Im Schatten der MännerIhre bunte Kleidung täuscht über ihr hartes Leben hinweg. Die Kutchi Kohli-Frauen
in Südpakistan versorgen Großfamilien, arbeiten auf dem Feld und für das Vieh. Doch
vor allem sind sie eins: dem Mann unterwürfig und für die Gesellschaft unsichtbar. |
Von Susanne Kruza (Text) und Hartmut Schwarzbach (Foto)
Schwester Norris Nawab zieht den Schal über den Kopf und steigt in den kleinen Jeep, in dem ein Mill-Hill-Missionar bereits auf sie wartet. Nur das silberne Kreuz auf der Brust verrät, dass sie Ordensschwester ist. „Einen Habit habe ich zum letzten Mal 1985 angehabt“, sagt die pakistanische Ordensfrau im türkisfarbenen Gewand. „Jetzt tragen wir wie alle Frauen hier Shalwar Kamiz mit Dupatta“, erklärt sie. Das ist eine weite Hose mit knielangem Hemd. Dazu ein Schleier, der über den Kopf getragen wird und beide Schultern bedeckt. Der Wagen fährt von Tando Allahyar los. In der Kleinstadt in Südpakistan wohnt und lebt Schwester Norris. Die unbefestigten Seitenstraßen, die aus der Stadt herausführen, sind staubtrocken. Trotz der frühen Morgenstunde staut sich bereits die Wärme im Wagen. „Im Sommer werden es bis zu 50 Grad hier. Eine unerträgliche Hitze“, sagt die 56-jährige Ordensfrau.
Seit zehn Jahren setzt sich Schwester Norris, die zur Kongregation der Presentation Schwestern gehört, für die Rechte der Frauen in der unterentwickelten und von Landwirtschaft geprägten Provinz Sindh ein. Tradition und Kultur weisen den Frauen eine untergeordnete Rolle zu. Söhne werden bevorzugt. Töchter erhalten sogar weniger zu essen. „Von den Frauen hier wird erwartet, dass sie still, unterwürfig und aufopfernd sind“, erklärt Schwester Norris. Im ländlichen Sindh halten sich nur Männer an öffentlichen Orten auf. Frauen führen ein Leben im Verborgenen. Zwangsheirat, häusliche und sexuelle Gewalt gehören in dieser Männer-Gesellschaft zu ihrem Alltag.
Der Weg führt vorbei an Büffeln, die regungslos auf dem Boden liegen; wer kann, teilt sich bei dieser Hitze die Kräfte gut ein. Nur die Obstverkäufer sind schon auf den Beinen. Mit dem bisschen Geld, das sie verdienen, müssen sie Frau und Kinder, manchmal auch Geschwister und Eltern durchbringen. Der Geruch von Dung und süßlichen Guavafrüchten steigt in die Nase. Dass hier überhaupt etwas wächst, ist den Bewässerungsgräben zu verdanken. In den Monaten Juni und Juli gibt es sogar Mangos. Doch der Früchtereichtum der Region steht im Widerspruch zu den Menschen, die kaum etwas besitzen. „Wir fahren jetzt zu einer jungen Frau namens Ganga. Im Alter von zwölf Jahren verheiratet sie ihr Vater mit einem 60-jährigen, invaliden Mann. Als sie bald darauf ihr erstes Kind bekam, stand sie oft vor meiner Tür und fragte nach Essen und Kleidung“, sagt Schwester Norris. Arrangierte Ehen im Kindesalter, oft auch zwischen Cousin und Cousine, sind auf dem Land in Pakistan weit verbreitet. Nachdem Gangas Mann an einer Herzkrankheit gestorben war, verheiratete sie ihr Vater erneut. „Eine Frau kann in Pakistan nicht allein leben. Das akzeptiert die Gesellschaft nicht. Selbst ich werde immer wieder gefragt, warum ich nicht verheiratet bin“, erläutert Schwester Norris. Für 5000 pakistanische Rupien, umgerechnet etwa 38 Euro, verkaufte Gangas Vater seine Tochter an einen 40-jährigen Landarbeiter ohne Hände. Ganga musste ihre Tochter aus erster Ehe bei Schwester Norris zurücklassen, die sich um die heute Siebenjährige kümmert.
