliche Projekte in Sambia brauchen Spenden. „Wir kämpfen ums Überleben“, erzählt Schwester Laetitia vom Lepradorf. Die rostenden Wasserpumpen von 1975 müssten zum Beispiel dringend repariert werden. Als die ersten Ordensschwestern aus Italien hier waren, spendeten noch ihre Verwandten. Später hörten die Spenden auf. Aber Schwester Laetitia und andere Ordensleute setzen ihre Arbeit weiterhin fort – damit Kranke in Sambia nicht ausgegrenzt sind.