Doctora der ArmenWeder Bürgerkrieg noch Elend können sie einschüchtern:
Seit mehr als 40 Jahren lebt und arbeitet die deutsche Ordensfrau
und Ärztin Johann Baptist Umberg in Kolumbien. |
Text: Franz Jussen; Bilder: Fritz Stark
Dieser Service dürfte Seltenheitswert haben: Für jede Arznei, die sie verschreibt, verfasst die Doctora einen eigenen Beipackzettel. In gewollt schlichten Worten und bester Sonntagsschrift füllt Schwester Johann Baptist Umberg, 73, tagtäglich viele kleine Notizzettel aus: mit dem Namen des Patienten, des Medikaments und einer genauen Gebrauchsanweisung. „Das muss sein“, erklärt die Ordensfrau und Ärztin. „Die meisten Patienten würden das Fachchinesisch der üblichen Informationen nicht verstehen“, zeigt sie sich überzeugt, während sie ihre Anweisungen zusammen mit den Pillen in ein Plastiktütchen steckt, das sie dem Patienten überreicht.
Rund 3000 mal im Jahr oder zehn- bis 20-mal täglich geschieht dies in der kleinen Arztpraxis in El Oasis, Cazucá, einem Stadtviertel Soachas, das vor den Toren der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá liegt. In ihrer Niederlassung mitten im Armenviertel, die aus Warteraum, Apotheke und Untersuchungszimmer besteht, ist die erfahrene Ärztin auf sich ganz allein gestellt. Weder eine Arzthelferin noch eine Apothekerin stehen ihr zur Seite. „Doctora Johanna“, wie die Menschen sie nennen, übt all diese Aufgaben in Personalunion aus.
Als Standort für ihre Praxis hat die Ärztin nicht zufällig El Oasis gewählt. Hier wird spürbar, weshalb Bogotá zu den am schnellsten wachsenden Städten Südamerikas gehört. Weil innerhalb der Acht-Millionen-Metropole der Platz knapp und teuer ist, lassen sich immer mehr Zuziehende am Rande der Stadt nieder. Wo die Stadtgrenzen zwischen Bogotá und Soacha genau verlaufen, wissen nur noch Eingeweihte. Menschen vom Land, die vor den Guerilleros und den Paramilitärs flüchten, landen hier ebenso wie Jugendliche, die auf eine Perspektive in der Stadt hoffen. Der Moloch Bogotá lockt sie mit der Illusion, eine Existenz aufbauen zu können, die Wirklichkeit in den Barrios aber zerstört diese Hoffnung für die allermeisten sehr schnell.
In El Oasis haben die Schwestern vom armen Kinde Jesu vor neun Jahren damit begonnen, zumindest Kindern eine Chance geben zu wollen. Mit dem Kindergarten und einer pädagogischen Werkstatt für Sieben- bis 12-Jährige steuern sie der Verwahrlosung hunderter Kinder im Barrio entgegen. Da bei haben die Schwestern auch an die alleinerziehenden Mütter gedacht, die es in großer Zahl gibt. Während ihre Kinder betreut werden, können die Mütter einer existenzsichernden Beschäftigung nachgehen. Die Praxis von Schwester Johann Baptist liegt direkt neben dem Kindergarten. Den Müttern und Kindern verhilft das zu kurzen Wegen. Viel Geduld brauchen sie dennoch, wenn sie zur Sprechstunde kommen wollen, denn Schwester Johann Baptist nimmt sich ungewöhnlich viel Zeit für ihre Konsultationen.
