Leben auf drei RädernÜberall auf den Philippinen sind die Velos mit den drei Rädern zu sehen.Tagsüber sind sie Taxis und Kleintransporter. Nachts schlafen die ärmsten Familien auf den Fahrrädern mit Seitenwagen. |
Text: Jörg Nowak; Fotos: David Sünderhauf
Diana ist gerade von der Schule gekommen, nun muss sie zuerst ihre Hausaufgaben auf dem Bürgersteig machen. Die Zehnjährige legt ein Holzbrett aus Pressspan auf den Boden vor dem Bordsteinrand, wischt den Staub von der Oberfläche und legt ihre Bücher und Hefte darauf, fertig ist ihr Schreibtisch. Diana lebt mit ihren Eltern in der philippinischen Hauptstadt Manila in der Leon-Guinto-Straße. Wie jeden Tag trägt sie ihre Schuluniform, eine weiße Bluse mit rotem Rock und einem Paar Flip-Flops. Sie setzt sich auf die Pressspanplatte und schreibt Englischvokabeln auf. Keine zwei Meter von ihrem Schreibtisch entfernt fahren Autos vorbei, Lastwagen hupen, Motorräder schlängeln sich durch den Stau. Die Straßen der philippinischen Hauptstadt Manila sind laut, die Luft ist voller Abgase und die tropische Hitze lässt die Kleidung auf der Haut kleben.
Die Passanten gehen achtlos an der Familie vorbei. Nur eine Frau bleibt stehen. Die Missions-Benediktinerin Schwester Cecille Ido begrüßt Diana und deren Mutter Armida Mercado mit einem freundlichen Lächeln. „Du machst ja fleißig deine Hausaufgaben“, lobt die katholische Ordensfrau und wendet sich Armida Mercado zu. „Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage, aber warum leben Sie auf der Straße?“ „Da drüben auf der anderen Straßenseite war mal unser Zuhause“, antwortet die 48-jährige Mutter. Die Familie besaß nur eine armselige Hütte. „Aber wenigstens hatten wir ein Dach über dem Kopf und eine Tür, die wir abschließen konnten.“ Armida Mercado vergisst nie den Tag, an dem ein Lastwagen vorgefahren kam. „Die Bauarbeiter sagten zu uns: ‚Ihr müsst hier weg‘ – ‚Wieso? Wo sollen wir denn hin? Bitte lassen Sie uns unser Haus‘“, flehte ich. „Das Grundstück, auf dem eure Hütte steht, gehört euch nicht“, sagte einer der Bauarbeiter. Dann kam ein Bulldozer und riss die Hütte ab. Dianas Familie ist ein paar Meter weiter gezogen und lebt seitdem auf dem Bürgersteig. „Nur hier in Manila kann ich ein paar Pesos mit dem Fahrrad verdienen“, so der verwzeifelte Vater. Die Pedicabs, die aussehen wie Fahrräder mit Seitenwagen, sind ein beliebtes und billiges Transportmittel in den Philippinen. Befördert wird alles: Fahrgäste, Baumaterialien, schwere Säcke mit Reis und gestapelte Bierkästen.
Die Familie hat ihre ganzen Habseligkeiten unter der hinteren Sitzbank des Dreirads verstaut: Kleidungsstücke, eine große Schüssel zum Wäschewaschen, einen Kochtopf, Zahnbürsten und die Schul sachen von Diana. Viel mehr besitzen sie nicht. Wenn Diana den Kopf in den Nacken legt und nach oben schaut, kann sie die obersten Etagen eines im Bau befindlichen Apartmenthauses sehen.
