Hans im GlückFeinpulvriger Sand, dorniges Gestrüpp und ab und zu eine Herde Rinder.Viel mehr hat die unwirtliche Steppenwüste der Kalahari dem hageren Buschjungen nicht zu bieten. Darum will Hans die Chance, die ihm Schwester Clara gibt, unbedingt nutzen. |
Text: Franz Jussen; Fotos: Fritz Stark
Es hat sich schnell herumgesprochen, dass Schwester Clara Oaes heute nach Blouberg kommt. Vor der kleinen Franziskuskirche haben sich mindestens 20 Personen versammelt, die mit ihr reden wollen. Einige von ihnen sind dazu viele Kilometer durch die Sandwüste gelaufen oder – wie Hans und seine Mutter Elizabeth – mit dem Eselskarren angereist. Dabei ist die Zeit der Ordensfrau knapp bemessen, denn sie will vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück im rund 150 Kilometer entfernten Dornfeld bei Gobabis sein.
Schwester Clara kann nur alle paar Monate nach Blouberg kommen. Während der Schulzeit ist für die Lehrerin die mehrstündige Hin- und Rückfahrt nicht möglich. So bleiben nur die Ferien, um in den äußersten Osten von Omaheke, eine der 13 Regionen Namibias zu reisen. Mehr als die Kirche, eine kleine Grundschule und eine Handvoll Wohnhäuser findet sie in Blouberg nicht vor. Und dennoch ist die winzige Siedlung für mehrere Hundert Menschen eine Art Oberzentrum: Einen größeren Ort gibt es südlich der Trans-Kalahari-Fernstraße und entlang der Grenze zu Botswana für die mit ihren Familienclans verstreut lebenden San nicht. Es ist jenes Volk, das von der Wissenschaft für die älteste Spezies des Homo Sapiens gehalten wird. Als ursprünglichste Form des Menschen zu gelten, macht die Buschleute stolz, erspart es ihnen aber nicht, ein Dasein voller Entbehrungen in der lebensfeindlichen Kalahariwüste fristen zu müssen.
Elizabeth Marman, 43, kann ihre Neugierde kaum bremsen, als Schwester Clara endlich eintrifft. „Wie macht sich Hans in der Schule?“, bestürmt sie die Ordensfrau – und vergisst dabei ganz den Willkommensgruß. Der überfallartigen Anfrage begegnet die resolute Lehrerin gelassen mit dem Vorschlag: „Sollten wir darüber nicht in Ruhe mit der Familie reden?“ Etwas verlegen ob ihrer vorschnellen Art willigt die Mutter des 15-Jährigen ein und reicht den vergessenen Handschlag nach. Hans ist das forsche Auftreten der Mutter einfach nur peinlich. Er hofft die Situation überspielen zu können, indem er in die Richtung zeigt, in der die kleine Wellblech-Hüttensiedlung der Marmans steht, in die er seine Lehrerin einlädt.
Staatliche Verjüngungskuren
Die Schwester will zuvor aber noch die Runde unter den übrigen Wartenden machen. Eine von ihnen ist Hans’ Großtante Erika, die ihre neue Identitätskarte hervorholt. „Das stimmt einfach nicht!“, empört sie sich und zeigt auf das eingetragene Geburtsdatum. Schwester Clara erkennt sofort, wo das Problem liegt. Seit die San verpflichtet sind, sich registrieren und Identitätskarten ausstellen zu lassen, häufen sich derartige Fälle amtlicher Verjüngungskuren. Indem die Behörden willkürlich geschätzte Geburtstage in das Dokument eintragen, drücken sie das Lebensalter der Betroffenen unter die 60-Jahre-Grenze. Damit erlischt für sie jeder Anspruch auf eine Rente, die in Namibia ab diesem Alter gezahlt wird. Erika weiß jetzt nicht mehr, wovon sie leben soll. Schwester Clara, die der Gemeinschaft der Missionsschwestern von der Unbefleckten Empfängnis der Mutter Gottes angehört, sichert Erika zu, den Fall der „Omaheke-San-Stiftung“ in Gobabis vorzulegen, die als unabhängige Nichtregierungs-Organisation die Interessen der San gegenüber den Behörden vertritt. „Es ist traurig, dass solche Fälle immer wieder auftauchen“, bedauert sie die Behördenwillkür: „Aber sie zeigen, dass die San trotz staatlicher Anerkennung immer noch auf der untersten Sprosse der sozialen Stufenleiter stehen.“
Brückenbauerin zwischen den Kulturen
Schwester Clara weiß, wovon sie spricht, denn sie selbst ist eine Damara. Zusammen mit den Buschleuten gelten sie als die „Ureinwohner“ Namibias. Und zusammen mit ihnen sind sie in der Kolonialzeit und lange danach verfolgt und vertrieben worden. Als Damara spricht Schwester Clara Khoekhoegowab, die meistverbreitete Khoisan-Sprache, deren geschnalzten, klickenden und geschmatzten Laute der San-Sprache ähneln, so dass sich Damara und San ganz gut verständigen können. Auch deshalb eignet sich die Ordensfrau hervorragend als Brückenbauerin zwischen den Kulturen. Am frühen Nachmittag trifft sie bei den Marmans ein, wo sie von Elizabeth und Hans, die vorzeitig mit dem Eselskarren zurückgekehrt sind, und dem ganzen Clan der Marmans herzlich in Empfang genommen wird. Vier wie verloren wirkende Wellblech-Hütten auf einer kleinen Anhöhe rund fünf Kilometer südwestlich von Blouberg nennt die Familie ihr Eigen. Die Szenerie erinnert mehr an eine miniaturisierte Armensiedlung als an eine „typische“ naturverbundene Unterkunft der San, wie sie Touristenprospekte aus Namibia versprechen. Sollte Familie Marman der Maßstab sein, dann haben die Buschleute ihre nomadische Lebensart aufgegeben: Die Zeiten, in denen die San in Hütten lebten, deren Wände aus zusammengesteckten Zweigen bestanden, die mit Geäst und Gras verfugt wurden, sind hier endgültig vorbei. Wellblech ist eben nur schwerlich mit Naturverbundenheit in Einklang zu bringen.
