Klinik der HoffnungIm äthiopischen Attat kümmern sich Missionsärztliche Schwestern um die Kranken und Verwundeten der ganzen Region. Dem Volk der Gurage bringen sie Heilung, Hilfe und bessere Lebensumstände. |
Text und Fotos: Uwe H. Martin und Frauke Huber
Um sechs gibt’s Kaffee. Der Duft erfüllt den ganzen Saal, in dem 20 Betten dicht an dicht stehen. Eine hohlwangige Tuberkulosekranke hustet ihre Lunge in ein Tuch. Daneben richtet sich ein Mann mit zerschlagener Nase und blutigem Kopfverband in seinen Kissen auf. Dankbar nimmt er eine kleine Tasse von der jungen Mutter im Nachbarbett entgegen, die ihr Neugeborenes an die Brust drückt. Über allem das Murmeln vertrauter Gespräche, Lachen und Scherzen. Neuigkeiten machen die Runde. Dann ziehen einige der Angehörigen Matten unter den Betten hervor, anderen muss der nackte Boden für die Nacht reichen. Zwar gibt es in Attat einfache Gasthäuser, aber die kann sich hier kaum jemand leisten. Und die kranken Verwandten wollen schließlich mit Essen und Trinken versorgt werden. So ziehen mit den Patienten manchmal ganze Familien in die Attat Klinik ein.
Ein Haus für werdende Mütter
„Unsere Aufgabe ist die Grundversorgung für einfache Leute, ohne viel Firlefanz und kostengünstig“, sagt Schwester Dr. Rita Schiffer, die medizinische Leiterin des Attat Hospitals, das 1969 von den Missionsärztlichen Schwestern mitten in Gurage, einer der ärmsten Regionen Äthiopiens, gegründet wurde. Bis vor einigen Jahren war das Krankenhaus das erste nach circa 180 Kilometern südwestlich der Hauptstadt Addis Abeba, eine Tagesreise mit dem Bus auf staubigen Pisten entfernt. Seither hat sich Äthiopien entwickelt. Eine neue Straße hat die Hauptstadt auf drei Stunden herangerückt. Doch noch immer sind viele Dörfer stundenlange Fußmärsche von der nächsten Straße entfernt. Im Notfall kann es für eine Schwangere und ihr Baby dann zu spät sein. „Deshalb haben wir ein Wartehaus mit 44 Betten für Risikomütter eingerichtet.“ Hier können Schwangere, bei denen sich Probleme abzeichnen, auf ihre Entbindung warten, oder Frauen, die eine Totgeburt erleben mussten, versorgt werden. „Es ist nur ein total einfaches Haus mit ein paar Betten und Decken, zwei Minuten vom Kreißsaal – aber im Laufe der letzten Jahrzehnte sind Tausende Mütter und Kinderleben dadurch gerettet worden.“ Schwester Rita ist sichtlich stolz, mit welch einfachen Mitteln sie hier einen Unterschied im Leben der Menschen machen kann: „Eine Ampulle Spinal-Anästhesie, eine Spinal-Nadel, zwei Fäden, Alkohol, Tupfer und Nadelhalter – fertig.“ Mehr braucht die Gynäkologin nicht für einen Kaiserschnitt, von denen sie etwa 500 im Jahr durchführt.
Ortswechsel. Bam, knallt der Kopf an das Dach des Jeeps. Mit röhrendem Motor kämpft er sich einen von der Regenzeit ausgewaschenen Hügel hinauf. Vorbei an einem Jungen, der eine große Herde Kühe mit einem Stock vor sich hertreibt, und einem Wald aus schnellwachsenden Eukalyptusbäumen. Hagerer Mann, dürre Ochsen, Holzpflug, winzige Scholle. Vorbei. Dann „False Banana Trees“, Ensetebäume, die gefällt, im Boden vergraben und sechs Monate fermentiert werden, und eine Großfamilie eine Woche lang satt machen.