Überraschungsbesuch
Nach etwa einer Stunde biegt der Wagen das letzte Mal ab. Zuckerrohrfelder in sattem Grün wirken in dieser spärlichen Landschaft wie kleine Oasen. Doch das sperrige Süßgras zu ernten, ist Knochenarbeit. Mühsam von Hand, nur mit Hilfe eines Messers, schneiden Frauen, Männer, Mädchen und Jungen die holzigen Stängel einzeln ab.
Zierliche Frauen in farbenfrohen Shawal Kameez kommen dem Auto von Schwester Norris entgegen. Auf ihren Köpfen tragen sie, was vom Zuckerrohr übrig bleibt: schilfartige Grasbündel, Futter für die Tiere. „Die Frauen hier führen den Haushalt, ziehen die Kinder groß, versorgen das Vieh und arbeiten auf den Feldern“, sagt Schwester Norris. Das Auto mit der Ordensfrau lockt Kinder und neugierige Erwachsene an. Auch Ganga ist darunter. Ihr Gesicht zeigt eine Mischung aus Freude und Überraschung; der Besuch war nicht angekündigt. Schwester Norris winkt ihr zu und steigt aus dem Wagen. „Hier wohnen zwanzig Hindu-Familien mit bis zu dreizehn Familienmitgliedern. Ganga ist die einzige Christin“, sagt Schwester Norris. Sie weiß, dass sich Ganga vor ihrer Familie und vor ihrem Mann nicht trauen wird, offen zu reden.
Ihr vor der Familie Fragen zu ihrem Eheleben zu stellen, wäre beleidigend. In Pakistan zählt die Familie alles. Fremde haben kein Recht, über sie zu urteilen. Schwester Norris kennt die Spielregeln. Sie muss jetzt den richtigen Moment abwarten und dabei auf ihre Erfahrungen zurückgreifen.
Regelmäßig besucht die Ordensfrau mit einem Pastoralteam aus zwei philippinischen Mill-Hill-Priestern, mehreren Katechisten und Schwestern aus ihrer Kongregation umliegende Dörfer. Die Menschen hier sind Außenseiter der islamisch-pakistanischen Gesellschaft. Sie gehören den halbnomadischen Volksgruppen Kutchi Kohlis und Parkari Kohlis an, die aus Indien stammen. Ursprünglich sind sie Hindus von niedrigem sozialen Stand, Unberührbare. Doch einige sind zum Chris-tentum übergetreten. Die meisten von ihnen arbeiten als Tagelöhner oder Pächter auf den Feldern reicher Großgrundbesitzer, bauen Baumwolle und Zuckerrohr an. Dabei leben sie in ständiger Angst vor den Großgrundbesitzern, die eigene Gefängnisse besitzen. Viele Familien sind bei ihren Lehnsherren hoch verschuldet. So hoch, dass ihre Kinder in die Schuldknechtschaft geboren werden. Aus der werden sie sich ihr Leben lang nicht befreien können.
