Leben im KäfigDer Name sagt alles: Cage-People, Käfig-Menschen. Gemeint sind Menschen, die in
Hongkong unter unwürdigen Bedingungen in Wohnkäfigen leben. Bis zu 50.000
Männer und Frauen leben so in einer der reichsten Städte der Welt. |
Von Jobst Rüthers (Text) und Kathrin Harms (Fotos)
Es sind 17 Käfige. Gitterverhaue der übelsten Art, aus rostigem Metall mit einigen weißen Stellen, viele Stäbe verbogen. Dunkle, ungemütliche Orte, in denen in Deutschland vielleicht Tiere, Hühner oder Hasen gehalten würden. Aber: 17 Käfige in einem vielleicht 35 Quadratmeter großen Raum, und hier leben Menschen, dicht nebeneinander und sogar übereinander gestapelt. Einer von ihnen ist Tang Man Wai. Der 65-Jährige sitzt wie geistesabwesend im Eingang seines Käfigs, wegen der schwülen Hitze nur mit einem Shirt und kurzer Hose bekleidet. Seit mehr als 30 Jahren lebt er in diesem Haus mit zwölf Stockwerken und dem zweifelhaften Charme einer Bruchbude. Mehrfach ist der zierliche Mann von einer Etage in die andere umgezogen und hat den Käfig gewechselt. Den Auszug aus dem menschenunwürdigen Etablissement hat Tang nicht geschafft.
Die Gitterbox ist fast zwei Meter lang, knapp ein Meter breit und gerade so hoch, dass sein Bewohner leicht gebückt sitzen kann. Eine dünne Decke dient als Matratze, das blaugemusterte Kopfkissen ist in Plastikfolie eingepackt, um Kakerlaken und Läusen keinen Aufenthaltsort zu bieten. Seine wenigen Habseligkeiten hat Tang Man Wai an die Gitterstäbe gehängt, Wäsche wird in Tüten aufbewahrt. Das Vorhängeschloss, mit dem er seinen Verschlag abschließen könnte, macht eigentlich keinen Sinn, es gibt sowieso nichts zu klauen. Den Bewohnern des Raumes stehen ein Kühlschrank und eine Mikrowelle zur Verfügung, der Fernseher in der Ecke funktioniert seit langem nicht. Ein kleiner Tisch vor der Fensterfront ist Aufbewahrungsort für einen Stapel alter Zeitschriften und Essensschalen, aus denen sich die Männer-WG versorgt. In der Mini-Küche tropft ein Wasserschlauch, die meisten Bewohner kaufen sich einmal am Tag in einer Garküche auf der Straße eine warme Mahlzeit, günstiger könnten sie nicht selber kochen. An einer Wand ist ein kleiner buddhistischer Hausaltar aufgebaut, links und rechts davon sind die Zugänge zu drei Toiletten. Zur Zeit bewohnen nur sechs Mieter die Käfige.
Tang Man Wai zahlt für seine zwei Quadratmeter Käfig 1300 Hongkong-Dollar im Monat, umgerechnet 150 Euro. Es ist viel Geld für den Mann, der keine Rente bezieht, aber eine geringe Sozialhilfe erhält. Als junger Mann hat er als Küchenhilfe in Restaurants gearbeitet, aber dann bekam er eine Lungenkrankheit und war zu anstrengender und regelmäßiger Arbeit nicht mehr in der Lage. Mehrmals am Tag braucht er ein Beatmungsgerät. Trotz seiner gesundheitlichen Einschränkung wird in dem Zimmer geraucht, drei Decken-Ventilatoren können weder die schlechte Luft noch die Hitze des frühen Abends vertreiben. Tang war kurz verheiratet, die gescheiterte Ehe blieb kinderlos. Zu seinen Geschwistern hat er keinen Kontakt, Freundschaften lassen sich in seiner Wohn- und Lebenssituation schlecht aufbauen und pflegen. Er ist dankbar für „gute Beziehungen der Bewohner untereinander, deshalb kann ich so lange hier leben“, sagt Tang Man Wai, der sein ganzes Leben in Hongkong verbracht hat. In vielen Wohnungen führt das beengte Zusammenleben zu Reibereien bis hin zu Gewalt zwischen den Bewohnern. Statistiken zählen bis zu 1000 Selbsttötungen im Jahr in Hongkong. Die schlechten Wohnverhältnisse verursachen bei den Bewohnern viele psychische und körperliche Leiden.
In Hongkong ist das Leben sehr teuer
Mehr als sieben Millionen Einwohner hat Hongkong, es ist eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Zur Region gehören die Inseln Hongkong, Lantau, die Halbinsel Kowloon und weitere 262 kleine Inseln. Weite Teile von Hongkong sind unbebaubar wegen der die Stadt umschließenden Berge. Seit 1997 ist Hongkong Teil der Volksrepublik China, hat aber bis 2047 den Status als Sonderverwaltungsregion; dieser sichert der Stadt das Recht auf freie Marktwirtschaft und eine gewisse politische Autonomie mit demokratischen Spielregeln. Noch hat Hongkong eine eigene Gesetzgebung und eine eigene Währung, den Hongkong-Dollar. Die Stadt gilt als eine der Finanzzentren Asiens, und sie ist eine der Städte mit den höchsten Lebenshaltungskosten weltweit. Das zeigt sich besonders auch auf dem Wohnungsmarkt. Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum, und jährlich zieht es rund sieben Prozent Neubürger in die Stadt. Deshalb wächst Hongkong nach oben und zählt weltweit zu den Regionen mit den meisten Hochhäusern.