Aids-Aufklärung mit Theaterstücken
Es fällt auf, wie sauber das Dorf ist. Einfache, schmucke Höfe entlang einer grünen Allee. In einem der für diese Region typischen großen Rundhäuser – Wände aus Lehm, Dach aus Gras, kühl bei Hitze, warm in der Nacht – sitzen an die 30 Frauen und folgen aufmerksam den Verhandlungen eines reichen Jungen aus der Stadt, der um die Hand der Tochter anhält. Trotz seines Geldes: Auch er muss sich gemeinsam mit seiner Auserwählten dreimal dem Aids-Test stellen, damit die Seuche sich nicht weiter verbreitet. Dann bricht Jubel aus. Trällernd, singend, tanzend wird Hochzeit gefeiert. Auch Theaterstücke wie dieses, die in den Dörfern aufgeführt werden, gehören zur Arbeit des Attat Hospitals. Durch sie gelingt es, in einem Land, in dem viele Menschen weder lesen noch schreiben können, Wissen zu vermitteln und das Handeln zu verändern. „Denn obwohl es gut ist Durchfall zu heilen, ist es viel besser Durchfall zu verhindern“, sagt Schwester Rita. „Wir schaffen es seit Jahrzehnten, das Kurative, die Behandlung, mit dem Präventiven, der Vorsorge, zu verbinden. Täglich sind etwa 25 Mitarbeiter in den Dörfern unterwegs. Und dadurch ist die Gesundheitssituation in unserem Einzugsgebiet von circa einer Million Menschen deutlich besser als in den meisten anderen Regionen Äthiopiens.“
Statt wie früher mehrmals täglich einige Kilometer zu kleinen Flüssen und stillen Tümpeln voller Würmer, Bakterien, Fäkalien zu marschieren, holen die Menschen ihr Wasser heute aus einem von bislang 144 Dorfbrunnen, die in der Region sauberes und erreichbares Trinkwasser liefern. Kinder werden durch die Krankenhausmitarbeiter in ihren Dörfern geimpft und die Frauen haben durchgesetzt, dass jede Familie hinten im Bananenhain, der zu fast jedem Haus gehört, eine einfache Toilette hat. Während viele Männer in der Stadt das Glück suchen, handeln, huren und palavern, halten die Frauen die Familien zusammen. Sparen gemeinsam jede Woche eisern ein paar Birr. Verleihen das Geld, wenn eine von ihnen eine gute Geschäftsidee hat oder durch Krankheit in Not gerät.
Wenn Not herrscht, helfen alle
Zurück in der Klinik. Mittags ist der Wartesaal für die ambulanten Fälle bis zum Bersten gefüllt. Viele haben sich schon vor dem Morgengrauen auf den Weg gemacht. Frauen warten, Kinder rennen, Männer fachsimpeln. Ein Ordner geht durch die Reihen, teilt mit sich weitenden Armen die Menge, versucht die Gänge für Ärzte, Schwestern, Krankenbahren freizuhalten, scheitert an der schieren Masse, wird laut, bleibt freundlich. Gründungsschwester Inge Jansen, 76 Jahre, weißes Haar und voller Leben, organisiert auch im Ruhestand noch die Buchhaltung, und achtet darauf, dass die Menschen zu ihrer Behandlung etwas beitragen. Einen kleinen Obolus kann sich fast jeder leisten. Selbst wenn er dafür einige Stunden vor den Toren der Klinik bettelt. Alltag in Gurage. Überall herrscht mal Not und dann helfen alle. Aber es gibt auch Schlitzohren, die versuchen, Schwester Inges Gutmütigkeit auszunutzen. Noch immer erzählen sie hier von dem Alten, der gerne eine größere Operation wollte. Nach vielem Hin- und Her-Gefeilsche fiel er auf die Knie, versuchte Füße küssend Schwester Inges Herz zu erweichen. Kam zurück am nächsten Tag und am übernächsten. Bis das Kniegeflehe Schwester Inge zu viel wurde und sie ihm drohte, ihn vor die Tür zu setzen. Schicksalsergeben zog der Alte ein dickes Bündel Geld aus der Tasche, zählte Schwester Inge die Scheine in die Hand und ging nach der OP geheilt von dannen. Im ganzen Land sind die Gurage nicht nur als gute Händler, sondern auch als die Schotten Äthiopiens bekannt.