Ganga und Schwester Norris, die einen Kopf größer als die junge Frau ist, gehen an Ziegen und dösenden Hunden vorbei. Die Familie empfängt die Besucherin unter neugierigen Nachbarsblicken mit Tee. Gastfreundschaft wird in Pakistan großgeschrieben. Die Ordensfrau erkundigt sich nach der Gesundheit der Kinder und fragt, ob sie zur Schule gehen. Die wenigsten Frauen hier können lesen und schreiben. „Ich ermahne sie immer wieder, schickt eure Kinder zur Schule“, sagt sie. Die Presentation Schwestern unterhalten Dutzende Dorfschulen in der Region. Doch viele Eltern verstehen nicht, warum es wichtig ist, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Sie brauchen sie bei der Feldarbeit, um das Überleben der Familie zu sichern. Aber Schwester Norris lässt nicht locker. Immer wieder betont sie:„Bildung ist der einzige Weg, damit eure Kinder es später einmal besser haben.“
Unter vier Augen
Jetzt ist der passende Moment für Schwester Norris gekommen: Sie bittet Ganga mit ihr aufs Feld zu gehen, um einen Spaziergang zu machen. Am Rande eines Bewässerungsgrabens, weit genug von den Lehmhütten entfernt, fragt sie Ganga direkt nach ihrem Mann: „Was macht er?“ – „Er wäscht das Zuckerrohr und bewässert die Felder mit dem Eimer. Das geht“, antwortet Ganga. „Aber als ich ihn zum ersten Mal ohne Hände gesehen habe, musste ich weinen“, erzählt Ganga. „Bist du glücklich mit ihm?“, fragt Schwester Norris die 19-Jährige, deren Zähne vom Tee schwarz verfärbt sind. Sie nickt und meint wie zur Bestätigung: „Er hat mich noch nie geschlagen.“ Ihren beiden Kindern hat er Spielzeug gekauft. Der Sohn geht zur Schule, die Tochter ist erst fünf Jahre alt. Beide Kinder sind gesund und haben große mandelförmige Augen, wie ihre erste Tochter, die Ganga bei der Ordensfrau zurücklassen musste. „Geht es ihr gut?“, will die dreifache Mutter wissen. Schwester Norris nickt. Mit 30 anderen Mädchen ist Gangas Tochter aus erster Ehe im Mädcheninternat der Schwester gut aufgehoben. Vormittags geht sie zur Schule, nachmittags lernt sie nähen, singen, beten, hat Zeit zum Spielen und bleibt so vor Kinderarbeit, die es in Pakistan trotz Verbotes zuhauf gibt, verschont. Ganga lächelt zufrieden. „Ich werde sie Weihnachten wieder besuchen“, sagt sie. Die beiden Frauen beten gemeinsam, dann verabschiedet sich Schwester Norris.
Zurück im Auto auf dem Weg nach Tando Allahyar wirkt Schwester Norris nachdenklich: „Ich glaube, ihr Mann behandelt sie gut. Aber ich habe gehört, dass er Gangas Tochter aus erster Ehe verheiraten möchte, damit sie Geld bekommen.“ Manchmal fällt der Ordensfrau die Arbeit mit den halbnomadischen Volksstämmen im Sindh schwer: „Es ist eine andere Kultur und Mentalität als in der Region, aus der ich stamme. Und dann diese bittere Armut unter der Landbevölkerung.“ Die Heimat der Ordensfrau liegt im 1000 Kilometer weiter nördlich gelegenen Sargodah, einer Großstadt in der pakistanischen Provinz Punjab. Dort gehen Frauen zur Schule und studieren an Universitäten. Manche von ihnen engagieren sich politisch.
Im Sindh arbeitet Schwester Norris schon seit zehn Jahren mit den Kutchi Kohli-Frauen zusammen. Sie zeigt ihnen, wie sie ihre Familien besser ernähren können, wie sie auf ihre Gesundheit achten und sich mit ihrer Stimme im Dorf einbringen können. „Frauen leisten für die Gemeinschaft einen so wichtigen Beitrag und doch werden sie nicht anerkannt“, klagt die Ordensfrau. „Ich ermutige die Frauen, stolz auf sich zu sein und mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen.“ Schwester Norris lässt sich von niemandem reinreden. Auch nicht von den Männern. Manchmal wirkt sie müde und am Ende ihrer Kräfte: „Wir können nicht allen helfen“. Aber sie macht weiter. Die Frauen dort brauchen sie.
Am nächsten Morgen geht es mit dem Jeep weiter, über holprige Pisten in ein nahegelegenes kleines Dorf. Viel gibt es hier nicht: ein paar kleine, flache Häuser und etwas Vieh, stolzer Besitz der Dorfbewohner. „Die Kirche stellt diesen Familien, die vor ihrem Großgrundbesitzer fliehen mussten, Land zur Verfügung“, erklärt Schwester Norris. Hier wohnt Margaret. Sie gehört zum Volksstamm der Kutchi Kohlis und ist Christin. Die bildhübsche Frau kam eines Tages mit verbranntem Gesicht in die Kirche. „Die Leute in der Gemeinde erzählen, dass es ihr Mann gewesen ist“, berichtet die Ordensfrau.
