In der GrauzoneOrdensfrauen in Bayern geben Flüchtlingen Kirchenasyl. Sie stellen Menschlichkeit über das Gesetz,
handeln sich eine Anzeige ein - und machen weiter. Eine Geschichte über Gewissen und Staatsräson,
Muslime im Kloster und Begegnungen, die Herzen öffnen. |
Text: Beatrix Gramlich; Fotos: Gudrun Petersen
Diese Geschichte geht an Grenzen. Sie erzählt von Landesgrenzen, die Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland überwinden müssen. Von Sprachbarrieren und dem Aufeinanderprallen von Kulturen und Religionen. Und sie erzählt von unsichtbaren Grenzen: Wenn das Gespräch plötzlich verstummt, weil das, was die jungen Afrikaner erlebt haben, sich Worten entzieht. Weil die Demütigungen und Misshandlungen in den Lagern in Libyen oder auf dem Balkan unaussprechlich sind. Weil ihr Gehirn die schlimmsten Erinnerungen aus dem Gedächtnis gelöscht hat. Vieles, was die Flüchtlinge sagen, darf nicht an die Öffentlichkeit dringen. Es wäre zu gefährlich – für sie selber, für ihre Familien zu Hause und für die Helfer in Deutschland. Deshalb tragen die Personen in dieser Geschichte nicht ihre wirklichen Namen.
Diese Geschichte funktioniert nur mit Vertrauen. Doch Flüchtlinge haben gelernt, auf der Hut zu sein. Jahrelang haben sie mit der Angst gelebt: Angst vor der brutalen Gewalt in ihrer Heimat, wo ein falsches Wort genügt, um ins Gefängnis zu kommen. Todesangst auf der lebensgefährlichen Flucht durch die libysche Wüste und über das Mittelmeer. Angst, es nicht bis nach Deutschland zu schaffen. Angst, dass sie nicht bleiben dürfen. Im Asylbewerberheim sind sie fast jede Nacht aus dem Fenster gesprun-gen und haben sich im Wald versteckt. „Die Polizei kam zwischen drei und fünf Uhr morgens“, erzählen sie. „Sie durchsuchten die Zimmer nach Flüchtlingen, die sie abschieben konnten.“ „Wir haben alle schon im Wald geschlafen“, sagt Hayat, der, ein Bein untergeschlagen, im Sessel sitzt. Im Fernsehen hinter ihm läuft ein Bollywood-Streifen. Die anderen Männer drängen sich auf einem Kunstledersofa oder auf den Betten zusammen, die im Wohnzimmer stehen. Sie kommen aus Eritrea, Äthiopien, dem Irak. „Wer in Not ist, den nehmen wir auf, wenn wir Platz haben“, sagt Schwester Marianne. Im Sommer haben sie noch einen Wohn-wagen in den Hof gestellt und ein Zelt aufgeschlagen. Aber auch die Ordensfrauen geraten an Grenzen.
Im Schutz heiliger Stätten
Seit fast drei Jahren geben sie Flüchtlingen in ihrem Kloster Kirchenasyl und setzen damit eine jahrhundertealte Tradition fort. Schon im antiken Griechenland gab es Tempelasyl, das Menschen an heiligen Stätten unter den Schutz der Götter stellte und sie der weltlichen Gerichtsbarkeit entzog. Die Einführung des Kirchenasyls im ost- und weströmischen Reich um 400 nach Christus knüpfte bewusst daran an und folgte einem Grundgedanken des römischen Staats: dass weltliches Recht nicht unfehlbar ist. Heute geht es beim Kirchenasyl meist darum, die Abschiebung von Flüchtlingen oder deren Rückführung in das Land zu verhindern, über das sie in die Europäische Union eingereist sind. Ist eine Frist von sechs Monaten verstrichen, können sie in Deutschland Asyl beantragen. An diese Chance klam-mern sie sich wie an einen Strohhalm.
