Verwaist, aber nicht vergessen„Jungen Menschen auf die Beine zu helfen, das ist unsere Mission“, sagt
Schwester M. Klara Luers (72), die seit 30 Jahren in Malawi lebt. Damit meint sie
vor allem die zahllosen Aids-Waisen in dem ostafrikanischen Land, denen die
Franziskanerinnen Salzkotten eine Zukunft geben wollen. |
Von Michael Bodin (Text und Fotos)
Deriah wohnt zwischen Tabakpflanzen. Tabak, eines der Hauptexportgüter des ostafrikanischen Landes, wächst hinter der kleinen Hütte, in der die 15-Jährige lebt. In dicken Bündeln hängen die Pflanzen zum Trocknen in einem Unterstand vor der Hütte ihrer Mutter. Deriah ist Halbwaise. „Vor einigen Jahren starb mein Vater an Malaria“, sagt sie. Schwester M. Veronika Engelmann, 52, vom Konvent der Franziskanerinnen in Madisi vermutet jedoch, dass es Aids war. Aids ist für viele Menschen in Malawi noch immer ein Tabu, obwohl die Rate der Betroffenen zu den höchsten der Welt zählt.
Deriahs Mutter arbeitet auf der Tabakfarm und sichert der Familie so ein kleines Einkommen. Die Arbeitsbedingungen auf den Farmen bezeichnet Father Maximian Khisi von der katholischen Pfarrei im Ort vorsichtig als „ungerecht“. Den Arbeitern werde ein Hungerlohn gezahlt. Immer wieder gibt es Berichte über Kinderarbeit im Tabakanbau und über Gesundheitsschäden durch die Aufnahme von Nikotin durch die Haut der Pflücker. Deriah muss nicht arbeiten. Sie kann die St. Francis School der Franziskanerinnen Salzkotten in Madisi besuchen. Seit der Gründung 2001 nimmt die Schule überwiegend Aids-Waisen auf, die so die Chance erhalten, den Abschluss der achtjährigen Primary School zu erreichen, was in etwa dem früheren deutschen Volksschulabschluss entspricht. 60 Prozent der 1200 Schülerinnen und Schüler sind Waisen.
Die typische Großfamilie gibt es nicht mehr
Deriah und ihr Mitschüler William, 14, gehen in die Abschlussklasse. Die beiden Jugendlichen lernen eifrig für ihre Prüfungen. „Ich möchte einen guten Abschluss machen und danach zur Secondary School gehen“, sagt William, der bereits bei seiner Einschulung ein Waisenkind war. Er lebt in einer der typischen Hütten aus Lehmziegeln mit Strohdach zusammen mit Onkel und Tante. Sein Onkel verwaltet die Maismühle des Dorfes. Im günstigen Fall leben Waisenkinder wie Deriah und William bei verantwortungsvollen Großeltern oder anderen Verwandten der Familie. Manche werden aber auch von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht und erhalten teilweise über Tage nichts zu essen. „Durch Armut und Aids ist der soziale Zusammenhalt zerbrochen. Die typische afrikanische Großfamilie, die auch ein Waisenkind durchbringt, gibt es nicht mehr“, erklärt Schwester M. Veronika die Situation. Mädchen würden dann früh verheiratet, um eine Sorge los zu sein.
Auf zahlreiche Schicksale sind Schwester M. Klara Luers und Schwester M. Veronika Engelmann in den vergangenen Jahren in Madisi aufmerksam geworden. Die Schwestern und Vertreter des Elternrates der Schule besuchen regelmäßig die umliegenden Dörfer und fragen nach Waisenkindern. Dabei mangelt es ihnen nicht an Schülern. Sie möchten aber besonders jene erreichen, die sonst keine Schulbildung erhalten würden.
Um kurz vor sechs am Morgen sind die Schatten noch lang, und eine Mischung aus Rauch und Dunst hängt über den Dörfern. Über einen schmalen roten Sandweg läuft Deriah zum Haltepunkt des Schultransports. Dort auf der etwas breiteren Sandpiste kann der Kleinlastwagen der Schule mit einiger Mühe fahren. Mit dem vom deutschen Hilfswerk Misereor finanzierten Fahrzeug mit Sitzfläche werden die Waisenkinder am Morgen in den Dörfern abgeholt. Deriah trägt ein lilafarbenes Kleid und eine rosa Bluse, ihre Schuluniform. Auf der Ladefläche befindet sich eine Sitzbank, und es gibt Verstrebungen, an denen man sich festhalten kann. Am nächsten Haltepunkt steigt auch William ein. Nach kurzer Fahrt erreichen sie die St. Francis Catholic Primary School. Nach und nach füllt sich der Hof mit Schülerinnen und Schülern, die sich klassenweise aufstellen. Der Schultag beginnt um 7.15 Uhr mit Gymnastik, Gebet und den aktuellen Ansagen der Lehrer. Die täglichen „Assemblies“ wurden aus der britischen Schultradition übernommen.