Unter dem Strohdach ihrer Hütte sitzt Margaret im Schneidersitz auf ihrem Bett. Sie freut sich, Schwester Norris zu sehen und zupft ihr hellblaues Kopftuch zurecht, unter dem ihr vernarbtes Gesicht wie eine Maske wirkt. Trotzdem hat diese Frau eine unglaubliche Ausstrahlung. Im Alter von zwölf Jahren verheiratete ihr Vater sie mit einem Mann, der bedeutend älter war. Nach einem Jahr Ehe erwartete sie ihr erstes Kind. Heute ist sie Mutter von fünf Jungen und sechs Mädchen. Sie ist nie zur Schule gegangen.
„Zu Beginn meiner Ehe war ich glücklich“, erzählt Margaret. „Mein Mann behandelte mich gut. Doch als mein Bruder starb, verlor er den Respekt. Er schlug und trat mich.“ Auch die gemeinsamen Kinder verschonte er nicht. „Gewalt in der Familie ist keine Seltenheit“, berichtet Schwester Norris. Wer als Frau im Sindh zur Welt kommt, kann über das eigene Leben kaum mitbestimmen.
Schwester Norris ist sprachlos
Die schöne Margaret war Eigentum ihres Ehemannes. Er erlaubte ihr nur selten, das Haus zu verlassen, um auf dem Basar einzukaufen. Selbst Familienmitglieder durfte sie nicht allein treffen. Ihr Ehemann war rasend eifersüchtig. „Ich tat alles, was er wollte“, erzählt Margaret. „Ich wusch seine Wäsche, kochte täglich Essen, arbeitete auf dem Feld und kümmerte mich um das Vieh.“ Doch das alles konnte ihn nicht besänftigen. „Gute Tage waren nur die, an denen er nicht zu Hause war“, sagt Margaret.
Ihr Mann gab das ganze Geld der Familie für Kleidung, Zigaretten und Schnaps aus. Der Alkohol machte ihn noch gewalttätiger. „Ein Priester schickte uns zu einer Eheberatung. Doch sogar dort hat er mich geschlagen“, erzählt Margaret. „Wenn er in Rage war, legte er seine Hände um meinen Hals und drückte zu. Mehrere Male.“ Schließlich wusste sie keinen Ausweg mehr: „Ich ging aufs Feld hinter das Haus, goss mir Kerosin über das Gesicht und zündete mich an.“
Plötzlich wird es still. Schwester Norris hat es die Sprache verschlagen. Wie die Gemeindemitglieder hatte auch sie geglaubt, Margarets Mann sei Schuld an ihren Narben. Einfühlsam fragt sie: „Wolltest du dich umbringen?“ „Nein, nein“, erwidert Margaret, „ich wollte mein Gesicht hässlich machen, damit seine Eifersucht ein Ende hat und er mich in Ruhe lässt.“ Und da ist er wieder, dieser Ausdruck in ihrem Gesicht: entschlossen, würdevoll und ungebrochen.
Heute lebt Margaret bei einem ihrer Söhne und seiner Frau in einer provisorischen Hütte aus Stroh, die weder vor Regen noch Wind schützt. Ihr verstorbener Ehemann hat der Familie nur Schulden hinterlassen. Ihr altes Haus musste Margaret verkaufen. Auf dem Land der Kirche, in diesem Dorf, konnte sie einen Neuanfang wagen. Trotz allem empfindet Margaret Mitleid mit ihrem Mann, der vor zwei Jahren an Krebs gestorben ist: „Ich habe ihn geliebt. Dass er so sterben musste, wollte ich nicht.“ Eine Träne rinnt ihr über das Gesicht, das trotz der Narben immer noch schön ist. Weder das entflammte Kerosin noch ihr gewalttätiger Ehemann konnten Margaret ihre Würde nehmen. Für ein klein wenig mehr Freiheit war sie bereit, bis zum Äußersten zu gehen.