„Ich habe sechs Jahre gebraucht, um nach Deutschland zu kommen“, erzählt Isac, 21. Er stammt aus dem Nordkorea Afrikas, Eritrea: Ein Land, wo die Menschen hungern, Männer und Frauen jahrzehntelang zum Militärdienst gezwungen werden, wo die Polizei Menschen aus Kirchen und Moscheen holt und verhaftet, wo Zehntausende in unterirdischen Gefängnissen schmachten. Warum? „Diese Frage dürfen wir in Eritrea nicht stellen.“ Isac spricht gut Englisch und ist bereit, „kurz“ von seiner Flucht zu berichten. Es wird eine lange Geschichte. Er erzählt von den Schleusern, die ihm versprachen, er könne das Geld für die Fahrt abarbeiten, von der Wüste, wo sie zwei Tage ohne Wasser und Nahrung auskommen mussten. Von den Fahrern, die die Frauen von der Ladefläche der Pick-ups zerrten und vergewaltigten. „In Libyen haben sie uns in ein Lager gepfercht. Wir wurden geschlagen. Ich musste zwei Monate auf dem Bau arbeiten. Irgendwann haben sie uns nachts an den Strand gebracht und auf ein Boot gescheucht: 426 Männer, Frauen und Kinder. Am nächsten Morgen waren wir in Italien.“
Dort verbrachte Isac vier Wochen im Aufnahmelager. Dann überführte ihn die Polizei mit drei anderen Flüchtlingen nach Kroatien. Über das, was dort geschehen ist, spricht er nur zögernd: Mühsam ringt er sich Satz für Satz ab – so als könne ihn mit jedem Wort die Vergangenheit wieder einholen. „Es war sehr schlecht“, sagt er. „Es gab nicht genug zu essen. Sie haben uns mit einem halben Jahr Gefängnis gedroht, wenn wir unsere Fingerabdrücke nicht abgeben würden.“ Aber es muss noch mehr passiert sein. Denn Isac will um keinen Preis nach Kroatien zurück – das Land, wo er mit seinem Fingerabdruck registriert ist und nach dem Dublin-Abkommen Asyl beantragen müsste.
„Ist gut hier“
„Ist gut hier. Wir fanden große Erleichterung. Hier können wir wieder schlafen“, sagen die Flüchtlinge im Kloster. Mit Hilfe der Schwestern haben sie sich innerhalb weniger Monate ein erstaunliches Deutsch angeeignet. Inmitten von ihnen sitzt eine grauhaarige Frau in Fleecejacke und Flanellhose: Schwester Marianne, 71, gelernte Industriekauffrau und Heilpädagogin. Für die Flüchtlinge ist sie wie eine Mutter, sie selber meint, Oma sei passender. Sie kümmert sich um die Kirchenasylanten, seit 2015 die ersten an der Klosterpforte standen. „Wir sind da so hineingerutscht“, sagt Priorin Schwester Raphaela, 81, und erzählt, wie sie die Sache in der Klostergemeinschaft besprochen haben. „Die Schwestern haben sich von Anfang an gefreut. Es wurde so viel über die Not der Flüchtlinge berichtet. Wir hatten das Gefühl, wir leisten einen Beitrag.“
Etliche haben bis heute bei den Schwestern Kirchenasyl gefunden. Die ersten kamen über Betreuer oder Ärzte, die ehrenamtlich in den Asylbewerberunterkünften arbeiten. Mittlerweile reichen die Flüchtlinge auch untereinander die Adresse des Klosters weiter. Manche bleiben nur wenige Wochen, andere warten Monate, bis sie ins nationale Asylverfahren kommen und ihnen die Papiere zugestellt werden, die sie vor Abschiebung schützen. Jeden Einzelnen meldet Schwester Marianne dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), dem Landratsamt und der Ausländerbehörde.
Zwar haben sich Bund und Kirchen 2015 darauf geeinigt, dass die Behörden das Kirchenasyl nach Einzelfallprüfung respektieren, die Staatsanwaltschaft in Bayern aber geht trotzdem dagegen vor. Auch gegen das Frauenkloster gab es bereits ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt. Wie lebt man als Ordensfrau in einer rechtlichen Grauzone? „Damit habe ich überhaupt kein Problem“, platzt es aus Schwester Marianne heraus. „Wenn die einen von meinen Jungs holen wollen, sage ich, sie sollen mich nehmen. Aber vorher informiere ich die Presse.“ Menschen in Not zu helfen, bedeutet für sie, das Evangelium zu leben. „Für mich ist das eine Haltung – und eine Gewissensfrage“, betont sie und sieht sich darin von Papst Franziskus bestärkt.