„Wie heißt der Knochen, der das Rückenmark schützt“, ruft der Lehrer Daniel Banda Mandela mit lauter Stimme in den Klassenraum. Deriah und William schreiben die Frage in ihr Heft. Im Fach „Wissenschaft und Technik“ bereitet sich die Klasse an diesem Morgen auf die zentralen Abschlussprüfungen vor. Daniel Banda Mandela schreibt weitere Testfragen an die Tafel, bis diese restlos gefüllt ist. Der 38-Jährige war der erste Lehrer der St. Francis School, der mit Hilfe von Spenden aus Deutschland das private christliche Emmanuel College in der Hauptstadt Lilongwe besuchen konnte. Damit erreichte er die Qualifikation zum staatlich anerkannten Lehrer. Weitere folgten ihm.
Auf dem Schulhof gibt es „Likuni-Phala“. Die Köchinnen teilen den Brei aus einem Teil Soja, vier Teilen Mais und Erdnüssen aus einem großen Topf aus. Für manche Schüler bleiben dieses Frühstück und das Mittagessen in der Schule die einzigen Mahlzeiten am Tag. Mittags gibt es das malawische Nationalgericht Nsima, eine Art Knödel aus Maismehl, mit wechselnden Gemüsebeilagen, Fisch oder Eiern. Mit ihren Freundinnen sitzt Deriah im Kreis auf dem Boden der offenen Halle und tunkt ihr Nsima genussvoll in eine Soße mit roten Bohnen. Sie essen mit der Hand aus jeweils einer Schale für Nsima und einer für die Bohnen. Es schmeckt und es macht satt.
In der Frühstückspause
Die stetig gewachsene Schülerzahl stellte die Schule bis vor wenigen Jahren vor das Problem, immer mehr teures Feuerholz für das Kochen der Mahlzeiten verwenden zu müssen. Die Rauchentwicklung war für die Köchinnen fast unerträglich. Inzwischen erhitzt eine Solaranlage das Wasser auf 80 Grad Celsius, bevor es in den Topf kommt, und es muss nur noch wenig Feuerholz eingesetzt werden. Allein rund 20 Tonnen Mais pro Jahr sind aber nötig, um die Mahlzeiten für die Schüler und weitere 300 Kinder aus dem Kindergarten der Schwestern zuzubereiten. Ein knappes Drittel des Getreides wird im eigenen Schulgarten angebaut oder von Eltern gespendet. Dennoch muss Schwester M. Klara für umgerechnet rund 4000 Euro im Jahr Mais und Soja einkaufen. Den lokalen Preis für Mais beobachtet sie wie ein Börsenhändler das Steigen und Fallen der Aktienkurse.
Direkt am Schulhof befindet sich ihr Büro, zu dem die Tür immer offen steht, nicht nur um kühle Luft hereinzulassen. Schwester M. Klara möchte ansprechbar sein für Schüler, Lehrer, Eltern, Gärtner, Köchinnen, Handwerker, Lieferanten und alle, die etwas auf dem Herzen haben. Sie ist Managerin und „Amai“ (Mutter). Bevor sie nach Madisi kam, war Schwester M. Klara Heimleiterin im Josefshaus im westfälischen Lipperode, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Doch es zog sie in die Mission. Und als die Karmelitinnen aus Luxemburg die Leitung des Krankenhauses in Madisi abgeben wollten, ergab sich die Möglichkeit. 17 Jahre arbeitete Schwester M. Klara in der Verwaltung des Krankenhauses. Ende der 90er-Jahre breitete sich Aids immer mehr aus, und in den Dörfern blieben die verwaisten Kinder zurück, deren Eltern an der Krankheit starben. Aus dem Unterricht in einer Garage, in der die Kinder der Angestellten des Krankenhauses unterrichtet wurden, entwickelte sich die St. Francis Catholic Primary School. Nach und nach wuchs die Schule. Das Frühstück und ein Mittagessen sowie der Schülerverkehr wurden eingeführt. Schwester M. Veronika richtete auf dem Schulgelände eine Krankenstation ein, in der Schüler, Lehrer und Angehörige von ihr und einer Mitarbeiterin medizinisch versorgt werden. Als die ersten Schülerinnen und Schüler ihr Examen machten, stellte sich die Frage der weiteren Schulausbildung.