„Manche können gar nicht ausdrücken, was ihnen fehlt“, sagt die Ärztin, die schon seit 1972 in Kolumbien lebt. Aber sie habe im Laufe der Jahre ein feines Gespür dafür entwickelt, was gemeint sein könne, wenn eine Patientin „Harmonie im Bauch“ verspüre oder ein Patient darüber klagt, dass seine „Natur eingeschlafen“ sei. Amöbenruhr und Asthma, Harnwegsinfektionen und Herzrhythmusstörungen – auf den ersten Blick gibt es kaum Unterschiede zwischen den Krankheitsbildern, denen sie in El Oasis im Vergleich zu denen auf dem Land begegne, berichtet die gebürtige Dortmunderin. Dennoch seien die Herausforderungen an die Ärztin im Armenviertel speziell, denn die hygienischen Verhältnisse im Barrio seien eine Katastrophe.
An die Grenzen des Machbaren stoßen
Ohne die Doctora könnte sich der Großteil der Patienten einen Arztbesuch nicht leisten. Um ihnen aber nicht das Gefühl zu geben, Almosenempfänger zu sein, bietet die Ordensfrau ihre Dienste nicht völlig kostenlos an. Umgerechnet einen Euro für Erwachsene und 50 Cent für Kinder bis 18 Jahre kostet eine Konsultation – samt Medikament und selbstgeschriebenem Beipackzettel. Doch selbst von diesem Honorarsatz weicht die Ärztin nach unten ab, wenn einfach kein Geld da ist. Den Sprechstunden folgen am späten Nachmittag Hausbesuche im Barrio.
Regelmäßig schaut die Ärztin auch bei den Torados vorbei. Mutter Eva, 65, ist vor 15 Jahren mit ihrer Familie aus Santander im Nordosten Kolumbiens vor den Paramilitärs geflohen und in El Oasis gestrandet. Hier haben sie es immerhin zu einem eigenen Häuschen gebracht. Aber die älteste Tochter Evas ist kokainsüchtig, die zweitälteste sitzt im Gefängnis eine Haftstrafe als Dealerin ab. Eva lebt nun mit ihrer dritten Tochter, den beiden Söhnen und fünf Enkelkindern ohne geregeltes Einkommen, denn der Familienvater steuert nichts zum Lebensunterhalt bei. Und als sei dies nicht genug der Sorgen, wird die Familie erneut von Paramilitärs bedroht. Sie haben Eva zu verstehen gegeben, die Familie „durch soziale Säuberungsaktionen entsorgen zu wollen“, wenn sie nicht bald von sich aus das Weite suche. Wenigstens ihre drei Enkelkinder, für die sie das Sorgerecht hat, will Eva in Sicherheit bringen. Aber wohin? Wieder eine Flucht? Der Bürger- und Drogenkrieg bleibt allgegenwärtig in Kolumbien.
In solchen Fällen stößt auch Schwester Johann Baptist an die Grenzen des Machbaren. Manchmal bringt sie den Torados Lebensmittel vorbei, behandelt kleine und große Wehwechen und spendet viel Trost. Aber gegen die große Übermacht von Gewalt und Willkür kann auch sie nur kleine Zeichen der Nächstenliebe und Friedfertigkeit setzen. Dabei fragt sie nicht nach Schuld, sondern handelt nach Bedürftigkeit. Um ihre eigene Sicherheit zeigt sich die Ordensfrau wenig besorgt. Ihr markantester Wesenszug ist ihre Furchtlosigkeit. Ängstlich ist die zierliche Person nun wirklich nicht. „Richtig Angst habe ich eigentlich nie gehabt. Vielleicht liegt das an meinem Naturell und an meiner Abenteuerlust”, spekuliert sie, warum sie sich nie hat einschüchtern lassen – der Bürgerkrieg mit seinen Hunderttausenden Toten und Millionen Binnenflüchtlingen, mit Guerilla und Paramilitär, mit der Kokain- und Drogenmafia und den weltweit meisten Entführungen hätten dazu genug Anlass gegeben.
