Der Wunsch nach FriedenMehrere hundert Menschen leben an der Kathedrale von Yola im Norden Nigerias. Sie haben hier
Zuflucht vor Boko Haram gefunden, eine Terrormiliz die unvorstellbares Leid über ihre Familien
gebracht hat. Schwester Maria Vitalis Timtere hört ihnen zu und ist für sie da.
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Text: Bettina Tiburzy; Fotos: Hartmut Schwarzbach
Manche Tage brennen sich in das Gedächtnis ein und lassen einen nie mehr los – wie ein Schatten, der sich über alles legt. Das Erlebte bleibt allgegenwärtig, ein sich permanent wiederholender Film. Für Keviana* liegt solch ein Tag drei Jahre zurück. Es war der 18. Januar 2018. Ein Donnerstag. Es war der Tag, an dem sie miterlebt, wie Boko Haram ihre drei Söhne ermordet. Keviana gehört zu denen, die in Notunterkünften auf dem Kirchengelände neben der Kathedrale von Yola im Norden Nigerias Zuflucht gefunden haben. 172 Frauen, 30 Männer und 503 Kinder leben in dem Camp, manche von ihnen schon mehr als sechs Jahre. Einige der Kinder sind hier geboren.
Zwischen den provisorischen Unterkünften aus Plastikplanen und Wellblechdach rennt eine Gruppe Jungen und Mädchen hindurch. Sie spielen Fangen, lachen. Andere graben im Sand, bauen Häuser und errichten Mauern und Gräben um sie herum. Ein paar Meter entfernt lehnt Keviana an einer Steinwand, neben der ihre Unterkunft aufgestellt ist. Eine großgewachsene Frau, ovales Gesicht, ernster Blick. Neben ihr sucht Schwester Maria Vitalis Timtere Augenkontakt. Doch Kevianas Blick richtet sich in die Ferne, als sie leise mit fester Stimme zu erzählen beginnt.
Überfall der Schattenkrieger
„Wir lebten in Kaya, einem Dorf im Madagali Distrikt. Wir waren Bauern. Mein Mann starb früh. Sechs Kinder habe ich großgezogen, drei Söhne, drei Töchter. Die Kinder gingen zur Schule“, das betont die 46-Jährige. Darauf ist sie stolz. Schwester Maria nickt ihr aufmunternd zu. „Es war schon dunkel, als sie kamen, gegen neun Uhr abends. Ich und mein jüngster Sohn Innocent, 17, schliefen in einem Zimmer. Die beiden anderen Söhne Kenneth, 25, und David, 23, zusammen in einem anderen. Die Töchter Salomi und Sarah, beide verheiratet, lebten nicht mehr zu Hause. Meine Jüngste, Rose, war für ein Englisch-Examen nach Yola gefahren“, beginnt Keviana zu erzählen, erst in der Vergangenheit.
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Doch dann wechselt sie in die Gegenwart: „Schüsse fallen. Sie dringen in unseren Hof ein. Ich schaue mich um. Mein Jüngster sagt: ‚Mami, lass uns die Tür verbarrikadieren.‘ Zu spät. Sie sind im Haus. Wir können nichts tun. Ich sage: ‚Jetzt kann nur noch Gott helfen‘ und verstecke ihn unter der Matratze. Ich staple Matten darüber. Sie brechen die Tür auf und schreien: ‚Geld her!‘ Ich flehe sie an: ‚Ich habe nichts. Mein Mann ist tot. Ich bekomme kein Geld. Ich leide mit meinen Kindern.‘ Sie schlagen mich, drohen, mich umzubringen, wenn ich ihnen kein Geld gebe.
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Ich sage: ‚Okay, bringt mich um. Ich habe nichts.‘ Sie raffen all meinen Besitz zusammen. Als sie die Matratzen greifen, entdecken sie meinen Jungen. Sie schießen auf ihn.“ Keviana deutet mit dem Finger auf ihre Stirn: „Hierhin“.
„Draußen versuchen andere Kämpfer, in den Raum einzudringen, in dem Kenneth und David sich eingeschlossen haben. ‚Öffnet die Tür. Öffnet die Tür!‘, schreien sie. Doch die beiden reagieren nicht. Die Islamisten fesseln mich, zerren mich auf den Hof. Ich flehe sie an: ‚Bitte, lasst mir wenigsten einen meiner beiden Söhne! Ich kann nie wieder Kinder bekommen.‘ Ich sehe, wie sie schießen, zweimal, ich sehe das Feuer aus den Gewehren.“ Kevianas Augen füllen sich mit Tränen.
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