Viele Gebäude in dieser Glitzerstadt gehören zu den höchsten der Welt – und zu den teuersten. Der Verdrängungswettbewerb ist gnadenlos, die Mieten steigen und können von vielen nicht bezahlt werden. Familien und Einzelpersonen müssen jahrelange Wartezeiten in Kauf nehmen, bevor sie in passende Wohnungen ziehen können. Schätzungen zufolge leben mehr als 200.000 Menschen in gefährdeten Wohnsituationen, ihnen droht Obdachlosigkkeit oder die Unterkunft in einem Wohnkäfig. Typische Slums mit Wellblechhütten in Barackenansammlungen ohne Strom und Wasser sieht man in Hongkong nicht. Die Armen wohnen versteckt in den langen Fluren der Wohnblöcke. Vor allem ältere Menschen ohne Rente und Arbeitslose können sich nicht mehr als die zwei Kubikmeter großen Verschläge leisten, zumeist wohnen alleinstehende Männer in den langen Fluren, die zu Schlafstätten umgebaut wurden. Für die Vermieter ist das ein einträgliches Geschäft. Es ist lohnender, eine Wohnung nicht an eine mehrköpfige Familie, sondern an viele Einzelpersonen zu vermieten, die in Käfigen und Schrankbehausungen wohnen. Pro Wohnung sind bis zu zwölf Vermietungen erlaubt; erst wenn es mehr sind, muss der Vermieter eine Lizenz erwerben und besondere Standards an Hygiene und Sicherheit erfüllen. Die Rechnung ist einfach: Möglichst viele Menschen auf wenig Raum bedeuten
maximalen Gewinn.
Mike Tam wohnt in einer Art Schrankwand, mit neun Männern in einem Flur über- und nebeneinander. Tam ist 67 Jahre alt, er hat lange Jahre im Sicherheitsdienst einer Firma gearbeitet und ist vor wenigen Jahren in den Ruhestand getreten. Tam war verheiratet und hat vier erwachsene Kinder, der Kontakt zu seiner Familie aber ist komplett abgebrochen. Mit seiner kleinen Rente kann er die Miete begleichen, ohne Sozialgeld in Anspruch zu nehmen.
Gefühl der Einsamkeit
Vor zehn Jahren war Tam an Krebs erkrankt, berichtet er, heute gilt er als geheilt, aber er empfindet die Einsamkeit. Tagsüber streift er durch die Stadt, hält sich hier und dort auf, nur nicht in dem engen Raum: „Es ist schlechte Luft, mir geht es nicht gut, aber ich habe keine andere Wahl“, sagt er. Zu den
anderen Mitbewohnern hat er nur wenig Kontakt, seine direkten Nachbarn sind tagsüber auf der Arbeit. Abends, wenn die Bewohner nacheinander eintreffen, wird nur das Notwendigste miteinander geredet, ein Gemeinschaftsgefühl oder gar Geselligkeit will nicht aufkommen, sagt Tam. Jeder versorgt sich selber, die Männer unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und Religion nutzen gemeinsam die kleine Küche und das spärlich ausgestattete Bad. Mike Tam sagt, er sei Katholik, aber eine Kirche habe er lange nicht mehr besucht. Er wirkt resigniert, hat keinen echten Lebensinhalt mehr. Was er vom Leben noch erwartet? Er kann es nicht wirklich sagen.
Seit vielen Jahren setzt sich die Society for Community Organisation, kurz SOCO, für die Käfigmenschen ein. SOCO sucht die Menschen in den Hochhäusern auf, schenkt ihnen Gehör, berät sie in der schwierigen Lebenssituation. Die Mitarbeiter von SOCO, unter ihnen rund 300 Freiwillige, begleiten bei Ämtergängen und helfen Anträge stellen. Die Hilfsorganisation, die mit katholischen Entwicklungsgeldern aus Deutschland unterstützt wird, leistet Sozialarbeit, führt Aufklärungskampagnen durch und macht Menschenrechtsarbeit. Es ist ein mühsames Engagement, denn der Bedarf ist wesentlich größer als die personellen und finanziellen Möglichkeiten der Organisation.
Leben ohne Altersversorgung
In Hongkong, dieser unglaublich reichen Stadt, gibt es keine gesetzliche Altersversorgung. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte der Bewohner keinen Anspruch auf Betriebsrente haben. Im Alter, nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, verarmen deshalb viele Menschen und sind nicht mehr in der Lage, die hohen Mieten zu bezahlen. Hier versucht SOCO durch politische Lobbyarbeit auf die Not der Menschen hinzuweisen; auf die Armut von Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen, die mit ihren Familien unterhalb der Armutsgrenze leben; auf die Gefährdung Tausender Männer und Frauen, die als Migranten oft schlecht ausgebildet sind und auf dem Arbeitsmarkt nur wenig Perspektive haben. Höchstens eine schlecht bezahlte.
Vor zwei Jahren hat sich Tang Man Wai um einen Platz in einer Wohnung des sozialen Wohnungsbaus beworben. Hoffnungsvoll ist er nicht, Hunderttausend andere stehen mit ihm in Konkurrenz. Angesichts seines Alters und seiner gesundheitlichen Situation überlegt Tang, sich nun um einen Platz in einem Haus für ältere Menschen zu bewerben. Aber auch hierbei ist die Hoffnung klein. In der Millionenstadt haben die Schwachen, Alten und Armen keinen Platz. Höchstens in einem Gitterkäfig. Oder einer Schrankwand.
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