Schwäche für Afrikaner
Trotzdem ist das Zusammenleben mit den Flüchtlingen nicht immer einfach: Wenn sie die Heizung voll aufdrehen und dabei alle Fenster aufreißen, wenn das Spülmittel nach zwei Tagen verbraucht oder die Waschmaschine schon wieder kaputt ist, sieht sich Schwester Marianne gezwungen einzugreifen. Manchmal sind ihre Jungs halt wie Kinder und brauchen ein bisschen Erziehungsnachhilfe. Das Durchschnittsalter der Ordensfrauen liegt bei 80. Dennoch haben sie kein Problem mit den jungen Männern. „Das ist unser missionarischer Geist“, erklärt Schwester Marianne. „Wir sind offen für andere Kulturen. Und wir lieben dunkelhäutige Menschen.“ Eher gibt es unter den Afrikanern Konflikte. Dass sie den Klosterbereich nicht verlassen dürfen, weil die Polizei sie im öffentlichen Raum jederzeit festnehmen kann, trägt nicht gerade zur Entspannung bei. Zum Glück ist das Gelände groß: Fünfeinhalb Hektar bedeuten Platz – und Arbeit. Im Asylbewerberheim mussten sie die Zeit
totschlagen. Im Kloster helfen sie im Garten, dem Hausmeister, beim Betten-machen. „Die machen das gut“, sagt die Hauswirtschafterin. „Die wollen arbeiten.“ Gidat und Kedani bauen gerade einen Schrank auf. Aawate sortiert den Müll – auch wenn er nicht einsieht, warum. „In Afrika“, meint er, „werfen wir das alles nach draußen.“
Der Hausmeister, Hans Schneider, ist ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt. „Ehrlich gesagt, sind sie keine Entlastung“, sagt er über seine ausländischen Helfer. „Der ständige Wechsel, die Sprachprobleme.“ Manchmal muss er ihnen mit Händen und Füßen erklären, was zu tun ist. Manche Dorfbewohner, meint er, seien gegen die Ausländer. Aber Bemerkungen wie „Jetzt muss er wieder seine Neger bespaßen“ lässt er nicht auf sich sitzen. „Wir hatten mal einen Flüchtling, der hat am Anfang viel geweint“, sagt Schneider. „Später ist er aufgetaut und hat mit uns gelacht. Ich habe das Gefühl, dass man helfen kann.“
Das Dorf, in dem das Kloster steht, hat nur wenige hundert Einwohner. Der Bus hält dreimal am Tag, am Anschlagsbrett werben Plakate für ein Schafskopfturnier und den Volksmusikabend.
Obwohl die Ordensfrauen nicht über das Kirchenasyl sprechen, wissen viele Einwohner Bescheid – und finden es gut. „Mir hom nix gegen d’Asylanten“, sagen sie und: „D’Schwestern wean schon wissn, wos mocha.“ Es gibt den Mediziner und den Zahnarzt, die die Flüchtlinge kostenlos behandeln, und den Polizisten, der die Ordensfrauen warnt, als er die Afrikaner auf der Straße sieht.
Während die CSU Ungarns rechtsnationalem Staatschef Viktor Orbán im Kloster Seeon den Teppich ausrollt, öffnen die Ordensfrauen ihr Haus für Flüchtlinge. Schon 2015 haben sie Horst Seehofer gemeinsam mit anderen Orden zu einem menschenfreundlicheren Umgang mit Flüchtlingen aufgefordert.
Konflikt im Kloster
Manchmal betet Schwester Marianne, dass keiner mehr kommt. „Ich sterbe, wenn ich Menschen, die verzweifelt vor mir stehen, abweisen muss, weil wirkeinen Platz mehr haben.“ Aber Mitschwestern haben auch schon gesagt: „Ich hoffe, du kennst die Grenzen. Wir können nicht alle retten.“
Einige Flüchtlinge leben mittlerwei-le wieder im Asylbewerberheim. Als Schwester Marianne zu Besuch kommt, überraschen sie sie mit Krapfen und Blumenstrauß. Sie sind froh, dass sie vorerst in Deutschland bleiben dürfen, gehen zur Schule, wollen eine Ausbildung machen. Aber sie vermissen ihre Familien. „Ich habe seit acht Monaten keinen Kontakt“, erzählt einer. Seine Eltern in Eritrea kann er nur über Dritte anrufen und ohne sich zu erkennen zu geben. Alles andere wäre ein Todesurteil.
Im Kloster waren sie glücklich. Ins Gästebuch hat ein Flüchtling geschrieben: „Am Anfang suchte ich nur einen Platz. Aber als ich kam, fand ich ein Haus und eine Familie.“
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