So sollte auch ihr männlicher Ordensname Johann Baptist, den ihre Mitschwestern beim Ordenseintritt für sie ausgesucht hatten, einen tieferen Sinn ergeben. Schließlich war auch ihr Namensgeber, Johannes der Täufer, kein „Angsthase“. Vor allem aber weiß Schwester Johann Baptist, dass ihr Ordenskleid sie schützt. Im katholischen Kolumbien ist die Kirche die letzte Institution, der die Menschen vertrauen – quer durch alle Bevölkerungsgruppen. „Die Leute hören auf das Wort der Kirche.“ Zu verdanken sei dies den vielen mutigen Bischöfen, die sich „wirklich für die Menschen einsetzen“, zeigt sich Schwester Johann Baptist überzeugt. Und fügt etwas süffisant hinzu: „Es gibt hier nur wenige Bischöfe, für die ihr Amt wichtiger ist, als die Menschen es sind.“ Eine seltene Mischung aus Mut und Sanftmut, Fachwissen und Nächstenliebe zeichnet die Deutsche aus, die im Herzen längst zu einer Kolumbianerin geworden ist: Immer nahe beim Menschen sein, immer den ganzen Menschen mit Leib, Seele und Verstand im Blick haben. Seelsorge und Heilung sind für sie untrennbar miteinander verbunden.
Erfahrung mit heiklen Situationen hat die Schwester mehr als genug. Knapp 30 Jahre war sie in der einstigen Hochburg der Rebellen und des Kokainanbaus „Feld-, Wald- und Wiesenärztin“. Etwas wehmütig erinnert sie sich an die Ritte auf dem Esel in die entlegenen Bergweiler Guayabetals, um die Kranken zu besuchen. An Land und Leute dieser Andenregion hat sie ihre Liebe verloren. Weil sie den Menschen weiter treu bleiben will, fährt sie alle paar Wochen die waghalsige Strecke durch die Kordilleren in ihr altes Wirkungsgebiet. Hunderten von Kindern hat sie hier auf die Welt verholfen, zahllose Opfer des Bürgerkriegs behandelt. Als Landärztin in staatlichen Diensten musste sie auch Kriegsopfer sowie ungeklärte Todesfälle obduzieren. Klaffende Wunden nähen, Geburten leiten, Leichen öffnen – das Repertoire der Medizinerin ist breit gefächert.
Den Wechsel in die Stadt nicht bereut
Wie gelassen sie mit Gefahr umzugehen weiß, wird deutlich, wenn sie von jenem Morgen im August 2000 erzählt, als sie in der Nähe des des Gesundheitszentrum von Guayabetal Schüsse hörte. Schmunzelnd erinnert sie sich, was ihr damals spontan in den Sinn gekommen sei: „Lieber Gott, lass mich noch schnell duschen, bevor sie kommen“, habe sie gebetet. Die Guerilleros kamen nicht, aber gegen Mittag wurden ihr die Verwundeten in die Praxis gebracht.
2002 verließ sie Guayabetal, um in Cartagena del Chairá im Süden Kolumbiens an einem Projekt zur Förderung der Frauen mitzuarbeiten. Doch ein Jahr später musste sie in ihre deutsche Heimat Neuss reisen, um sich um ihre schwerkranke Mutter zu kümmern. Nach deren Tod 2006 begann sie als selbstständige Ärztin in El Oasis. Den Neustart bereut sie nicht: „Ich habe gemerkt, dass die Menschen in der Stadt noch ärmer sind, weil das Überleben in den Elendsvierteln schwerer ist als auf dem Land“, sagt Schwester Johann Baptist, die schon als Zwölfjährige den Ruf verspürte, Missionarin und Medizinerin zu werden. „Mein Traum, den Armen in Kolumbien dienen zu dürfen, ist in Erfüllung gegangen. Und ich werde das solange tun, wie meine Gesundheit es zulässt.“ Armen und Kranken zu begegnen, ist nicht nur die Aufgabe, die Ordensgründerin Clara Fey (1815 - 1894) den Schwestern aufgetragen hat. Sie führt Schwester Joahnn Baptist nach eigenen Worten auch „tiefer in die Nachfolge Jesu, der die Armen besonders geliebt hat“.