Als sich der Clan um Schwester Clara vor der elterlichen Hütte versammelt hat, fallen endlich die erlösenden Worte: „Hans hat das Zeug, die höhere Schule zu schaffen. Er sollte bei uns bleiben“, verkündet Schwester Clara den Beschluss, den sie mit dem Schuldirektor in Dornfeld gefasst hat.
Karger Lohn als Viehhüter
Das rührt selbst Vater Josef Marman, 45, dem nun bewusst wird, dass dem Sohn sein eigenes Schicksal erspart bleiben könnte. Er selbst weiß kaum noch, wie er die Sippe ernähren soll, seit die staatlichen Unterstützungen eingestellt wurden, mit denen die Regierung vorübergend den Unterhalt aller Buschleute gefördert hat, um ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern. Mit dem kargen Lohn, den er als Viehhüter für die kleine Rinderherde erhält, dessen Besitzer in Windhoek lebt, kann er die Familie kaum über Wasser halten. „Wir setzen alle Hoffnung auf unsere Kinder. Alles andere ist unwichtig“, tröstet er sich über seine eigene Perspektivlosigkeit hinweg. Diesen ausweglos scheinenden Zustand teilt er mit vielen San. Immerhin gehört er nicht zu jenen, deren Verzweiflung sie entmutigt und ins Exil des Alkoholismus getrieben hat.
In einigen Wochen wird die Familie mit ihrem Sack und Pack weiterziehen müssen, kündigt Josef an. Dann benötigen die Rinder frisches Weideland. Dass Hans bei diesem Umzug nicht mit anfassen kann, weil er dann wieder im Internat sein wird, gefällt dem Vater aber nicht. Das macht es für Hans nicht leicht: Dass er – wie Generationen von San-Söhnen vor ihm – der Familie kaum mehr helfen kann, belastet den Jugendlichen sehr.
Neue Generation von Buschmännern
Hans wäre nicht der erste, der aus enger Verbundenheit mit der Familie seine schulische Laufbahn vorzeitig beendet. Die Schwester weiß genau, wie schwer es jungen San fällt, fernab der Heimat zu leben. Sie kennt sogar Fälle, in denen Schüler des Nachts aus dem Internat verschwunden sind, um den bisweilen mehrere Hundert Kilometer langen Heimweg zu Fuß anzutreten. Bei Hans ist sie zuversichtlich, dass dies nicht geschehen wird, denn er hat ein klares Ziel: Er will unbedingt zur „Namibian Defence Force“, den Streitkräften Namibias, und träumt davon, eines Tages als Soldat die Grenze zu Botswana bewachen zu können. Dann könnte er sogar in der Heimat arbeiten. Seine Aussichten, beim Militär angenommen zu werden, sind nicht schlecht, denn die San gelten als außergewöhnlich geschickte Fährtensucher. Unverzichtbare Voraussetzung für eine solche Laufbahn aber bleibt der höhere Schulabschluss, für den er noch drei Jahre die katholische Johannes-Dohren-High-School in Dornfeld besuchen muss. Welch ein Glück also, dass Schwester Clara im vergangenen Jahr mit Michael Kasata, 54, dem Direktor der Grundschule in Blouberg, gesprochen und er ihr empfohlen hatte, Hans in Dornfeld aufzunehmen. Und welch ein Glück, dass die Schwester einen Sponsor für sein Schulgeld gefunden hat, das die Familie Marman niemals allein hätte aufbringen können.
Es wird Zeit für Schwester Clara, sich auf den Heimweg zu machen. Vielleicht ist es ihre Unhöflichkeit bei der Begrüßung, die Mutter Elizabeth veranlasst, Schwester Clara jetzt zum Abschied besonders fest an sich drücken. Dennoch ist der Ordensfrau bewusst, dass sie Hans’ Eltern mit gemischten Gefühlen hinterlässt. Das nimmt Schwester Clara in Kauf, denn sie traut es Hans zu, einer modernen Generation von Buschmännern anzugehören, die um des eigenen Überlebens willen den Bruch mit der Tradition wagt. Ihre eigene Geschichte, als Damara den Sprung in ein neues Zeitalter geschafft zu haben, zeigt, dass es möglich ist. Die Chance hat jetzt auch Hans. Nutzen muss er sie allein.
Sie sind an kontinente interessiert? Bestellen Sie hier Ihr kostenloses Probeabo.
Zurück zur Übersichtsseite Nachrichten aus dem Jahr 2012
Zuversicht: Schwester Clara und Schuldirektor Dos Ramos glauben an Hans’ schulischen Erfolg.
Tradition: Jagen mit dem Speer hat Hans von seinem Vater gelernt. Anwenden wird er es kaum.
Palaverstunde: Es geht um die Sorgen aller Mitglieder, wenn Schwester Clara die Familie Marman in der Kalahari besucht.
Fürsprecherin: Mit Missionsschwester Clara Oaes hat Hans eine starke Frau im Rücken.
Genügsamkeit: Die Ausstattung des Zimmers in Hans’ notdürftig errichteter Wellblechhütte lässt Wünsche eines Jugendlichen offen.
Tristesse: Die Tage in der Kalahari sind heiß und lang.
Kostbarkeit: Hans’ ganzer Stolz ist sein Fahrrad.
Kontakt | FAQ | Sitemap | Datenschutz | Impressum |