Heute betreuen die Franziskanerinnen 77 Waisenkinder, die verstreut im gesamten Land unterschiedliche, weiterführende Schulen besuchen. In diesem Jahr wurde ein Hostel gebaut, in dem ältere Schülerinnen wohnen können, um so die oft gefährlichen Schulwege zu vermeiden. Ohne die Mitarbeit der Schwestern aus Indonesien wäre all dies schon länger nicht mehr möglich, meint Schwester M. Klara. Schwester Raynelda Saragih, 49, die Schulleiterin, ist seit 13 Jahren dort und Schwester Emmanuela Sitorus, 43, arbeitet seit neun Jahren als Lehrerin an der Schule. In diesem Sommer wurde Schwester M. Virgini von der indonesischen Ordensprovinz als neue Kindergartenleiterin nach Madisi gesandt.
Der Kindergarten entwickelte sich aus einer Betreuung für die Kinder der Angestellten des Krankenhauses zu einer vollständigen pädagogischen Vorschuleinrichtung mit sechs Gruppen und jeweils einer angestellten Mitarbeiterin pro Gruppe. In Malawi sind Kindergärten fast unbekannt, und es gibt keine Ausbildung für Erzieherinnen. Geschult werden die Mitarbeiterinnen von den indonesischen Ordensschwestern. Viele Kindergartenkinder sind ebenfalls Aids-Waisen.
Gefährliche Ferienzeit
Nicht immer ist der Alltag in Madisi so fröhlich wie der Gesang der Kinder am Morgen. Schwester M. Klara hat in ihren Jahren dort schon viel Elend gesehen, und es geht ihr immer wieder sehr nahe, wenn die Menschen leiden. So wie der Junge aus der vierten Klasse, der nach den Ferien nicht mehr zur Schule kam. Schwester M. Veronika suchte ihn in seinem Dorf und fand ein stark unterernährtes und krankes Kind am Boden kauernd. Als die Verwandten das Waisenkind am nächsten Tag zur Krankenstation der Schule brachten, brach der Junge auf dem Hof zusammen und konnte nicht mehr aufstehen. Seit der Geburt mit HIV infiziert, hatte er offenbar die vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellten Medikamente nicht genommen und auch die Nahrung verweigert, weil ihm jeder Lebensmut fehlte. Schwester M. Veronika sorgte dafür, dass er ins Krankenhaus kam. „So ein Elend“, seufzt Schwester M. Klara am Abend. Trotz aller Bemühungen konnte der Junge nicht mehr gerettet werden und starb einige Tage später.
„Die Ferienzeit ist für einige Waisenkinder oft kritisch“, erklärt Schwester M. Veronika. In der Schulzeit hingegen erhalten die Kinder Nahrung in der Schule, und die Lehrer oder Schwestern bemerken es, wenn es Anzeichen von Vernachlässigung gibt. Es sind die vielen positiven Entwicklungen, die Mut machen: ehemalige Schüler, Aids-Waisen wie Clifford Banda, der sich auf ein Jurastudium vorbereitet oder Alinafe Makande, die als Hilfslehrerin an der Schule unterrichtet und in der Abendschule ihren Abschluss verbessern möchte, um dann Lehrerin zu werden. Auch Deriah und William zählen dazu. Waisenkinder aus armen Verhältnissen, die zu verantwortungsvollen und interessierten Jugendlichen herangewachsen sind, die für ein gutes Examen lernen, höhere Schulabschlüsse anstreben und qualifizierte Berufe erreichen möchten.
In der Abendsonne schiebt Deriah mit ihren Mitschülerinnen und den Frauen der Küche Sojabohnen zusammen, die auf dem Schulhof zum Trocknen ausgebreitet liegen. Es ist nach 16 Uhr. Normalerweise würden Deriah und William jetzt zu Fuß zurück in ihre Dörfer gehen, denn der Schultransporter fährt nur am Morgen. Heute können sie mit dem Pickup der Schwestern mitfahren. Im Dorf sitzt Deriahs Mutter vor ihrer Hütte und hat ein kleines Mädchen auf dem Arm, das an ihrer Brust trinkt. Sie wirkt kurz überrascht und freut sich dann sichtlich über den Besuch, für den sie schnell eine Bastmatte ausrollt. Sie scherzt mit Deriahs Lehrer, der mitgekommen ist. Kinder strömen herbei, viele Kinder. Einige sind Deriahs Halb-Geschwister. Sie ist die Älteste.
Um zu Williams Dorf zu gelangen, geht es zurück auf die einzige Asphaltstraße, die Madisi von Nord nach Süd durchzieht und an der es immer wieder zu schweren Unfällen mit Fußgängern kommt. Ein Sandweg zwischen Maisfeldern führt von der Straße zum Dorf Chapuma, wo William bei seiner Tante und dem Onkel lebt. Wäsche trocknet in dem von einem Bambuszaun eingefassten Hof. Auch Williams Tante rollt eine Bastmatte aus, weiß aber nicht so genau, was sie von dem unerwarteten Besuch halten soll. Über einem Holzfeuer in der Hütte steht ein Kochtopf. Für das Abendessen ist gesorgt.