Neureiche Mitbürger werden bald in die Wohnungen mit Klimaanlage einziehen und im hauseigenen Pool schwimmen gehen. Gerade kommt Dianas Vater mit einem Eimer Wasser von der Waschanlage zurück. Wo die Autos der Besserverdienenden gereinigt werden, kauft er Wasser zum Kochen und Waschen. „Ich lade euch ein, morgen in unser kleines Haus Tuluyan zu kommen. Da bekommt ihr eine warme Mahlzeit und könnt euch richtig waschen, ohne dass euch jemand sieht“, verspricht die resolute Ordensfrau. Nachdem die Schwester sich verabschiedet hat, fragt Armida ihre Tochter nach den Hausaufgaben. „Oh, beinahe hätte ich Mathe vergessen“, entgegnet Diana verlegen. „Na, dann aber schnell, es ist schon 18 Uhr und es wird dunkel. Damit Diana noch die Aufgaben im Mathebuch lesen kann, schiebt sie die Spanplatten zu der meterhohen Straßenlaterne und hat so eine strahlende Schreibtischlampe. Inzwischen schüttet ihre Mutter ein wenig Wasser aus der Waschanlage in den Kochtopf und bereitet den Reis zu. Nach dem Essen macht Dianas Mutter das Bett. Sie nimmt jene beiden kleinen Holzplatten, die zuvor als Schreibtisch dienten, und legt sie ins Pedicab-Fahrrad. So entsteht eine kleine Liegefläche. Darauf legt sie eine Decke, damit das Holz beim Schlafen nicht so hart drückt. Fertig ist das Bett auf Rädern. Diana legt sich neben ihre Mutter. Und während die Autos und Lastwagen an der improvisierten Schlafstätte vorbeifahren, sucht Diana den Nachtschlaf.
Tödlicher Unfall
Schwester Cecille geht regelmäßig durch die Straßen von Manila und hilft Familien in Not. An einer großen Kreuzung findet sie die verzweifelte Alma Escaenas mit ihrer Familie. Sie leben in einem Pedicab-Rad zwischen dem sechsspurigen Osmena Highway und den Schienen der S-Bahn. „Was ist passiert?“, fragt Schwester Cecille. „Meine Freundin, meine Freundin“, stammelt die 34-Jährige. „Sie hat einen Moment nicht aufgepasst. Sie war zu nah an den Schienen und dachte, der Zug würde auf dem gegenüberliegenden Gleis fahren.“ Almas Freundin wurde von der tonnenschweren Lokomotive erfasst. „Da vorne starb sie“, sagt Alama und deutet mit dem Zeigefinger in Richtung der Gleise.
„Warum bleibt ihr denn hier an diesem gefährlichen Ort?“, fragt Schwester Cecille. „Von der kleinen S-Bahn-Station kommen viele Fahrgäste hier vorbei. Mein Mann Michael verkauft ihnen Obst.“ Morgens in aller Herrgottsfrühe fährt er mit dem Rad zum Obsthändler und bietet den Pendlern die Früchte an. „150 bis 250 Pesos verdiene ich pro Tag“, berichtet Michael. Mit den umgerechnet drei bis fünf Euro muss er seine fünfköpfige Familie und die Großmutter ernähren. „Jeden Tag muss ich 50 Pesos Miete an die Besitzerin des Fahrrads zahlen.“ Schwester Cecille ist erbost: „Das ist ja Ausbeutung!“
Im Tuluyan-Haus herrscht reges Treiben, die Ordensgemeinschaft unterhält hier eine Anlaufstelle für Familien in Not. Viele Familien sind gekommen. Alle können sich richtig satt essen. Für Diana und die anderen Schulkinder gibt es einen großen Tisch und für jeden einen Stuhl, wo sie ihre Hausaufgaben machen können. Dann verteilt die Ordensschwester Kleiderspenden und gebrauchte Spielzeuge, die sie von der katholischen Kirchengemeinde erhalten hat. Diana freut sich riesig über einen großen Teddybär.
Später ruft Schwester Cecille die Erwachsenen zusammen. Das Gespräch beginnt mit einem Gebet, dann fragt sie: „Wie wollt ihr im Jahr 2014 leben?“ Alle träumen von einem gut bezahlten Job, mit dem sie sich eine eigene kleine Wohnung leisten können. „Aber wie erreicht ihr euer Ziel?“, fragt die Ordensschwester. „Jeder von euch hat ganz spezielle Talente. Die wollen wir entdecken und fördern, damit ihr auf eigenen Beinen stehen könnt.“ Schwester Cecille stellt der Gruppe zwei Frauen vor: „Das ist Johanna, sie hat früher wie ihr auf der Straße gelebt. Als sie hierhin kam, habe ich sofort gemerkt, wie geschäftstüchtig sie ist.“ Die Angesprochene nickt verlegen. „Ja, ich habe bei Schwester Cecille viel gelernt und sie hat mir ein wenig Startkapital geliehen. Jetzt habe ich meinen eigenen Kiosk.“ Getränke und Süßigkeiten verkauft sie in ihrem Laden, der hinter einer Fensterfront liegt. Hier werden die Waren und das Geld durchgereicht. Der Verkaufsraum ist auch das Zuhause von Johanna. Auf wenig Platz befinden sich ein Bett, ein Tisch mit Stuhl und die Vorräte. „Ich bin so froh, dass ich nicht mehr auf der Straße leben muss“.