Händler handeln. Und haben sie Land, lassen sie ihren Reichtum – ihre Kühe – weiden. Ganz sicher beugen sie nicht den Rücken zum Acker. Und so scheiterte Schwester Inge, als sie jung war und voller Ideen das Elend, den Hunger bekämpfen wollte, an der Kultur der Menschen. Erst als im äthiopischen Hochland der Boden knapp wurde und die Regierung drohte, den Gurage ihr Land wegzunehmen und andere Hochlandbewohner dort anzusiedeln, begannen die Gurage zögernd das Nationalgetreide Teff anzubauen. „Aber wir sollten auch unsere eigenen Vorstellungen manchmal in Frage stellen. Warum müssen alle Betten gerade stehen, wenn hier alles rund ist, selbst die Häuser? Nur weil ich aus Deutschland bin?“, fragt Schwester Inge. Sie erinnert sich noch wie schlimm es in den ersten Jahren war: Augenkrankheiten, massive Unterernährung, Typhus, Flöhe, Läuse waren an der Tagesordnung, Seife unbekannt. „Also haben wir eine kleine Seifenfabrik gebaut, jahrelang erklärt und vorgelebt, wie sich die Hygiene und mit ihr die Gesundheit verbessern lässt.“
Während Aids in aller Munde ist, fordert von den Infektionskrankheiten Tuberkulose weltweit die meisten Todesopfer. „Jetzt will die Regierung, dass wir hustende von nichthustenden Patienten trennen“, sagt Schwester Rita. „Deshalb müssen wir anbauen.“ Das neue Gebäude wird vieles erleichtern. Es weckt aber auch Begehrlichkeiten der Regierung. Sie will, dass das Krankenhaus weiter wächst, immer höhere Standards erfüllt, mit Spendengeldern zum Prestigeobjekt wird.
Der Freiraum, einfach zu sein
„Wir möchten kein vornehmes Krankenhaus sein, sondern ein einfaches, bezahlbares, in dem die Menschen sich wohlfühlen“, erklärt Schwester Rita die Entscheidung der Missionsärztlichen Schwestern, das Krankenhaus nicht noch weiter auszubauen. Das Geld für den laufenden Betrieb, mehr Personal, Laken, Binden, Spritzen wäre schwer aufzutreiben. Und schon jetzt lassen sich gute einheimische Ärzte kaum halten. Je weiter Äthiopien sich entwickelt, umso stärker zieht es die jungen Ärzte nach Addis Abeba, wo das große Geld winkt, das schöne Leben und eine gute Ausbildung für ihre Kinder. „Wenn die Auflagen der Regierung zu groß und wir für die Menschen hier zu teuer würden, wäre unser Auftrag nicht mehr zu erfüllen. Und wir könnten uns vorstellen, in einer abgelegeneren Region wie zum Beispiel Gambella neu anzufangen. Aber bisher gibt man uns den Freiraum, einfach zu sein.“
Schwester Rita ist glücklich an diesem Ort, der ihren Neigungen und Fähigkeiten entgegenkommt: Improvisation, Einfachheit und viel Verantwortung. Das erste Jahr im abgelegenen Attat war sehr schwer für die fröhliche Frau aus dem Ruhrgebiet, wo immer etwas los war. Es gab keine gleichaltrigen Mitschwestern, um sich auszutauschen: „Was ich in dieser Zeit gelernt habe, ist, mir selbst zur Freundin zu werden und mit Alleinsein, mit Einsamkeit umzugehen.“ Heute strahlt die 54-Jährige eine gelassene innere Ruhe aus, obwohl sie von früh bis spät und oft auch nachts im OP steht. „Dieses sich in Gott festmachen, auf Gott vertrauen, nimmt viel Druck von mir“, sagt Schwester Rita. Gerade wenn mal ein Fehler passiert oder nach mehreren Stunden operieren das Leben des Patienten am seidenen Faden hängt, sagt sie: „So lieber Gott, jetzt habe ich alles getan, was ich konnte. Jetzt bist du dran!“ Und sie fügt an: „Denn es ist ja eigentlich Gott, der heilt. Ich bin nur der Handlanger.“
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Zurück zur Übersichtsseite Nachrichten aus 2012
Unermüdlich: Schwester Inge (2.v.re.) ist längst im Ruhestand, leitet aber noch die Buchhaltung.
Zuhause: Typisch für die Region sind die Rundhäuser aus Lehm, Gras und Baumstämmen.
Impftag: Mütter warten mit ihren Kindern vor der Gesundheitsstation des Dorfes Dubisa. Ein Mitarbeiter des Attat Hospitals wird die Kleinen impfen.
Hygiene: Auf Initiative der Ordensschwestern sind in der Region viele Brunnen gebaut worden. Endlich bekommen die Familien sauberes Wasser.
Am Krankenbett: Schwester Dr. Rita Schiffer erklärt einer Familie das Röntgenbild und die Behandlung ihres Kindes.
Fruchtbares Land: Viele Dörfer sind auffällig sauber und gepflegt, die Felder gut beackert.
Mutterglück: Dank der Vorsorge und Geburtshilfe der Missionsärztlichen Schwestern kommen viele Babys gesund zur Welt.
Vorsorge: Impfung gegen Gelbfieber.
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