Maman AngéliqueDungu im Nordosten des Kongo ist keine gemütliche Gegend. Die Vereinten Nationen haben ein Bataillon Blauhelme hier stationiert, um Bevölkerung und Flüchtlinge vor den Rebellen der Lord's Resistance Army zu schützen. Der Tross der Hilfsorganisationen ist längst weitergezogen zu den Brennpunkten neuer Kriege und Katastrophen. Eine Ordensfrau bleibt. |
Text: Beatrix Gramlich; Fotos: Hartmut Schwarzbach
Metallisch trommelt der tropische Regen auf das Wellblechdach. In die Lehmziegelbaracke fällt kaum noch Licht. Wie Nebel kriecht die Dämmerung aus dem Busch, schiebt sich unaufhaltsam voran und wirft Straßen und Hütten ihren grauen Mantel über. Die Nacht kommt schnell am Äquator. Den Frauen und Kindern bleibt nicht viel Zeit, die Betten aufzuschlagen. Abend für Abend verwandeln sie den 30 Quadratmeter großen Raum mit wenigen Handgriffen in einen Schlafsaal. Es dauert nur ein paar Minuten und die gestampfte Erde, auf der tagsüber die Kinder gespielt haben, verschwindet unter Matten und Decken, Klappliegen und Kinderbettchen. Die Bambuspritschen klemmen so dicht nebeneinander, dass dazwischen kaum einer durchkommt. Mütter teilen sich mit ihren Babys das Bett, Klein- und Schulkinder liegen zu Dritt oder Viert auf einer Matratze.
Der einzige Mann im Raum denkt nicht an Schlaf. Er will seinen kleinen Sohn nicht aus den Augen lassen. Beinahe andächtig beugt er sich über das Kind auf seinem Schoß, das er vorsichtig wie eine Porzellanpuppe behandelt: ein Säugling, drei Wochen erst auf der Welt, mit dem Gesicht eines Alten. Seine Mutter ist bei der Geburt verblutet. Emmanuel hat gerade seine Frau und schon ein Kind verloren. Nun ist er bereit, alles zu tun, um wenigstens dieses zu retten.
Ein Recht auf Leben und Schutz
Inmitten der Betten sitzt, in sich versunken, eine Frau und füllt Milchpulver ab: Angélique Namaika bereitet die Fläschchen für die Nacht vor. Sie selbst wird sich später in einer vom Schlafsaal abgetrennten Kammer hinlegen, die kaum größer ist als ihr Bett. Wenn eines der Kinder weint, steht sie auf – wenn es sein muss, ein Dutzend Mal pro Nacht. Alle hier nennen sie „Maman“. „Maman“ ist Ordensfrau und Mutter von 32 Jungen und Mädchen – die meisten sind Waisen, andere wurden von ihren Eltern vernachlässigt oder ausgesetzt wie ein Tier, das einem lästig geworden ist. Immer wieder kommen auch Frauen mit Neugeborenen, deren Mütter im Wochenbett gestorben sind. Denn bei Schwester Angélique gibt es kostenlos Säuglingsnahrung. „Wenn ich diese Kinder sehe, habe ich Mitleid“, sagt die 50-Jährige. „Sie haben ein Recht auf Leben und Schutz.“
Ihre Lehmbaracke ist das einzige Waisenheim in Dungu, einer seelenlosen Stadt im Nordosten des Kongo. Eine kleine Hütte auf dem Hof dient als Küche, ein Holztisch im Freien mit ein paar bunten Plastikschüsseln als Spüle. Ein wenig abseits steht das Bad: Plumpsklo und ein Holzverschlag, um sich zu waschen. Das Wasser holen sie 300 Meter entfernt an einer Pumpe. Die Frauen, die mit den Säuglingen gekommen sind, packen in der Küche mit an, waschen Reis, putzen Gemüse und rühren in den riesigen Blechtöpfen über dem offenen Feuer. Die älteren Mädchen machen den Abwasch.
Von Rebellen entführt
Eines von ihnen ist Aimée. „Wir waren auf dem Feld – Papa, Mama, mein kleiner, mein großer Bruder und ich – und haben Erdnüsse geerntet“, erzählt die 16-Jährige. „Wir haben sie nicht kommen sehen. Plötzlich brachen sie hinter uns aus dem Busch. Sie hatten Gewehre, manche auch Stöcke oder Macheten.“ Aimée ist zehn Jahre alt, als ihr Alptraum beginnt. Vor den Augen der Familie erschlagen die Rebellen den Vater. Die Mutter schicken sie weg, die Kinder zwingen sie, mit ihnen zu gehen. „Wir haben angefangen zu weinen. Sie haben uns gesagt, wenn wir nicht aufhören, töten sie uns wie unseren Vater.“
Seit die Lord’s Resistance Army (LRA), die selbst ernannte Widerstands-armee des Herrn, in den 1980er-Jahren erstmals in Uganda auftauchte, entführt sie Jungen und Mädchen, richtet sie mit brutaler Gewalt zu willfährigen Kampfmaschinen ab, schickt sie als lebendige Schutzschilder in den sicheren Tod oder missbraucht sie als Lastenträger und Sexsklaven. Als der Bürgerkrieg in Norduganda nach zwei Jahrzehnten endete, verlagerten marodierende Truppen ihr blutiges Geschäft in den angrenzenden Kongo und Südsudan. Tagelang marschieren Aimée und ihre beiden acht und zwölf Jahre alten Brüder mit den Rebellen durch den Busch. Zehn Kinder gehören zu ihrem Trupp. Sie müssen das Gepäck und die Gewehre schleppen. Wenn sie in die Nähe von Dörfern kommen, schicken die Rebellen sie in die Hütten, um Essen zu stehlen. Am Abend schlagen sie erschöpft irgendwo zwischen den Bäumen ihr Lager auf und bauen sich aus Plastikplanen und Stöcken notdürftig Zelte.
Die Angst ist ihr ständiger Begleiter. „Es ist schrecklich im Busch“, sagt Aimée tonlos. „Es gibt Schlangen, Leoparden, wilde Tiere. Wir waren mittendrin.“ Kurz nach der Entführung trennen die Rebellen sie von ihren Brüdern. Ein Jahr lebt sie unter der Zwangsherrschaft der LRA. Sie muss kochen, spülen, Wäsche waschen, während der Märsche die Kleinkinder und Babys tragen, die im Busch geboren sind. Wenn sie und die anderen Gefangenen miteinander sprechen, werden sie mit Peitschenhieben bestraft, weil die Kämpfer glauben, sie würden Fluchtpläne schmieden. Eines Nachts gelingt es Aimée zusammen mit einem anderen Mädchen, ihren Peinigern zu entkommen. „Bei Duru, 90 Kilometer von hier, sind wir raus aus dem Busch.“ Ugandische Soldaten helfen ihnen, so kommt sie nach Dungu. Im Flüchtlingsviertel der Stadt findet Aimée ihre Mutter wieder. Aber das Leben mit ihr ist schwierig. Aimée verkauft abends Brot, um sich das Schulgeld zu verdienen. Nach einem Jahr fragt sie Schwester Angélique, ob sie bei ihr wohnen kann.
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