Hilfe zur Selbsthilfe
Dann erzählt Cathrine ihre Geschichte. Sie ist aus der Bürgerkriegsregion in Mindanao geflohen, nachdem ihr Mann umgebracht wurde. In Manila wurde sie ausgeraubt und lebte danach ein Jahr mit ihrem siebenjährigen Sohn auf der Straße. „Niemand hat uns geholfen. Nur ab und zu hat uns die Stadt mit einer Suppenküche versorgt.“ Eine Chance, von der Straße zu kommen, hat sie erst im Tuluyan-Haus gefunden. „Schwester Cecille hat mich gefragt, was ich gut kann und gerne machen würde. Ich koche und backe für mein Leben gerne. In der Tuluyan-Küche konnte ich mein Talent unter Beweis stellen.“ Nach einer gelungenen Kostprobe sind sich alle sicher, dass Cathrine mit einem kleinen Verkaufsstand gute Chancen haben wird. Schwester Cecille will mit den beiden Erfolgsgeschichten die anderen Familien motivieren, dass sie mit einer kleinen Starthilfe ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und endlich von der Straße wegkommen.
Mietkauf als Chance
Dabei hat die Ordensschwester selber einen Traum. „Wir bräuchten ein großes Haus mit vielen Schlafmöglichkeiten, wo ihr alle für einige Zeit wohnen könntet, bis ihr – so wie zum Beispiel Johanna – auf eigenen Beinen stehen könnt.“ Mit Spenden aus Deutschland von missio und der ZDF-Spendengala „Ein Herz für Kinder“ möchte sie dieses Haus errichten. Doch am heutigen Tag werden die Familien mit ihren Pedicab-Fahrrädern zu ihren angestammten Plätzen in den Straßen von Manila zurückkehren müssen. Für Michael hat die Ordensschwester aber schon jetzt eine Idee. „Es hat mir keine Ruhe gelassen, dass deine Familie kein eigenes Pedicab hat und ihr bei der Anmietung so ausgenommen werdet. Hier habe ich ein gutes Pedicab-Fahrrad für dich“, sagt Schwester Cecille. „Geschenkt bekommst du es aber nicht. Ich biete dir eine Art Mietkauf an. Du zahlst jede Woche so viel wie du kannst und am Ende gehört das Pedicab dir.“ Michael ist überglücklich. Schwester Cecille weiß, nur die Hilfe zur Selbsthilfe ist auf Dauer wirksam.
Als am Abend die Sonne untergeht, verabschieden sich auch Diana und ihre Eltern. „Ich muss für euch ein Dach über dem Kopf finden“, sagt Schwester Cecille. Dann fährt das Pedicab in Richtung Leon-Guinto-Straße los. Dort angekommen, bereiten ihre Eltern das Bett vor. Dann betet sie mit ihrer Mutter das Vaterunser und flüstert leise: „Lieber Gott, ich möchte nicht mehr auf der Straße leben. Ich träume von einem richtigen Haus“. Diana legt sich auf die Spanplatten in dem Pedicab-Rad, kuschelt sich an ihre Mutter und drückt den Teddy von Schwester Cecille ganz fest an sich. Während die vorbeifahrenden Autos mit ihren Scheinwerfern die Straße erhellen, schließt das Mädchen die Augen und schläft langsam ein.
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Riskantes Leben: Michael und Alma leben direkt an der Bahnlinie.
Schreibtisch: Diana macht Schulaufgaben auf der Straße.
Kinderzimmer: Mutter Alma stillt und wickelt ihr Baby im Pedicab-Rad.
Schwester Cecille: Die Missions-Benediktinerin leitet das Tuluyan-Haus.
Talente fördern: Cathrine (2. v. re.) lebte auf der Straße, jetzt verkauft sie selbst hergestellte Süßigkeiten.
Pedicab-Fahrräder dienen in Manila vielfach als Taxi und Transporter.
Für die zehnjährige Diana ist das Gespräch mit Gott selbstverständlich.
Leben auf Rädern: In Manila sind die Pedicab-Räder für viele Arme tagsüber Transportmittel.
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